Kazuo Ishiguro - Der begrabene Riese (ab 05.09.2021)

  • dass die Insel für das Leben nach dem Tod steht.

    Ja - und so war es ja tatsächlich oft, dass die Toten auf einer Insel bestattet wurden. Mich erinnert der Begriff sofort an das entsprechende Gemälde von Arnold Böcklin.

    Eine Insel, auf der ein Bewohner manchmal das Gefühl hat, "dass sich andere mit ihm im Wind bewegen". Tot-Sein als harmonisches Eins-Sein mit der Natur: das ist ein sehr tröstliches Bild, finde ich.


    Es kommt zu einer Unstimmigkeit zwischen Axl und dem Fährmann, was Beatrice dazu bewegt das Wort zu ergreifen damit ihr Mann sich beruhigt.

    Ich lese das so, dass Beatrice zu der Reise entschlossen ist, während Axl den Fährmann mit "Argwohn" (S 402) betrachtet: er erschrickt vor dem Fährmann und will seine Frau nicht verlassen.

    "Dieses dumme Ritual" (S. 403), die Fragen des Fährmann, ist ein besonderes Ritual, scheint mir. Die Fragen des Fährmann zielen auf die schmerzhaften Erinnerungen des Paares ab, und das ist der Sohn. Und mit der schmerzhaften Erinnerung an den Sohn steigen andere Erinnerungen an ihre Schuld auf. Das Paar war eine Zeitlang getrennt und beide sind schuldig geworden: sie hat Axl betrogen, er hat ihre Reise zum Grab des Sohnes verhindert.

    Es bleibt unklar, in welcher logischen Reihenfolge diese Ereignisse waren; wichtig scheint nur zu sein, dass sie dem anderen gegenüber Schuld auf sich geladen haben.


    Wie damit umgehen?

    Das Abschiedsgespräch Axl-Beatrice sagt es: der Nebel hatte sein Gutes (wieder diese Ambivalenz der Dinge, der Ereignisse). Das Vergessen hat dafür gesorgt, dass sie wieder in Liebe zueinander finden konnten.

    Und was ist nun wichtiger: alles zur Sprache zu bringen und Wunden neu aufreißen, die dann neu verheilen müssen - oder "gnädig" sein, wie Gawain sagte, und den Nebel des Vergessens über den Dingen liegen zu lassen?


    Das hat, finde ich, nicht nur mit historischen Ereignissen zu tun, sondern auch mit unserem persönlichen Leben. Sonst würde das Bild des Paares nicht den Roman beenden.


    Man bekommt das Gefühl dass Axl gar nicht auf die Insel gehen wird.

    Das Gefühl habe ich auch. Der Fährmann sieht noch "Feuer" in Axl, während er bei Beatrice "Zufriedenheit" wahrnimmt. Axl ist also noch nicht so weit. Axl macht daher "seinen Frieden" mit dem Fährmann, sprich: mit dem Tod seiner Frau, und er geht zurück an Land und "blickt nicht zurück" (S. 414).

    Der Fährmann aber weiß, dass er auch ihn bald holen wird.

    :study: Percival Everett, James.

    :musik: Agatha Christie, Mord im Pfarrhaus.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Bitte sagt mir dass ihr einen ganz anderen Eindruck habt. Dies nur in der Einbildung von Edwin stattfand. Der „Drachenbiss“ nur ein Mittel war damit Edwin Wistan half die Querig zu finden.

    Auch ich bleibe dabei: Querig ist nicht Edwins Mutter, sondern hat den Ruf Querigs mit dem seiner Mutter verwechselt. Der Drachenbiss diente als "Kompass".

    Gerade deshalb, würde ich sagen!

    Ist das nicht oft anzutreffen? Dass die Kinder das erreichen sollen, was die Eltern (Wistan ist quasi Vater für Edwin) nicht erreicht haben, aus welchen Gründen auch immer?

    Oh, das klingt sehr logisch und nachvollziehbar.

    Vielleicht überinterpretiere ich da, aber ich sehe da einen Funken Hoffnung was

    Edwins Zukunft angeht. Als ein in Blut getränkter Rächer mag er sich nicht sehen.

    Ich hoffe auch, dass diese Szene ein Hoffnungsschimmer sein soll und Edwin sich besinnt.

    Die Situation wie der Fährmann Axl erklärt dass er nur eine Person mitnehmen kann, ist ein echter Schock. Kann er ihm wirklich vertrauen, wenn dieser sagt er würde nach kurzer Zeit zurück kehren um ihn abzuholen?


    Es kommt zu einer Unstimmigkeit zwischen Axl und dem Fährmann, was Beatrice dazu bewegt das Wort zu ergreifen damit ihr Mann sich beruhigt.

    Für mich war es auch ein echter Schock, das zu lesen. Und ich gebe es zu: Es ist nicht der Schluss, den ich mir gewünscht habe. Denn der Fährmann verspricht ja, dass sie beide gemeinsam auf die Insel übersetzen und bricht dann sein Wort.

    Das Gefühl habe ich auch. Der Fährmann sieht noch "Feuer" in Axl, während er bei Beatrice "Zufriedenheit" wahrnimmt. Axl ist also noch nicht so weit. Axl macht daher "seinen Frieden" mit dem Fährmann, sprich: mit dem Tod seiner Frau, und er geht zurück an Land und "blickt nicht zurück" (S. 414).

    Der Fährmann aber weiß, dass er auch ihn bald holen wird.

    Ich finde, diese Szene wird Beatrice nicht gerecht. Ihr innigster Wunsch - und größte Angst - war immer, dass Axl und sie getrennt werden. Und nun soll es plötzlich für sie in Ordnung sein?

    Das passt nicht, finde ich.

    Und der Fährmann sollte integer, grundehrlich sein, finde ich. Nicht jemand, der sein Wort bricht und schamlos lügt.


    Wie ihr also merkt, bin ich mit dem Schluss nicht glücklich, obwohl ich geahnt habe, dass es so sein wird.

    Bezüglich meiner Gesamtbewertung des Buches bin ich noch sehr unschlüssig - wie geht es euch damit?

    Lesen ist ein großes Wunder. Marie Freifrau von Ebner-Eschenbach


    :study: Das lese ich gerade: *klick*

  • Eine Insel, auf der ein Bewohner manchmal das Gefühl hat, "dass sich andere mit ihm im Wind bewegen". Tot-Sein als harmonisches Eins-Sein mit der Natur: das ist ein sehr tröstliches Bild, finde ich.

    Das hat mir auch sehr gut gefallen. Es gibt keinen direkten Kontakt mehr aber eine

    tiefe Verbindung mit der Natur die wiederum das Gefühl zulässt, dass sich andere

    auch in dieser Harmonie mit dem Wind bewegen.

    Und was ist nun wichtiger: alles zur Sprache zu bringen und Wunden neu aufreißen, die dann neu verheilen müssen - oder "gnädig" sein, wie Gawain sagte, und den Nebel des Vergessens über den Dingen liegen zu lassen?

    Die große Frage und jeder sucht sich hier wohl seine eigene Antwort, sowohl im All-

    gemeinen als auch im persönlichen Leben.

    Axl ist also noch nicht so weit. Axl macht daher "seinen Frieden" mit dem Fährmann, sprich: mit dem Tod seiner Frau, und er geht zurück an Land und "blickt nicht zurück" (S. 414).

    Dieses Ende des Romans ist schon ein kleiner Schock. Natürlich strebt man gedanklich

    zum versöhnlichen Ende, aber darf es das hier geben? Wir bewegen uns im ganzen Buch

    durch diesen Zwiespalt der in vielen verschiedenen Facetten auftaucht. Ist es nicht nach-

    vollziehbarer, dass diese Ambivalenz auch am Ende bleibt?

    Die Szene in der Axl stumm am Fährmann vorbeigeht und gegen Land/Erde strebt erinnerte

    mich an das Bild von Gawain, der über die Sterbenden und ihren Wunsch dem Wasser nahe

    zu sein berichtet, dann aber sagt, dass er lieber der Erde zustrebt. Axl wendet sich vom Wasser ab, er strebt dem Land, der Erde zu. Seine Reise geht noch weiter.


    Diese Trennung wirkt im ersten Moment wie ein Schock, aber die Insel ist nun mal so, dass

    die Erinnerungen sich langsam lösen und die Anwesenden langsam mit der Natur verschmelzen. Das sagt der Fährmann schon zu Beginn des Buches. Da ist dann nur noch

    ein Windhauch, der zuweilen die Anwesenheit anderer verkündet. Irgendwann wird auch

    Axl diesen Windhauch begrüßen können und damit vielleicht noch einmal seine Beatrice.

    Wir sind der Stoff aus dem die Träume sind und unser kleines Leben umfasst ein Schlaf.

    William Shakespeare


    :study: Robert Seethaler - Das Cafe ohne Namen

    :study: Matt Ruff - Ich und die anderen

  • Ihr innigster Wunsch - und größte Angst - war immer, dass Axl und sie getrennt werden. Und nun soll es plötzlich für sie in Ordnung sein?

    Das passt nicht, finde ich.

    Vielleicht entspricht es eher dem tatsächlichen Leben?

    Beatrice lässt eben los, und hier, ganz am Schluss, ist es die bewusste Loslösung von ihrem Mann. Ist es denn nicht so, dass man diese letzten Schritte alleine machen muss?

    Nicht jemand, der sein Wort bricht und schamlos lügt.

    :scratch: Ich kenne mich mit Sterbebegleitung überhaupt nicht aus - aber kann es sein, dass das eine Art Notlüge ist, um das Loslassen zu erleichtern? Und um die Menschen schrittweise auf den Tod vorzubereiten?

    und die Anwesenden langsam mit der Natur verschmelzen. Das sagt der Fährmann schon zu Beginn des Buches. Da ist dann nur noch

    ein Windhauch, der zuweilen die Anwesenheit anderer verkündet.

    Ich finde dieses Bild wunderschön!


    Mir gefällt der Schluss sehr gut, er ist für mich, neben dem Dialog Gawain-Wistan, der Kern des Buches. Das ethische Problem, das Gawain und Wistan diskutieren, wird in diesem letzten Kapitel heruntergebrochen auf die private Ebene der Menschen.


    Und beide Male gibt es Hoffnung: da ist Edwin, der sich an die Freundlichkeit und Menschlichkeit seiner Feinde erinnern wird, und hier ist es Axl, der seine Frau dem Tod anvertrauen kann in der Sicherheit, ihr nachzufolgen.

    :study: Percival Everett, James.

    :musik: Agatha Christie, Mord im Pfarrhaus.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Bis zum Ende


    ... und ähnelt er da nicht der Drachin?

    Das stimmt, ein schöner Gedanke!


    Ich kann mir diese Sache nur so zurecht legen, wie ich es schon beschrieben habe: der Biss als Wegweiser zu Querig, und die innere Stimme die Stimme seines Gewissens und seiner Gedanken an seine Mutter.

    Ja, so verstehe ich das auch. Die Frage ist: Hat Wistan den Knaben absichtlich beißen lassen und als "Kompass" benutzt? Bisher bin ich davon ausgegangen, dass es sich um einen Unfall gehandelt hat, aber inzwischen glaube ich mehr an Kalkül.


    Damit führt Axl den Jungen zurück auf die menschliche Seite und unterläuft Wistans Versuch, Edwin auf pure Rache einzuschwören. Auch Edwin wird sich der Ambivalenz der Rache bewusst sein und seinen Hass auf die Britannier nicht verallgemeinern.

    Das sehe ich auch so. Edwin wird vor Augen geführt, dass eine Masse, die man hassen will, immer auch aus einzelnen Menschen besteht, die an den Gründen des Hasses keine Schuld tragen. Eigentlich sehr aktuell.


    Wenn ich die letzten Zeilen lese, klingt das für mich wie ein Abschied. Man bekommt das Gefühl dass Axl gar nicht auf die Insel gehen wird. Dass, obwohl sie eine liebevolle Beziehung führen die nicht ausreicht um auf der Insel zusammen zu sein.

    Ja, so habe ich das auch verstanden. (Und weiter siehe unten.)


    Ich finde, diese Szene wird Beatrice nicht gerecht. Ihr innigster Wunsch - und größte Angst - war immer, dass Axl und sie getrennt werden. Und nun soll es plötzlich für sie in Ordnung sein?

    Das passt nicht, finde ich.

    Ich persönlich empfinde es als ein Freigeben. Beatrice weiß, dass sie sterben wird, aber ihre Liebe ist so groß, dass sie Axl nicht in den Tod mitnehmen will - sie gibt ihn frei.


    Bezüglich meiner Gesamtbewertung des Buches bin ich noch sehr unschlüssig - wie geht es euch damit?

    Ich habe 3.5 Sterne gegeben, weil ich mir einfach eine andere Art von Geschichte erhofft hatte, wobei ich durchaus anerkennen kann, wie kunstvoll der Roman aufgebaut ist.


    Wir bewegen uns im ganzen Buch

    durch diesen Zwiespalt der in vielen verschiedenen Facetten auftaucht. Ist es nicht nach-

    vollziehbarer, dass diese Ambivalenz auch am Ende bleibt?

    Nachvollziehbar ist es sicher, ich persönlich mag lose Fäden aber nicht so gerne. Ich habe am liebsten am Ende immer alles aufgelöst, egal ob in Romanen, Serien, Filmen etc. Ich weiß, dass das überhaupt nicht der Realität des Lebens entspricht, aber ich befürchte, so bin ich gestrickt. :loool:

  • Die Frage ist: Hat Wistan den Knaben absichtlich beißen lassen und als "Kompass" benutzt?

    :shock:

    Du hast Recht: soweit habe ich gar nicht gedacht. Das würde aber seine Position im Käfig erklären!

    :study: Percival Everett, James.

    :musik: Agatha Christie, Mord im Pfarrhaus.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Dieses Ende des Romans ist schon ein kleiner Schock. Natürlich strebt man gedanklich

    zum versöhnlichen Ende, aber darf es das hier geben? Wir bewegen uns im ganzen Buch

    durch diesen Zwiespalt der in vielen verschiedenen Facetten auftaucht. Ist es nicht nach-

    vollziehbarer, dass diese Ambivalenz auch am Ende bleibt?

    Die Ambivalenz passt sehr gut zum Gesamtpaket und ich habe auch damit gerechnet, dass der Schluss kein "Happy end" sein wird, allerdings hätte ich mir genau das gewünscht :wink:

    :scratch: Ich kenne mich mit Sterbebegleitung überhaupt nicht aus - aber kann es sein, dass das eine Art Notlüge ist, um das Loslassen zu erleichtern? Und um die Menschen schrittweise auf den Tod vorzubereiten?

    Ich habe ebenfalls keinerlei Wissen zum Thema Sterbebegleitung, aber die ganz persönliche Meinung, dass Notlügen - schon gar nicht in solchen Situationen - immer nur der Bequemlichkeit des Lügners/der Lügnerin dienen. Dem Gegenüber ist die Wahrheit zuzumuten bzw. bin ich der Meinung, dass Beatrice genau gewusst hat, was los ist und sich dazu entschlossen hat "mitzuspielen". Siehe dazu auch Narayas Zitat unten...

    Ja, so verstehe ich das auch. Die Frage ist: Hat Wistan den Knaben absichtlich beißen lassen und als "Kompass" benutzt? Bisher bin ich davon ausgegangen, dass es sich um einen Unfall gehandelt hat, aber inzwischen glaube ich mehr an Kalkül.

    Genau das ist mir gestern auch durch den Kopf gegeistert, da ich das Buch aber schon in die Bücherei zurückgegeben habe, konnte ich die entsprechenden Stellen nicht noch einmal nachlesen.

    Ich persönlich empfinde es als ein Freigeben. Beatrice weiß, dass sie sterben wird, aber ihre Liebe ist so groß, dass sie Axl nicht in den Tod mitnehmen will - sie gibt ihn frei.

    ... Das finde ich einen sehr schönen Gedanken - es würde eben zu ihrer innigen Liebe und Zuneigung passen.

    Ich habe 3.5 Sterne gegeben, weil ich mir einfach eine andere Art von Geschichte erhofft hatte, wobei ich durchaus anerkennen kann, wie kunstvoll der Roman aufgebaut ist.

    Danke, dieses Statement trifft es sehr gut, wobei ich eher zu 3 Sternen tendiere.

    Nachvollziehbar ist es sicher, ich persönlich mag lose Fäden aber nicht so gerne. Ich habe am liebsten am Ende immer alles aufgelöst, egal ob in Romanen, Serien, Filmen etc. Ich weiß, dass das überhaupt nicht der Realität des Lebens entspricht, aber ich befürchte, so bin ich gestrickt.

    Schwester im Geiste :friends:

    Mit losen Ende lässt man mich ebenfalls unbefriedigt zurück - da kann ich mir gleich selbst eine Geschichte ausdenken :wink:

    Lesen ist ein großes Wunder. Marie Freifrau von Ebner-Eschenbach


    :study: Das lese ich gerade: *klick*

  • Die Frage ist: Hat Wistan den Knaben absichtlich beißen lassen und als "Kompass" benutzt?

    :shock:

    Du hast Recht: soweit habe ich gar nicht gedacht. Das würde aber seine Position im Käfig erklären!

    Wie wir wissen ist dies eine Lektüre welche viele Interpretinnen zulässt. Nicht alles nachvollziehbar ist, man einiges "Im Raum stehen lassen muss" .


    Diese Aussage jedoch irritiert mich denn ich denke mit dem Biss als solcher hatte Wistan in erster Linie gar nichts zu tun. Allerdings erkannte er wie er Edwin rettete was für ein Glücksfall dieser bedeutet, nämlich dass der Weg zur Querig leichter zu finden wäre.

    Das ganze spielte sich nämlich so ab, Kapitel 3 wie Beatrice und Axl im Sachsendorf eintrafen

    Zitat

    »Sie sagt, dass heute im Lauf des Tages einer der Männer mit verletzter Schulter und in heller Panik ins Dorf zurückgekommen ist, und als er sich nach vielem Zureden der anderen beruhigt hatte, rückte er mit der Geschichte heraus: Er war mit seinem Bruder beim Fischen am Fluss, an ihrer gewohnten Stelle, sein Neffe, der Sohn des Bruders, war auch dabei, ein zwölfjähriger Junge. Dort wurden sie von zwei Menschenfressern überfallen. Nur dass es keine gewöhnlichen Menschenfresser waren, sagt der Verwundete, sondern monströse Wesen, die sich schneller bewegen konnten und verschlagener waren als jeder Menschenfresser, den er je gesehen hat. Die Unholde – so nennt man sie hier –, die Unholde brachten seinen Bruder auf der Stelle um, und den Jungen, der am Leben geblieben war und sich heftig wehrte, verschleppten sie.

    Wie wir uns erinnern ging Wistan welcher per Zufall im Dorf war, mit einigen Männern auf die Suche nach dem Jungen, obwohl er weder den Jungen noch seine Familie kannte.


    Wie wir lesen konnten kam er mit dem geretteten Junge und einem Teil eines Unholdes ins Dorf zurück.

    Zitat

    Fast schon außerhalb des Feuerscheins umdrängte eine kleine Gruppe Frauen einen mageren dunkelhaarigen Jungen, der auf einem Stein saß. Er mochte bereits Mannesgröße erreicht haben, aber man erahnte unter der Decke, die über seinen Schultern lag, noch die schlaksige Gestalt eines Knaben. Eine Frau hatte einen Wassereimer gebracht und wusch ihm den Schmutz von Gesicht und Hals, doch er schien gar nichts davon zu bemerken, seine Augen waren starr auf den Rücken des vor ihm stehenden Kriegers gerichtet; allerdings verrenkte er gelegentlich den Kopf, als wollte er an den Beinen des Kriegers vorbeisehen, um einen Blick auf das Ding auf dem Boden zu werfen.

    Kapitel 4 können wir lesen wie sich Edwin erinnert im Käfig gefangen gewesen zu sein und die Attacken des "Wesen" abgewehrt zu haben, dem es gelang in zu beissen.


    Somit hatten ihn die Unholde verschleppt - aus welchem Grund auch immer - ihn in den Käfig gesperrt - Wistan diesen befreit.

    Gebt gerne das, was ihr gerne hättet: Höflichkeit, Freundlichkeit, Respekt. Wenn das alle tun würden, hätten wir alle zusammen ein bedeutend besseres Miteinander.

    Horst Lichter

  • Danke, serjena, für Dein genaues Nachlesen. Du hast Recht. Wistan hat die Gunst der Stunde genutzt, was den Drachenbiss angeht!


    Mit losen Ende lässt man mich ebenfalls unbefriedigt zurück

    Das kann ich verstehen, und blinde Motive oder Handlungsstränge, die eine Einbahnstraße sind, kann ich auch nicht leiden. Mit einem offenen Ende habe ich weniger Probleme.

    Ich finde aber, dass das Ende in diesem Roman gar nicht so offen ist? Der Drache ist besiegt, der Riese freigelassen, Beatrice tot, und Axl auch bald.

    Wo würdet Ihr Euch einen Abschluss wünschen? Im gemeinsamen Ende von Axl und Beatrice?

    ist dies eine Lektüre welche viele Interpretinnen zulässt.

    Ja, und deshalb fallen die Bewertungen auch unterschiedlich aus.


    Wenn ich mir das Buch als Ganzes anschaue, sehe ich, dass Ishiguro hier ein großes Arsenal an Sagen- und Märchengestalten auffährt mit allem, was dazu gehört: Zauber und Verwünschung, magische Kräfte, Beschwörungen, Opferriten, magische Orte etc.

    Ich hatte immer wieder den Eindruck, dass der Erzähler/Autor seine Leser auch zum Opfer des Nebels macht; nicht dass wir etwas vergessen (in meinem Fall hat er das auch geschafft), aber er verwirrt uns, sodass der Leser gelegentlich den klaren Blick verliert. Ich selber konnte dann alles nur noch als Metapher lesen, aber wenn man das Buch nicht als Ganzes überblickt, erkennt man auch den Inhalt der Metapher nur unscharf. Das alles hat sich für mich in den letzten drei Kapiteln geklärt.

    :study: Percival Everett, James.

    :musik: Agatha Christie, Mord im Pfarrhaus.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Somit hatten ihn die Unholde verschleppt - aus welchem Grund auch immer - ihn in den Käfig gesperrt - Wistan diesen befreit.

    Stimmt, da hast Du recht - danke! Aber dann hat er immerhin dem Jungen nicht nur aus purer Menschenliebe geholfen, sondern (auch) mit dem Gedanken, wie er ihn für sich nutzen kann.


    Ich finde aber, dass das Ende in diesem Roman gar nicht so offen ist? Der Drache ist besiegt, der Riese freigelassen, Beatrice tot, und Axl auch bald.

    Wo würdet Ihr Euch einen Abschluss wünschen? Im gemeinsamen Ende von Axl und Beatrice?

    Für mich ist es nicht mal so sehr das Ende, mit dem kann ich durchaus leben. (Wobei wir natürlich nicht wissen, wie es mit Wistan und vor allem Edwin weitergeht - aber irgendwann muss eine Handlung ja auch zu Ende sein.) Mir geht es eher um ungeklärte Dinge zwischendrin: Was ist mit Edwins Mutter geschehen? Was ist in den Gängen passiert, als Gawain das Biest so einfach getötet hat? Warum rennt der Junge eingesperrt in der Scheune im Kreis? Das sind spontan drei Fragen, die mir ohne Buch vor mir einfallen. Und auch generell die Symboliken - ich bin da nicht unbedingt der Typ, der nachschlagen will, warum der Autor an dieser Stelle wohl über Glockenblumen und Eschen schreibt. Vielleicht, weil mich das zu sehr an eine schulische Herangehensweise erinnert zu sagen: "Die Esche steht hier für xyz." Ich denke mir, wenn der Autor was zu sagen hat, so möge er es doch bitte sagen. :lol:


    Mein größtes Problem - und da kann natürlich der Autor gar nichts dafür - ist tatsächlich das Genre. Historische Romane sind schon nicht meins (zumindest in der Regel) und die Vermischung mit Fantasy- bzw. Sagenelementen sagte mir dann so gar nicht zu.


    Dennoch bin 1. froh, das Buch in dieser Runde mit euch gelesen zu haben, denn mir wäre vieles entgangen. (Eben weil ich Bezüge, Hintergründe und Symboliken nicht erkannt hätte.) Und 2. bin ich immernoch großer Fan des Autors und möchte nach und nach alle seine Werke lesen. Auch bei diesem werde ich das sicher nicht bereuen, auch wenn mir eigentlich alle andere Romane, die ich bisher kenne, besser gefallen haben. :loool:

  • Mir geht es eher um ungeklärte Dinge zwischendrin: Was ist mit Edwins Mutter geschehen? Was ist in den Gängen passiert, als Gawain das Biest so einfach getötet hat? Warum rennt der Junge eingesperrt in der Scheune im Kreis? Das sind spontan drei Fragen, die mir ohne Buch vor mir einfallen.

    Die Liste können wir bestimmt gemeinsam weiter verlängern!

    Wieso verliert das Untier in den Tunnelgängen seinen Kopf? Wohin rennt das kopflose Untier? Wieso ist das Gatter geschmiert, d. h. das Untier wird gewartet?

    Ich denke inzwischen, dass das Nebel ist, den der Autor uns ins Gesicht pustet.

    Und auch generell die Symboliken

    :pale: Ja, verstehe ich :winken: und ich gelobe Besserung. Das ist berufsbedingt. Zu meiner Entschuldigung nur kurz: Wenn Du ein mittelalterliches Bild wie Maria im Hag, ein gotisches Kapitell oder auch ein niederländisches Stillleben siehst und eben weißt, welche Botschaft mit den Blumen oder den gruppierten Gegenständen vermittelt wurde, weil den damaligen Betrachtern die Symbolik klar war, dann steckt das in Dir drin.


    Dennoch bin 1. froh, das Buch in dieser Runde mit euch gelesen zu haben,

    Das geht mir auch so, und andere Meinungen tun mir gut.

    :winken:

    :study: Percival Everett, James.

    :musik: Agatha Christie, Mord im Pfarrhaus.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • :pale: Ja, verstehe ich :winken: und ich gelobe Besserung. Das ist berufsbedingt. Zu meiner Entschuldigung nur kurz: Wenn Du ein mittelalterliches Bild wie Maria im Hag, ein gotisches Kapitell oder auch ein niederländisches Stillleben siehst und eben weißt, welche Botschaft mit den Blumen oder den gruppierten Gegenständen vermittelt wurde, weil den damaligen Betrachtern die Symbolik klar war, dann steckt das in Dir drin.

    Ach, Quatsch! Immer raus damit! :friends: Ich finde es ja interessant darüber zu lesen - nur mag ich es nicht so gerne, wenn ich mich bei jeder Beschreibung fragen muss, ob die Pflanzen mir da jetzt gerade was sagen sollen. (Und ehrlich gesagt: wissen wir ja auch nicht. Vielleicht mag Herr Ishiguro auch einfach gerne Eschen und lacht sich ins Fäustchen.)

  • Vielleicht mag Herr Ishiguro auch einfach gerne Eschen und lacht sich ins Fäustchen.)

    Na ja, ich übe schon mal das Nicht-Reden :lol:

    Bei Letzterem sind wir uns einig: er spielt mit seinem Leser.

    :study: Percival Everett, James.

    :musik: Agatha Christie, Mord im Pfarrhaus.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Vielen Dank, serjena, für den Artikel!

    Besonders interessant fand ich Ishiguros Hinweise zum Erzähler: ein Erzähler, der die Geschichte vor den Geistern der toten Kinder erzählt. Das ist eine Erzählposition, die ich noch nie vorher erlebt habe!

    Das erklärt diesen einfachen Sprachduktus, die klaren Sätze, die eher einfache Wortwahl, und auch diesen Märchentonn, der uns von Beginn an aufgefallen war.


    Dem Thema der gezielten Manipulation von Erinnerungen begegne ich gerade wieder in diesem kenntnisreichen, klugen und sehr differenzierten Roman von Stephan Thome.

    :study: Percival Everett, James.

    :musik: Agatha Christie, Mord im Pfarrhaus.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Solltet ihr euch noch etwas mit der Legende von König Artus beschäftigen wollen. Seit 15 Uhr 15 sendet ARTE TV - Das Rätsel um König Artus.


    Bis zum 12. Dezember noch in der Mediathek abrufbar

    Gebt gerne das, was ihr gerne hättet: Höflichkeit, Freundlichkeit, Respekt. Wenn das alle tun würden, hätten wir alle zusammen ein bedeutend besseres Miteinander.

    Horst Lichter