David G. Haskell - Das verborgene Leben des Waldes. Ein Jahr Naturbeobachtung / The Forest Unseen: A Year's Watch in Nature

  • Kurzmeinung

    Jean van der Vlugt
    Stark biologisches Augenmerk vereinzelt die Kapitel, wenig Lesefluss. Oft aber sehr augenöffnend!
  • Der Autor (Quelle: Kunstmann): David G(eorge) Haskell (*1969) lehrt als Professor für Biologie an der University of the South und lebt in Sewanee, Tennessee. Neben wissenschaftlichen Arbeiten hat er Essays und Gedichte veröffentlicht. Für „Das verborgene Leben des Waldes“ erhielt er 2013 den Best Book Award der National Academies und war Finalist beim Pulitzerpreis.


    Klappentext (Quelle: Kunstmann): So wurde Natur noch nie gesehen: An einem Quadratmeter Wald entfaltet David Haskell einen ganzen Kosmos der Naturbeobachtung, ein ökologisches und poetisches Kompendium. „Haskell denkt wie ein Biologe, schreibt wie ein Dichter und betrachtet die Natur mit einer meditativen Konzentration, wie man sie eher von einem Zen-Mönch als einem thesengetriebenen Wissenschaftler erwartet.“ - The New York Times


    Englische, französische, italienische und deutsche Ausgaben:

    • Die englische Originalausgabe erschien im März 2012 unter dem Titel „The Forest Unseen: A Year's Watch in Nature“ bei Viking Press / Penguin Random House in New York (268 Seiten), neu aufgelegt 2013 als Paperback ebendort.
    • Die französische Übersetzung von Thierry Piélat erschien im Februar 2014 als "Un an dans la vie d'une forêt" bei Flammarion in Paris (366 Seiten), wiederaufgelegt im März 2016 ebendort in der Reihe "Libres Champs".
    • Die italienische Übersetzung von Daria Cavallini erschien im April 2014 unter dem Titel "La foresta nascosta: Un anno trascorso a osservare la natura" als Nummer 942 der Reihe "Saggi" bei G. Einaudi in Turin (287 Seiten).
    • Die deutsche Übersetzung von Christine Ammann erschien im September 2015 als „Das verborgene Leben des Waldes“ als Hardcover mit Schutzumschlag im Verlag Antje Kunstmann in München (325 Seiten), neu aufgelegt im September 2017 als Goldmann-Taschenbuch Nr. 22198 im Verlag Wilhelm Goldmann in München.

    Das Buch war 2013 Finalist für den Pulitzer Prize for General Nonfiction und wurde 2012 mit einem „National Outdoor Book Award“ in der Sparte „Natural History Literature“, 2013 als bestes Buch des Jahres mit einem „National Academies Communication Award“ und ebenfalls 2013 mit einem „Reed Environmental Writing Award“ ausgezeichnet.



    Meine Einschätzung:
    Der britisch-amerikanische Biologe Haskell beobachtet einen Jahreslauf lang einen Quadratmeter Wald vom Erdboden bis hinauf in die Baumwipfel, der in einem Tal namens Shakerag Hollow an einem bewaldeten Hang im Südosten von Tennessee am westlichen Rand des Cumberland-Plateaus in einem geschützten Areal liegt, das der University of the South in Sewanee gehört. Hier wachsen Eichen, Ahorn, Linden, Hickory und Tulpenbäume. Der Boden ist von Gesteinsbrocken übersät, die von einer erodierenden Felswand herabgerollt sind. Haskells Regeln der Beobachtung sind einfach: Er verhält sich ruhig und greift nicht in das Beobachtete ein. Er entnimmt dem Quadratmeter nichts, den er stets das Mandala nennt (was ganz stimmig ist, da ein Mandala als Symbol für das gesamte Universum steht), und fügt auch nichts hinzu. Vorsichtige Berührungen müssen reichen.


    Ich mag, wie sehr biologisch das Buch aufgezogen ist: bis hinein in die Zellen, wo die Säfte fließen, bis weit zurück in die Frühgeschichte der Erde, als Bakterien, für die sich das Leben in der freien Natur elementar verkomplizierte, dazu „entschieden“, eine symbiotische Nische innerhalb der Gedärme von Wirbeltieren zu suchen. Haskell legt Gemeinsamkeiten zwischen Lebewesen unterschiedlicher Arten fern aller phänomenologischen Ähnlichkeiten bloß, die auch den Menschen noch fester in das natürliche Ökosystem einweben: Was uns mit Insekten, Vögeln, Bäumen und Pilzen verbindet. Obendrein auch, wie notwendig das Zutun aller Kräfte für ein gelingendes „Gemeinschaftserlebnis“ ist: Wie entscheidend etwa in einer Herde trichromatisch sehender Tiere die Existenz auch dichromatisch sehender Tiere (gemeinhin rot-grün-blind genannt) sein kann, die über ihre weitaus bessere Mustererkennung eben genau dann die Jagdbeute erspähen können, wenn die „normal“ sehenden Herdenkollegen in die Röhre kucken: in der Dämmerung oder nachts. Schließlich mag ich die Stringenz, mit der Haskell von einer Verklärung der Natur abrückt, sowohl als „brutale Urgewalt“, denn schaut man näher hin, erkennt man so viele Beispiele des Ineinandergreifens der Kräfte und des gegenseitigen Helfens unterschiedlicher Arten (zum Beispiel Pilzen, Bakterien und Bäumen), dass sich das Bild eines haifischbeckenartigen Überlebenskampfes aller gegen aller im Grunde verbietet, als auch als harmonisches Gleichgewicht, solange der rumpelige Mensch nicht alles zerstört:

    Zitat von David G. Haskell

    „[…] die Natur zu lieben und die Menschheit zu hassen ist unlogisch. Die Menschheit ist ein Teil des Ganzen. Wer die Welt wirklich liebt, muss auch die Erfindungsgabe und Verspieltheit des Menschen lieben. Wir müssen die Natur nicht von menschlichen Artefakten säubern, damit sie schön oder kohärent ist.“ (S. 198)


    Mir gefiel vor allem das Geier-Kapitel, das mir das vorzügliche Immunsystem der Aasfresser näherbrachte, deren Mägen sogar Milzbrandbakterien abtöten, ansonsten die Vergleiche von vertikalem Baumwuchs und horizontalem Flechtenwuchs, alles über Pilze, Raupen und Schnecken, die unterschiedlichen Verteidigungsmechanismen, die meist mit der eigenen Beweglichkeit zu tun haben, und die unterschiedlichen Methoden, den eigenen Samen zu verbreiten. Ansonsten imponierte mir der grundsätzliche Ansatz Haskells, die Natur als eine große Umwandlerin von Energien zu betrachten, was eben nicht nur den Stoffwechsel von Nahrung zu körperlicher Aktivität meint, sondern beispielsweise auch das morgendliche Vogelkonzert im Wald als die klangliche Umwandlung von Sonnenlicht im Körper der Vögel ansieht. Was sich im menschlichen Bewusstsein dann in Schönheit verwandelt:

    Zitat von David G. Haskell

    „Die Sonne ist Ursprung von Morgendämmerung und gesangsfreudigem Vogelerwachen zugleich. Das Farbenspiel am Horizont ist Sonnenlicht, von unserer Atmosphäre gefiltert; die Musik in der Luft ist Sonnenenergie, durch Pflanzen und Tiere gefiltert, die den singenden Vögeln ihre Kraft geben. Der Zauber eines Sonnenaufgangs im April entsteht durch ein Netzwerk aus fließenden Energien. Das Netzwerk ist in der Materie verankert, die in der Sonne zu Energie wird, und in der Energie, die in unserem Bewusstsein zu Schönheit wird.“ (S. 113)


    Der Autor beweist eine fast mönchische Ruhe im ungestörten Beobachten des Mandalas: Wie lang er einen Nachtfalter anschauen kann, der auf seinem Finger sitzt! Wie still er die Waschbären an sich vorbeischlendern lässt! Wie genügsam er sich von einer Mücke stechen lässt! Geschrieben ist das Buch in einem recht poetischen und eindrücklich beschreibenden Tonfall im Tagebuchstil, weswegen die biologischen Beobachtungen niemals trocken daherkommen. Die Texte sind stets auf die Natur konzentriert. Die Lebensumstände des Autors interessieren in diesem Buch gar nicht wie beispielsweise in John Lewis-Stempels ähnlich gelagerten Naturbetrachtungen. Das ist eine Stärke, gleichzeitig auch eine Schwäche von Haskells Buch, das ohne weitere verbindenden Elemente über den Jahreslauf hinaus doch stark im Episodischen und Fragmentarischen steckenbleibt: Bei jedem der fast immer sehr augenöffnenden und interessanten Kapitel setzt man als Leser aufs Neue an. Ein Lesefluss stellte sich bei mir so kaum ein, weswegen ich das Buch vielleicht sogar als eine die Jahreszeiten begleitende Lektüre empfehlen würde: Man lese es zeitnah zu den jeweils beschriebenen Einträgen, so dass man am ersten Januar mit der Lektüre beginnt und am 31. Dezember damit endet. :flower:

    White "Die Erkundung von Selborne" (103/397)

    Manner "Das Mädchen auf der Himmelsbrücke" (54/151)


    :king: Jahresbeste: Gray (2024), Brookner (2023), Mizielińsky (2022), Lorenzen (2021), Jansson (2020), Lieberman (2019), Ferris (2018), Cather (2017), Tomine (2016), Raymond (2015)

    :study: Gelesen: 56 (2024), 138 (2023), 157 (2022), 185 (2021), 161 (2020), 127 (2019), 145 (2018), 119 (2017), 180 (2016), 156 (2015)70/365)
    O:-) Letzter Kauf: Kuhl "Helenes Familie" (23.04.)

  • Die englische Originalausgabe erschien im März 2012 unter dem Titel „The Forest Unseen: A Year's Watch in Nature“ bei Viking Press / Penguin Random House in New York (268 Seiten), neu aufgelegt 2013 als Paperback ebendort.

    White "Die Erkundung von Selborne" (103/397)

    Manner "Das Mädchen auf der Himmelsbrücke" (54/151)


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    :study: Gelesen: 56 (2024), 138 (2023), 157 (2022), 185 (2021), 161 (2020), 127 (2019), 145 (2018), 119 (2017), 180 (2016), 156 (2015)70/365)
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  • Die französische Übersetzung von Thierry Piélat erschien im Februar 2014 als "Un an dans la vie d'une forêt" bei Flammarion in Paris (366 Seiten), wiederaufgelegt im März 2016 ebendort in der Reihe "Libres Champs".

    White "Die Erkundung von Selborne" (103/397)

    Manner "Das Mädchen auf der Himmelsbrücke" (54/151)


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