Denis Johnson - Keine Bewegung! / Nobody Move

  • Der Autor (Quelle: Rowohlt): Denis Hale Johnson, 1949 in München als Sohn eines amerikanischen Offiziers geboren, gilt nach neun Romanen und den Story-Sammlungen „Jesus‘ Sohn“ und „Die Großzügigkeit der Meerjungfrau“ als einer der wichtigsten Autoren der amerikanischen Gegenwartsliteratur. Für sein Vietnamkriegsepos „Ein gerader Rauch“ wurde ihm der National Book Award verliehen, die Novelle „Train Dreams“ stand – wie auch „Ein gerader Rauch“ – auf der Shortlist des Pulitzer-Preises. 2017 erhielt er posthum für sein Gesamtwerk den Library of Congress Prize for American Fiction. Er lebte zuletzt in Idaho, USA, und starb im Mai 2017.


    Klappentext (Quelle: Rowohlt): Der Friseur und Freizeitchorsänger Jimmy Luntz hat Spielschulden bei mächtigen Leuten. Und so weiß er, als nach einem Sängerwettstreit in Bakersfield, Kalifornien, deren Geldeintreiber vor der Mall auf ihn wartet, dass seine Kniescheiben jetzt mit einem Montiereisen verabredet sind. Doch einmal im Leben reagiert er nicht wie der Tölpel, der er ist: Der Schurke hat seine Knarre im Handschuhfach liegenlassen, Jimmy bedankt sich, schießt ihm ins Bein, deponiert ihn an einem Rasthof im Straßengraben, nicht ohne rücksichtsvoll den Notruf zu wählen, und macht sich in seinem Wagen davon. Auftritt Anita Desilvera, in mancher Hinsicht Jimmys Entsprechung, nur schöner. Und glamourös. Ziemlich glamourös sogar, findet er, als er sie nächtens in einer Karaoke-Bar erspäht, wo sie vor zwei Tequila Sunrise sitzt und sich fragt, wie lange es wohl dauern wird, bis wieder irgendein Idiot sie anspricht und sexuell beglücken will. Achtzehn Sekunden! Und so entspinnt sich eine fatale Liaison. Denn Anita braucht Hilfe, so stellt sich langsam heraus – wenngleich zu schnell für Jimmy, als dass er vermeiden könnte, wieder einmal die Rolle des Tölpels zu besetzen. Sie ist in einen Betrug verwickelt, bei dem 2,3 Millionen Dollar auf dem Spiel stehen. Und als Jimmys Verfolger davon Wind bekommen, geht es erst richtig los mit der Gier, der Jagd und dem lustvollen Blutvergießen ...  Johnson, der literarische Meister, hat sich einen grandiosen Genre-Scherz erlaubt – "Keine Bewegung!", ursprünglich als Serienroman für den amerikanischen "Playboy" verfasst, ist ein Mordsvergnügen im doppelten Wortsinn.


    Englische, französische, deutsche und italienische Ausgaben:

    • „Nobody Move“ erschien zuerst in vier Fortsetzungen von Juli bis Oktober 2008 im amerikanischen Playboy. Die amerikanische Originalausgabe in Buchform erschien im April 2009 in leicht veränderter Form unter dem Titel bei Farrar, Straus and Giroux in New York (196 Seiten), neu aufgelegt u.a. 2010 (und 2013) bei Picador in London sowie 2010 bei Harper Perennial in Toronto. Außerdem erschien 2009 eine Großdruckausgabe im Verlag Thorndike Press in Waterville, Me (229 Seiten).
    • Die französische Übersetzung von Brice Matthieussent erschien im Oktober 2009 unter dem Titel „Personne bouge“ in der Reihe „Fictives“ bei Christian Bourgois in Paris (202 Seiten), neu aufgelegt 2011 als Nr. 4409 der Reihe „Domaine étranger“ bei 10/18 in Paris (202Seiten).
    • Die deutsche Übersetzung von Bettina Abarbanell erschien im März 2010 unter dem Titel „Keine Bewegung!“ als Hardcover und E-Book im Rowohlt Verlag in Reinbek bei Hamburg (204 Seiten), neu aufgelegt 2011 als Rororo-Taschenbuch Nr. 25661 im Rowohlt Taschenbuch Verlag.
    • 2010 erschien auch eine ungekürtze Lesefassung der Abarbanell-Übersetzung als Hörbuch auf 4 CDs bei Parlando in Berlin (5 Stunden 7 Minuten). Sprecher: Christian Brückner, Regie: Waltraut Brückner.
    • Die italienische Übersetzung von Silvia Pareschi erschien im März 2010 unter dem Titel „Nessuno si muova“ in der Reihe „Scrittori italiani e stranieri“ bei Mondadori in Mailand (177 Seiten).


    Meine Einschätzung:
    Eine Zeitlang war es schick für Verlage, literarische Agenturen und das Feuilleton, wenn sich Vertreter der sogenannten Hochliteratur an Genregeschichten versuchten: Thomas Pynchons Private-Eye-Delirium „Inherent Vice“, Ian McEwans KI-Roman „Machines Like Me“ (auch wenn sich der Autor recht arrogant und abfällig über Science-Fiction äußerte, zu der er sich in keiner Weise dazuzählte, da er ja anspruchsvolle Themen beackert, der ignorante Idiot [-( ) und hierzulande zum Beispiel Georg Klein mit seinen Abstechern in die Welt der Privatdetektive und den Endzeitroman („Barbar Rosa“ und „Die Zukunft des Mars“). Meist ist es dabei so, dass der „anspruchsvolle Schriftsteller“ erkennbar durch die genretypischen Stereotype hindurchschimmert und das Triviale (meist etwas fußlahm) versucht wird, auf eine „literarische“ Ebene zu hieven: angereichert mit gesellschaftlichen Subtexten und metatextuellen Spielereien, aber keiner wirklichen Liebe zu Genregeschichten und ihren Stereotypen-Figuren. Man versucht, aus dem trivialen Kokon möglichst schnell auszubrechen.

    Bei Johnsons „Nobody Move“ ist das nicht so. Tatsächlich sind es mir hier sogar zu wenige Subtexte und übergeordnete Themen, die bemüht werden. Sein Pulp-Fiction-Roman erscheint als eine reine Fingerübung, mit einem Genretext als Auftragsarbeit mit Deadline (viermal 10.000 Wörter) umzugehen - und für einen Schriftsteller ist das Schreiben einer Fortsetzungsgeschichte sicherlich eine attraktive Herausforderung, nur verschwindet für den Leser das Besondere, liest er einen solche Geschichte dann geschlossen als Roman. Dass zum Beispiel Tom Wolfes “The Bonfire of the Vanities“ ursprünglich mehr als ein Jahr lang in Fortsetzungen im „Rolling Stone“ erschienen ist, merkt man dem Roman in Buchform eigentlich nicht mehr an.

    Ein wenig fehlt mir bei „Nobody Move“ auch die Liebe (oder der Hass) zu den Figuren. Das ist eine recht klassisch austarierte Anordnung von Typen rund um Schuld, viel Geld und Sex, aber mir fehlt der originelle Dreh, der himmelschreiende Irrsinn, das Quentchen Besonderheit, das eben nur Denis Johnson der kriminellen Halbwelt aus Schurken, Versagern und Femme Fatales hinzufügen könnte. Mir hätte es gefallen, wenn die Verstrickungen der Figuren tatsächlich auf einen bewegungslosen Höhepunkt (im Sinne des Titels) hingeführt hätten, wenn es Johnson geschafft hätte, die Anspannung der Figuren und ihrer entgegenlaufenden Absichten in ein solches Gleichgewicht zu bringen, dass keine Bewegung mehr möglich ist, ohne das Kartenhaus völlig zusammenstürzen zu lassen: ein kriminelles Gleichgewicht aus Schlechtigkeiten, die Entropie bis zur Implosion aufgeheizt. Stattdessen bekommt man es mit einem etwas zufälligen Wechsel von Schachzügen zu tun, die mal die eine Seite, mal die andere Seite nach vorne bringt. Auch der Wechsel der Empathie zwischen den Figuren scheint mir eher zufällig, kein absichtsvolles Verwischen der Grenzen zwischen Gut und Böse und sehr Böse.


    Wenn es ein übergeordnetes Thema gibt, ist das wohl die Dummheit, Chancen leichtfertig durch Verzagtheit, Doofheit oder falsche Skrupel zu verpassen. Wenn man den mordwilligen Schuldeneintreiber durch Glück mit seiner eigenen Waffe in Schach halten kann, dann schießt man ihm nicht nur ins Bein und ruft den Notarzt! :wink: In „Nobody Move“ gibt sich Hauptfigur Jimmy Luntz mit zu wenig zufrieden. Wenn er mit seinem Barbershop-Chor beim Wettsingen nur Platz 17 von 20 erreicht, nimmt er es nicht krumm, da sich ja immerhin 100 Chöre für den Wettbewerb beworben haben. Und Platz 17 von 100 klingt doch nicht schlecht! :wink: Luntz ist jemand, der es liebt, am Boden des Boxrings zu liegen und entspannt zu lauschen, wie ihn der Schiedsrichter auszählt. Aus dieser Genügsamkeit, diesem sich schnell Zufriedengeben hätte Johnson für meinen Geschmack mehr machen müssen: Dann wäre Luntz‘ Entscheidung, den Schuldeneintreiber nicht zu töten, stärker als ein Akt der Gnade erschienen, als Ausdruck des Mottos „Leben und Leben lassen“ – und wie diese ganzheitliche Einstellung in kriminellen Kreisen schnell an ihre Grenzen stößt. Vielleicht ist es auch das Unerwartbare der Welt, das einem immer wieder in die Quere kommt? Aber dann hätte es noch ein paar Szenen gebraucht, die die Figuren außerhalb der klischeehaften Genre-Situationen zeigen, um ihr Verhalten in einer breiteren Perspektive betrachten zu können.


    Der Roman ist also verdammt temporeich, unterhaltsam und ansprechend kurz. Die Sprache der Dialoge sitzt auf den Punkt. Ich mag auch, dass Johnson seine Geschichte nicht überladen will und die Genrekonventionen nicht nur als Steigbügelhalter benutzt, um auf Teufel komm raus Tiefsinn zu verbreiten. Allerdings verblasst die Erinnerung an die Figuren viel zu schnell, weil die Geschichte dann doch zu unterkomplex ist. Ich vermute, dass ich mich in einigen Monaten vor allem an den Anfang beim Wettbewerb der Freizeitchöre erinnern werde, da diese Szene so völlig neben der Spur scheint – und damit einprägsam und originell. Die Gewaltspitzen sind vielleicht etwas unnötig abgebrüht und cool angelegt. Und aus dem übertriebenen Vergeltungswunsch, die abgesäbelten Hoden des Gegners zu essen, um ihn völlig zu demontieren, hätte man vielleicht auch mehr machen können: das unsinnige Pathos der Rache.
    Eine attraktive literarische Fingerübung für einen schnell vergessenen Lesenachmittag. Je nach Laune drei :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: oder etwas weniger Sterne. :)

    White "Die Erkundung von Selborne" (103/397)

    Everett "Die Bäume" (189/365)


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    O:-) Letzter Kauf: Esch "Supercool" (24.03.)

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