Denis Johnson - Schon tot / Already Dead. A California Gothic

  • Der Autor (Quelle: Rowohlt): Denis Hale Johnson, 1949 in München als Sohn eines amerikanischen Offiziers geboren, gilt nach neun Romanen und den Story-Sammlungen „Jesus‘ Sohn“ und „Die Großzügigkeit der Meerjungfrau“ als einer der wichtigsten Autoren der amerikanischen Gegenwartsliteratur. Für sein Vietnamkriegsepos „Ein gerader Rauch“ wurde ihm der National Book Award verliehen, die Novelle „Train Dreams“ stand – wie auch „Ein gerader Rauch“ – auf der Shortlist des Pulitzer-Preises. 2017 erhielt er posthum für sein Gesamtwerk den Library of Congress Prize for American Fiction. Er lebte zuletzt in Idaho, USA, und starb im Mai 2017.


    Klappentext (Quelle: Rowohlt): Sommer 1990. Mendocino heißt die einsame nordkalifornische Küstenregion, wo die Aussteiger, Schamanen und Paranoiker siedeln. Obwohl seit Wochen kein Regen gefallen ist, hält sich dichter Nebel über den steilen Kliffs und in den Märchenwäldern der Redwoods. In dieser Einöde taucht der Exmatrose Van Ness auf, der einen Platz sucht, um seinem ziellosen Dasein ein Ende zu setzen. Doch ein Drogenfarmer fischt den Lebensmüden aus dem See und schlägt ihm einen Deal vor: Van Ness räumt seine Frau aus dem Weg; als Lohn winken 10000 Doller und der elektrische Stuhl. Aber der „schon Tote“ durchkreuzt den Plan. „‘Schon tot‘ ist ein Buch von Feuer und Schwefel, so leuchtend und kühn, wie man es aus Amerika vielleicht einmal im Jahr zu bekommen hofft.“ („Frankfurter Allgemeine Zeitung“)


    Englische, französische und deutsche Ausgaben:

    • Die amerikanische Originalausgabe erschien 1997 unter dem Titel „Already Dead. A California Gothic“ bei HarperCollins in New York (435 Seiten), neu aufgelegt u.a. 1998, 2003, 2009, 2010 und 2013 ebendort sowie 1999 bei Picador in London.
    • Die französische Übersetzung von Brice Matthieussent erschien 2000 unter dem Titel „Déjà mort: Roman Gothique Californien“ in der Reihe „Fictives“ bei Christian Bourgois in Paris (505 Seiten).
    • Die deutsche Übersetzung von Bettina Abarbanell und Fritz Mergel erschien 2000 unter dem Titel „Schon tot“ im Alexander Fest Verlag in Berlin, neu aufgelegt im April 2002 als Rororo-Taschenbuch Nr. 22930 im Rowohlt Taschenbuch Verlag in Reinbek bei Hamburg (633 Seiten) und erneut im Mai 2018 ebendort. Lektorat: Eike Schönfeld. 2001 erschien auch eine Lizenzausgabe bei der Büchergilde Gutenberg in Frankfurt am Main, Wien und Zürich.


    Meine Einschätzung:
    Wer eine „flüssig geschriebene“, eingängige Geschichte sucht, muss die Finger von Johnsons fünftem Roman lassen. :wink: Die Handlung springt von Person zu Person und in der Zeit vor und zurück, manches in Ich-Perspektive, manches aus neutraler Erzählersicht wechselnder männlicher Figuren geschrieben. Neu auftauchende Figuren werden nicht unbedingt mit „einem kleinen Steckbrief“ eingeführt, sondern erzählen erst einmal davon, was ihnen gerade wichtig ist. Selbst Namen fallen nicht unbedingt, was etwas enervierend wirkt, da man nicht immer gleich wissen kann, warum man sich nun die Geschichte dieser Person anhören muss oder in welcher Relation sie zu dem schon bekannten Personal steht. Das griffige Bild für diese Struktur scheint mir ein Sandsturm zu sein (wie der, in den Clarence Meadows mit seinem Wagen in der kalifornischen Wüste gerät), der über die Handlung hinwegzieht, ein jede Verwurzelung und jede Verbindung nivellierendes Momentum, aus dessen grauer Ungewissheit sich manche Gegenstände und Situationen für kurze Zeit herausschälen (wenn sie gewissermaßen von dem Sturm herumgewirbelt an einem vorbeistrudeln und wieder verschwinden). Schon die Romanstruktur erzählt somit von jener Entwurzelung und Ort-Suche, die alle Figuren in der Geschichte umtreibt. Wer den Roman als ungeordnetes Chaos ansieht, hat also nur teilweise recht: Chaos ja, aber nicht ungeordnet, sondern mit Bedacht so erzählt, um die Zustandsbeschreibung des „modernen Menschen“ nicht nur inhaltlich, sondern auch formal herüberzubringen.


    Außerdem fällt der Bezug zur viktorianischen Schauerliteratur ins Auge: Es wirkt wirklich so, als wollte Johnson eine Gothic Novel in der kalifornischen Sonne erzählen. Dafür spricht nicht nur der Figurenname „Frankenstein“, sondern auch das Doppelgänger-Motiv, Geisterbeschwörungen bei Séancen und die expressionistisch verdüsterte Naturbeschreibung, der allgegenwärtige Küstennebel, die im schönsten Poe-Sinn dem Untergang geweihte, sehr desolate Familie, allgegenwärtiger Wahnsinn, die in Albträumen verdichtete Angst und die Gratwanderung zwischen Leben und Tod: Sterben, Töten, Selbstmordabsichten und immer wieder Menschen, die dem Tod von der Schippe springen – echte Jenseits-Wiedergänger. Doch im Grunde sind sie schon gestorben, nur wurden ihre Körper dann von bösen Seelen, die keinen Frieden finden, neu befüllt. So kommt das Böse auf die Welt: Dämonen. Und all das ist bitte völlig im übertragenen Sinne zu verstehen, bei "Schon tot" handelt es sich nicht um eine launige Höllen-Fantasie, sondern um eine metaphysische Annäherung an das Menschsein. Aber ist Van Ness tatsächlich der Teufel oder nicht doch Fairchild, der Van Ness verführt, was Van Ness zum wahren Menschen macht, einem Adam, der Dinge „versucht“, einem Menschen, der der Versuchung erliegt? :-k


    All das erschafft ein allgegenwärtiges Gefühl, sich nicht heimisch zu fühlen – in einer Landschaft, die von den Gespenstern unserer Ahnen und der Vergangenheit bewohnt wird – und vor allem im Dasein als Mensch: völlig allein gelassene Individuen, die mit den Beinen in der Luft strampeln, um nicht durchzudrehen, die sich Routinen zusammenschustern, um den Alltag zu überstehen … nicht mit dem linken Fuß aufstehen, nicht auf die Ritzen treten … im Hintergrund wispern die Stimmen der anderen, die über Dich sprechen. 8-[


    Man denkt zunächst, man läse die Geschichte eines todkranken Selbstmörders, der zum Mörder wird, eine Art psychologische Kriminalgeschichte, aber in Wirklichkeit scheint es darum zu gehen, wie die Landschaft die Menschen formt: „Schon tot“ ist eine Geschichte des Verschwindens. Und es handelt sich nicht um das kriminalliterarische Verschwinden durch einen gewaltsamen Tod, sondern um das Verschwinden in der Normalität der Gemeinwesen: bei einer karnevalesken Hochzeit.


    Nur der Kriminalist steht mit einem Brief eines der Opfer dieser Geschichte (einer Beichte? Einer Erklärung? Einer Anklage? Einem Abschiedsbrief?) am Rand und trauert dem Wegbrechen der kriminalistischen Eindeutigkeit nach: Der mit Blut geschriebene Abschluss des Briefes bleibt auf ewig unentzifferbar. Ein Brief, der nichts erklärt, aber alles sagt. Und weil die Hochzeit zu Halloween stattfindet, werden gleichzeitig durch die verkleideten Hochzeitsgäste die bösen Geister in die Schranken gewiesen. Die Dämonen der Täter und der Bösewichte haben die vakant gewordenen Rollen der Verstorbenen eingenommen. Das Treiben geht in eine zweite Runde. Die Landschaft hat sich ein neues Personal geboren, das die immergleichen Ränkespiele, Tragödien, Schauerstücke und Lustspiele in den alten, geisterhaften Kulissen aufführt: ein Strudel aus Heimsuchungen, Schäferstündchen, Drogen, Sturheit, Eigensinn und Wahnsinn. Die Einsamkeit war schon vorher am Ort. Es ist nicht unbedingt die eigene Einsamkeit, was vielleicht ein Trost sein kann. Aber manchen wird sie dennoch schlichtweg zu viel. Sie halten alles nicht mehr aus und werden irre. Oder im besten Fall sonderlich. :wink:


    Ein manischer Roman, der mich lange nicht an sich heranließ, immer wieder enttäuschte, häufig Schwung antäuscht, um gleich wieder in einer Innenperspektive festzustecken, dann auch wieder einfach schnurgerade abzieht, auf den Sonnenuntergang oder die Steilküste zurasend, wobei eine Vielzahl von Figuren in den Fokus rückt (wobei nicht unbedingt die Figuren, die naheliegen, sich als Sympathiefiguren erweisen), lauter Mosaiksteine einer verzweifelten, noiren Stimmung, die eine Landschaft, in der die drogengeschwängerten Hippie-Sechziger nicht unbedingt geendet haben, mit literarischem Leben füllt, was mich am Ende, wenn man 600 Seiten mit dem Roman verbracht hat, in völliger Liebe und Begeisterung zu diesem sperrigen Werk entbrannt hat. :drunken:

    White "Die Erkundung von Selborne" (103/397)

    Everett "Die Bäume" (214/365)


    :king: Jahresbeste: Gray (2024), Brookner (2023), Mizielińsky (2022), Lorenzen (2021), Jansson (2020), Lieberman (2019), Ferris (2018), Cather (2017), Tomine (2016), Raymond (2015)

    :study: Gelesen: 43 (2024), 138 (2023), 157 (2022), 185 (2021), 161 (2020), 127 (2019), 145 (2018), 119 (2017), 180 (2016), 156 (2015)70/365)
    O:-) Letzter Kauf: Esch "Supercool" (24.03.)

  • Die amerikanische Originalausgabe erschien 1997 unter dem Titel „Already Dead. A California Gothic“ bei HarperCollins in New York (435 Seiten), neu aufgelegt u.a. 1998, 2003, 2009, 2010 und 2013 ebendort sowie 1999 bei Picador in London.

    White "Die Erkundung von Selborne" (103/397)

    Everett "Die Bäume" (214/365)


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  • Die französische Übersetzung von Brice Matthieussent erschien 2000 unter dem Titel „Déjà mort: Roman Gothique Californien“ in der Reihe „Fictives“ bei Christian Bourgois in Paris (505 Seiten).

    White "Die Erkundung von Selborne" (103/397)

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