Klappentext:
Helen Macdonald sieht in der Natur, was anderen verborgen bleibt. In ihrem lange erwarteten neuen Buch nimmt sie uns mit zu den Abendflügen der Mauersegler, erzählt von wilden Tieren, Mythen und Märchen, und führt in versteckte Lebensräume, die heute im Verschwinden begriffen sind.
Über die Entfremdung von der Natur wird überall gesprochen. Doch was bedeutet das wirklich? Helen Macdonald zeigt, dass wir uns selbst nur im Wechselspiel mit unserer Umwelt wirklich verstehen können – und was wir verlieren, wenn wir unseren Platz auf dem Planeten nicht radikal überdenken. Ein persönliches und zugleich bewegend politisches Buch, das uns ermutigt, die Natur und das Leben mit neuen Augen zu sehen.
Mein Leseeindruck:
Eine Sammlung an wunderbaren kleinen Texten!
Die Autorin verweist in ihrem Vorwort auf die barocke Mode der sog. Wunderkammern: eine Form der Panoptika, in denen das Herrscherhaus Merkwürdigkeiten und Besonderheiten aus der ganzen Welt präsentierte. So will sie ihr Buch verstanden wissen.
Ich musste berufsbedingt einen noch strengeren Ansatz anlegen. Wunderkammern waren nämlich nicht nur eine lose, willkürliche Sammlung, sondern hatten das Ziel, in der Fülle der Einzelobjekte das Verbindende zu zeigen, um damit der Vielfalt der Welt eine Ordnung zu geben bzw. diese Ordnung aufzuzeigen. Mit diesem Wissen im Kopf habe ich das Buch gelesen, und auch diesem historischen Ansatz wurde das Buch gerecht. Es ist wirklich eine wundervolle Wunderkammer!
Die Autorin versammelt über 40 kleinere, essayartige Texte. Einige wirken wie Splitter, wie Schlaglichter, andere wiederum vertiefen sich intensiver in das Objekt der Betrachtung. Und wie in einer musealen Wunderkammer vertieft sich der Leser unter ihrer Führung in den Gegenstand, dem er sich nun ganz nah gegenübersieht. Es geht um den Wald im Winter, um Kirschkerne, um Ziegen, Gewitter, Sonnenfinsternis, die Erforschung aridischer Landschaften, das englische Swan Upping (war mir neu), es geht aber auch um das Schicksal eines jungen Flüchtlings, der in Europa seine Heimat sucht, und die Autorin schreckt auch vor politischen Äußerungen zum Brexit nicht zurück– sie öffnet also, um beim Bild der Wunderkammer zu bleiben, alle möglichen Schubladen und lässt uns hineinschauen.
Was verbindet die einzelnen Objekte der Betrachtung?
Mit einer unglaublichen Genauigkeit und einem bewundernswerten Fachwissen beobachtet die Autorin Totes und Lebendiges, Bedrohtes und Nicht-Bedrohtes. Von Text zu Text wurde mir die (vermutete) Botschaft der Autorin klarer: der Mensch ist nicht die Krone der Schöpfung, sondern ein Teil der Schöpfung, und er trägt Verantwortung für sie. Sie definiert Natur nicht als Nutzobjekt des Menschen, sondern Natur existiert auch so. Der Mensch ist so wie das Tier und wie die Pflanzen Teil der ihn umgebenden Natur.
Und so lernt sie auch aus der Natur. Ein Beispiel: In der Titelgeschichte „Abendflüge“ geht es um Mauersegler, und man muss staunen: „In solch panoptischer Höhe können die Vögel die versprengten Konstellationen der Sterne über sich sehen und gleichzeitig ihren magnetischen Kompass kalibrieren sowie ihre Peilung anhand der am dämmrigen Himmel stärksten und klarsten Lichtpolarisationsmuster vornehmen. (S. 197). Und Helen Macdonald lernt, „sorgfältiger darüber nachzudenken, wie ich mit Schwierigkeiten umgehe“ (S. 198).
Auch sprachlich ist das Buch weitgehend eine Freude. Bei der Geschichte des jugendlichen Flüchtlings sagt mir zwar der larmoyante Stil nicht so zu, aber immerhin wendet sich ihr Interesse einmal einem menschlichen Zugvogel zu.
Auch Formulierungen wie
Zitat„Die Hirsche driften in die Bäume hinein und aus ihnen heraus wie Ein- und Ausatmen. Sie scheinen unerwartet feingliedrig und kalt, als flösse kühle Luft von ihnen auf den Boden, um sich dort mit dem Nebel zu vermengen, der ihre Beine und sich windenden Flanken halb verdeckt“ (S. 167)
sind wohl Geschmackssache, aber auf alle Fälle eine Ausnahme. Man kann ja verstehen, dass ihr vor Begeisterung schon mal die sprachlichen Pferde etwas durchgehen.
Fazit: Voll und ganz eine Wunderkammer!