Jacques Le Goff - Der Mensch des Mittelalters

  • Zitat

    Cur deus Homo?

    Warum ist Gott Mensch geworden?

    Anselm von Canterbury ( - - 1109)


    Wie haben die Menschen im Mittelalter gelebt und was haben sie gedacht?

    Die beiden grundlegenden Fragen der "Annales - Schule", einem historischen Denkansatz des zwanzigsten Jahrhunderts, versucht Le Goff in dieser Anthologie zu beantworten.

    Das Gottesbild nimmt dabei eine zentrale Rolle ein, die Deutungshoheit lag dabei auf der Seite der römischen Kirche. Papst Gregor der Große ( 540 - 604 n.Chr.) legte höchstselbst in seinen Kommentaren zur Moralia des Hiob die Eckpfeiler der Doktrin fest:

    Leitbild der Menschwerdung Gottes sind Gnade und Vorsehung, die menschliche Gestalt des leidenden Christus als Sinnbild von Sühne und Schicksal der Seele.

    Ein klar erkennbarer Anthropomorphismus bahnte sich so den Weg, da der Mensch nach dem Ebenbild Gottes erschaffen ist, gleicht er ihm auch in der Vorstellung von Moral und Ethik.

    Die Seele nahm im Verlauf des Mittelalters eine widersprüchliche Existenz zum Körper an, der Körper erschien als die "widerliche Hülle", die es abzustreifen galt.

    Diese Morphophobie, die Verachtung der Körperlichkeit, nahm so erstmals Einzug in die abendländischen Moralvorstellungen, die der christlichen Antike noch fremd waren.

    Mehr als manche andere, war die mittelalterliche Gesellschaft eine Gesellschaft der Kontraste:

    Gut/böse, hoch/ niedrig, mächtig/arm.

    Das galt auch noch nach dem Fortschreiten der Geldwirtschaft und dem Faktor des Reichtums zur Erlangung von Macht und Herrschaft. Die Grundherrschaft bildete sich im Laufe des Mittelalters zugunsten der Geldherrschaft zurück.

    Der Klerus nahm dabei den Platz eine Kaste elitärer Geistesverfassung an, Gottessuche durch Gebet in Einsamkeit gepaart mit Gelehrsamkeit und Zugang zum Buchwissen der Antike, sicherte den christlichen Klöstern ihre geistige Vormachtstellung als Spitze der Avantgarde und Innovation.

    Intellektuelle Stärke und Bewahrung des antiken Erbes führten die " miles Christi" aber auch zu sozialen Reformen, Mildtätigkeit gegen Bedürftige und Lehre und Strukturwandlung der bäuerlichen Gesellschaften.

    Die Stadtentwicklung des Mittelalters war epochales Initial zur Ausbildung eines Bürgertums, zu kultureller und intellektueller Bildung und für Zugang zur Macht für Nichtadelige und Laien. Sie war der Katalysator der modernen Gesellschaften heutigen Zuschnitts.

    Noch für Thomas von Aquin hatte der Handel und die Geldwirtschaft überwiegend negative Vorzeichen. Ab dem Spätmittelalter setzte der Handel europaweit Akzente als Fokus von Machterwerb außerhalb der Feudalaristokratie. Ein Paradigmenwechsel fand statt.

    Das Handwerk erwarb eigene Strukturen, die in Gilden, Innungen und Gewerken Partizipation und Gestaltungskraft erlangen konnten.

    Die Partizipation darf dabei jedoch nicht überschätzt werden, die meisten Menschen waren Analphabeten und in bäuerlichen, z.T. leibeigenen Strukturen verhaftet und hatten kaum Teil und Kenntnis von und an neueren Entwicklungen. Der Analphabetismus machte die Macht der Bilder umso größer und so entstand die darstellende Kunst des Mittelalters vornehmlich aus biblischen Abbildungen, vor allem der Hölle und der Verdammnis. Die Bilder waren die Lehrmeister der einfachen Menschen.

    Die Strukturen der mittelalterlichen Gesellschaft, Handwerker, Bauern, Mönche, Ritter, Klerus, Fürsten, hatten einen festen Platz in ihrer Welt. Die Überwindung der Standesschranken war äußerst schwer.

    Wie lebten die Menschen zusammen in diesen knapp 1000 Jahren, wonach strebten sie, was dachten sie, in Wirklichkeit war die Gesellschaft des Mittelalters heterogener als es oft vermittelt wurde.

    Rennomierte Mediävisten aus ganz Europa werfen in diesem Buch Streiflichter ein, szenische Momentaufnahmen und Spiegelungen der Kernbereiche des Lebens im Mittelalter.

    Franco Cardini, E. Castelnuovo, B. Geremek, Christiane Klapisch uva. sind dafür absolut fachqualifiziert und seriös.

    Einige Kapitel bearbeitet der Meister selbst, so über das mittelalterliche Weltbild, das ich eingangs kurz vorgestellten wollte.


    Ein Standardwerk und Klassiker der Mittelalterforschung, in einer klaren, unprätentiösen Sprache verfasst und beste Geschichtslektüre für alle Interessierten.


    Jacques Le Goff (1924 - 2014) war ein französischer Historiker und Begründer der Annales - Schule. Seine Verdienste sind vor allem die Erforschung des Alltagslebens und der Wirtschaftsentwicklung des europäischen Mittelalters auf breitester Quellenbasis. Die Erschließung der mittelalterlichen Quellen, die nicht klerikalen oder feudalen Ursprungs waren, sind vor allem das Verdienst des Annales - Historiker um Jacques Le Goff.

    Dieser Klassiker muß mit 5 :bewertung1von5: bewertet werden, er stellt einen Pfeiler europäischer Geschichtsbetrachtung dar.