Joseph Incardona - Asphaltdschungel / Derrière les panneaux, il y a des hommes

  • Der Autor (Quelle: Lenos): Joseph Incardona, geboren 1969 in Lausanne. Der Schweizer Schriftsteller und Drehbuchautor veröffentlichte zahlreiche Romane, Kurzgeschichten, Theaterstücke und Comics, für die er mehrfach ausgezeichnet wurde. 2014 führte er zusammen mit Cyril Bron Regie beim Film „Milky Way“. Er ist Dozent am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel und lebt in Genf.


    Klappentext (Quelle: Lenos): Es ist heißer August. Auf den französischen Autobahnen, in den trostlosen Raststätten, auf den Ruheplätzen für Fernfahrer, den Arbeitsplätzen der Prostituierten, ist viel Betrieb: Touristen, Pendler, Liebespaare, die die Anonymität der Motels schätzen – aber auch Menschen mit anderen Zielen, wie Pierre, ehemaliger Gerichtsmediziner, der seinen Job aufgegeben hat und als rastloser Beobachter Spuren seiner vor Monaten entführten Tochter Lucie zu finden hofft, oder Pascal, ein auf den ersten Blick unscheinbarer Angestellter, der in einem Autobahnrestaurant das Essen ausgibt. Sylvie und Marc sind mit ihrer Tochter Marie unterwegs in die Ferien. Beim Halt an einer Raststätte macht sich Marie selbständig und begibt sich auf einen Rundgang. Sie kommt nicht mehr zurück. Die Polizei geht von einer Entführung aus. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt. Joseph Incardona erschafft ein filmreifes Panoptikum von schicksalhaften Begegnungen und Beziehungsmustern. Ganz in der Tradition des Roman noir, entblättert sich eine Geschichte von Verzweiflung und Hoffnung, Lust und Schmerz, Sex und Crime, Trauer und kurzen Glücksmomenten.


    Französische, italienische und deutsche Ausgaben:

    • Die französische Originalausgabe erschien im April 2015 unter dem Titel “Derrière les panneaux il y a des hommes“ im Verlag Editions Finitude in Le Bouscat (276 Seiten), neu aufgelegt 2017 und 2020 als Nr. 16463 der Reihe „Presses pocket“ bei Pocket in Paris (333 Seiten).
    • Die italienische Übersetzung von Claudine Turla erschien 2016 unter dem Titel „La metà del diavolo“ in der Reihe „Stagione“ bei NN Editore in Mailand (278 Seiten).
    • Die deutsche Übersetzung aus dem Französischen von Lydia Dimitrow erschien im März 2019 unter dem Titel „Asphaltdschungel“ in der Reihe „Lenos Polar“ als Broschur und E-Book im Lenos Verlag in Basel (338 Seiten).

    :!: Der Roman erhielt 2015 den renommierten Grand Prix de littérature policière für den besten französischen Kriminalroman des Jahres.
    :arrow: Der Autor „borgte sich“ vier Figuren aus dem Roman „Autoroute“ des französischen Schriftstellers François Bon (Seuil Jeunesse, Paris 1998). Bei dem Ausschnitt aus einem Brief handelt es sich um ein Zitat aus Malcolm Lowrys Roman „Under the Volcano“.


    Meine Einschätzung:
    Der äußerst düstere und obszöne Roman Noir zeigt, wie Gewalt, Lieblosigkeit und Kriminalität menschliche Beziehungen verändern kann und wie Menschen, deren Kinder getötet wurden, deren Lebensmittelpunkt zerstört wurde, an den Umständen völlig zugrunde gehen. Die Kriminalpolizei wird nicht als Garant für die Aufrechterhaltung und Wiederherstellung des Status quo gezeigt, ist unfähig für Gerechtigkeit zu sorgen, darf aber trotzdem in einem Handlungsstrang ausgiebig in Gestalt einer Kommissarin und ihres Assistenten mitspielen, was für meinen Geschmack eine unnötige Krimiliteratur-Normalität in den Roman hineinträgt, der mit einer gesichtslosen Polizeigewalt, nur auf den Schultern von Opfern, Hinterbliebenen, Täter und anderen Randexistenzen erzählt, für meinen Geschmack mehr niederschmetternde Schlagkraft gehabt hätte. Desillusionierte, schlechtgelaunte, zynische, melancholische Polizeibeamte gibt es auch in Tatort-Fernsehkrimis! :roll:
    Der in kurzen Sätzen erzählte Roman, der lauter Gedankensplitter der Figuren auf den Leser niederprasseln lässt, in denen sich Tiefsinniges und Banales, Erschreckendes und Überlegenswertes verbirgt, versucht einen Sog des Niedergangs, des Abschaums, des Schmutzes und des Abscheus zu erzeugen, was bei mir meist nicht gelungen ist, da es Incardona mit dem Düsteren, dem Kaputten, dem Dreckigen, dem Kranken und dem Widerlichen wirklich übertreibt: überall mit Kacke beschmierte Taschentücher, Pisseflecken, Müll, Irrsinn, Absturz und wundgeriebene Geschlechtsteile. Alkoholiker und Hautausschlag. Selbstmord und Frömmelei. Angeschreie und Nervenzusammenbruch. Straßenstrich und Schwänzelutschen. Ein diebischer Roma-Junge stapft durch die Gegend. Und alle Nebenfiguren sind ebenfalls Arschlöcher: ein Uniprofessor, der sich mit seiner notgeilen Studentin vergnügt. Das Fast-Food-Franchise-Gewerbe ist kein Ort beruflicher Erfüllung. Und natürlich wird auch noch der junge Stricher in den Büschen totgeschlagen. Die Sprache ist betont drastisch, was in der Häufung aus unterschiedlichen Mündern auf mich doch sehr bemüht wirkt. Wie ein Jugendlicher, der auf harter Hund machen will. Der Realismus des allgegenwärtigen Schmutzes wird ein wenig zur Lachnummer. :geek:

    Incardona will vielleicht zuviel: Wie die Menschen dazu werden, was sie sind. Dabei sind die Figuren psychologisch weniger komplex angelegt als es mit gefallen hätte: Im Grunde hat man es mit einer Ansammlung von Typen zu tun, die ihre inakzeptable Facette der Daseinsbewältigung anspielen dürfen: männliches Potenzgehabe, weibliche Frömmigkeit, sich selbst sexuell erniedrigen lassen, um sich zu spüren, sich von der Zivilisation entsagen, um als einsamer Wolf auf Rachefeldzug zu gehen, das gehörlose Heimkind, das keine Weichheit und Sicherheit kennenlernen konnte, und zum Kindermörder wird. Jeder denkt an sich zuerst. Das eigene Wehwehchen ist immer das schlimmste. Gebrüll und Gekeife. Nach dem Sex wird der Partner noch angespuckt oder kriegt aufs Maul. Desaströse Trauerarbeit und Lebensbewältigung.


    Das Sujet der Rastplätze und Autobahn-Raststätten, diese Nichtorte des Durchgangsverkehrs stehen für die inhumane, neoliberale Lebenswelt unserer Gegenwart, bewohnte Orte, an denen man sich nicht mehr heimisch fühlt, entfremdet ist von jedem Zusammenhalt und jeder Schönheit, wo sich niemand mehr verantwortlich fühlt, man nicht genau hinschaut. Dort, wo die Menschen von der Klippe springen. Das erscheint mir alles zwar sehr stimmig und passend gewählt, auch der atemlose, manische Tonfall erweist sich als ein besonderer Haken im Fleisch, nur zerstört für mich die übertriebene Ansammlung an Schmutz, Vulgarität und Degeneration die Wirkung als Augenöffner: Das Ekelhafte rührt mich nicht an. Es weist auf soziale und individuelle Dreckecken hin, die schon längst bekannt sind. Und im Grunde verbirgt sich in diesem höllischen Leserausch auch nur eine ganz banale Serienmördergeschichte mit verzweifelten Hinterbliebenen, verquer besonderem Mörder und ohnmächtigen Kommissaren. :-s


    Eine rauschhafte Lektüre, böse und deprimierend, sehr rasant, interessant vielstimmig, ja, annehmbare Unterhaltung, aber als Rastplatz-Noir und existenzialistisches Fazit des Menschseins viel zu überladen und übertrieben unheilvoll in schick verdüsteren Farben gezeichnet. :| Kann man lesen, aber man ist besser nicht zartbesaitet. Fürs Erste: drei :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: Sterne.

    White "Die Erkundung von Selborne" (103/397)

    Everett "God's Country" (126/223)


    :king: Jahresbeste: Gray (2024), Brookner (2023), Mizielińsky (2022), Lorenzen (2021), Jansson (2020), Lieberman (2019), Ferris (2018), Cather (2017), Tomine (2016), Raymond (2015)

    :study: Gelesen: 55 (2024), 138 (2023), 157 (2022), 185 (2021), 161 (2020), 127 (2019), 145 (2018), 119 (2017), 180 (2016), 156 (2015)70/365)
    O:-) Letzter Kauf: Martinson "Schwärmer und Schnaken" (15.04.)

  • Die französische Originalausgabe erschien im April 2015 unter dem Titel “Derrière les panneaux il y a des hommes“ im Verlag Editions Finitude in Le Bouscat (276 Seiten).

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    Everett "God's Country" (126/223)


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  • Die französische Originalausgabe wurde 2017 und 2020 als Nr. 16463 der Reihe „Presses pocket“ bei Pocket in Paris neu aufgelegt (333 Seiten)

    White "Die Erkundung von Selborne" (103/397)

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  • Die italienische Übersetzung von Claudine Turla erschien 2016 unter dem Titel „La metà del diavolo“ in der Reihe „Stagione“ bei NN Editore in Mailand (278 Seiten).

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