Helena Adler - Die Infantin trägt den Scheitel links

  • Kurzmeinung

    Marie
    Gewaltig in Sprache und "Handlung" (eher: Ereignissen)
  • Kurzmeinung

    sunny-girl
    wuchtige, bildhafte Sprache, dünne Handlung in Episoden erzählt
  • Kurzmeinung

    Emili
    Ansammlung von Lebensfragmenten ohne roten Faden in der Geschichte, in einer unmöglich ambitionierten Sprache
  • Zur Autorin:


    Helena Adler ist ein Pseudonym für Stephanie Helena Prähauser, geboren 1983 in der Nähe von Salzburg, aufgewachsen auf einem Bauernhof. „Die Infantin trägt den Scheitel links“ ist ihr zweiter Roman, der schnell Erfolg hatte und schließlich 2020 auf der Longlist des Deutschen Buchpreises landete.


    Klappentext:


    Dass sie, die jüngste Tochter, das zarte Kind, den Bauernhof ihrer Eltern abfackelt, ist nicht nur ein Versehen, es ist auch Notwehr. Ein Akt der Selbstbehauptung gegen die Zumutungen des Heranwachsens unter dem Regime der Eltern, einer frömmelnden, bigotten Mutter und eines Vaters mit einem fatalen Hang zu Alkohol, Pyrotechnik und Esoterik. Von den älteren Zwillingsschwestern nicht zu reden, zwei Eisprinzessinnen, die einem bösen Märchen entsprungen sind und ihr, der Infantin in Stallstiefeln, übel mitspielen, wo sie nur können. Und natürlich fehlen auch Jäger, Pfarrer und Bürgermeister nicht in dieser Heuboden- und Heimatidylle, die in den schönsten Höllenfarben gemalt ist und in der es so handfest und herzhaft zugeht wie lange nicht. Dieses Buch ist ein Fanal, ein Feuerwerk nach dem Jüngsten Gericht unter dem Watschenbaum. Es erzählt von Dingen, als gingen sie auf keine Kuhhaut. Schrill, derb, ungeschminkt, rotzfrech und hart wie das Landleben nach dem Zeltfest und vor der Morgenmesse. Eine sehr ernste Angelegenheit, ein sehr großer Spaß!


    Mein Lese-Eindruck:


    Der erste Satz des Romans ist wie ein Fanal: „Nehmen Sie ein Gemälde von Pieter Bruegel. Nun animieren Sie es. “

    Bruegels Bilder (gemeint ist Pieter Bruegel d. Ä., der sog. „Bauernbruegel“) bilden vordergründig das Leben, die Feste, die Spiele etc. des niederen Bauerntums ab, die wilden weltlichen Freuden überwiegen – aber zugleich bilden sie auch den Unsinn, die Überheblichkeit und die Bosheit menschlichen Handelns ab sowie die Furien und Schrecken der Hölle.

    Und dahinter eine Landschaft, rein und schön, unbeeindruckt von dem Gewimmele im Vordergrund.


    Mit diesen Bildern im Kopf habe ich diesen Roman gelesen. Schauplatz ist ein Bauernhof im Salzburgischen, bewohnt von einer Großfamilie. Kühe, Schweine, Wald, Almen und Glockengeläute – eine Idylle. Aber es ist wie in den Bildern Bruegels: das Treiben der Menschen passt in keiner Weise in diese landschaftliche Idylle. Ganz im Gegenteil.


    Da ist der Vater, ein Esoteriker, ein Trunkenbold, gewalttätig und straffällig. Die Mutter eine bigotte Frömmlerin, die schließlich in der Psychiatrie landet, und die beiden älteren Schwestern der Erzählerin, die personifizierte Teufel sind. Lediglich die Urgroßeltern werden zwar skurril, aber liebevoll gezeichnet. Vor allem die Mutter wird in schrecklichen Bildern dargestellt: „„Ihr spitzer Schnabel ist ein Hackbeil, damit kann sie Gelenke brechen und Knochen.“ Die Mutter ist es auch, die - von der kindlichen Autorin verunziert - auf dem Titelbild abgebildet ist, sodass man wohl von einem autobiografischen Roman ausgehen kann.


    Die einzelnen Kapitel des Buches stehen übergangslos nebeneinander, es sind kräftige Episoden oder Eindrücke , die hier geschildert werden und die teilweise enträtselt werden müssen. Der Erzählerin ist dabei weniger eine fest umrissene Handlung, sondern die Sprache wichtig: wortgewaltig, bildgewaltig, wuchtig, reich an Assoziationen, an Anspielungen, an Neologismen und ungewöhnlichen Kombinationen. Um bei der Malerei zu bleiben: die Autorin malt mit kräftigen und schrillen Farben überzeichnete Charaktere, scharfkantig, grell, grotesk, expressionistisch. Und wie bei der expressionistischen Malerei steht nicht das Sujet, sprich: eine logisch abfolgende Handlung, im Mittelpunkt, sondern Farbe und Form.


    Diese Eigenwilligkeit und vor allem Eigenständigkeit der Sprache muss man mögen. Das Buch liest sich nicht leicht, man muss es Satz für Satz aufnehmen, groteske Bilder folgen in rascher Folge aufeinander, ein Alptraum jagt den nächsten.


    Fazit: ein Heimat- und Familienroman der besonderen Art. Nicht unbedingt ein "Spaß", wie es der Klappentext suggeriert!

    :study: Percival Everett, James.

    :musik: Agatha Christie, Mord im Pfarrhaus.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Danke für die Rezension, drawe. Das Buch klingt sehr interessant und es wandert mal auf meine Wunschliste. Ich habe aber den Eindruck, dieses Buch braucht den richtigen Zeitpunkt.

  • Vielen Dank, drawe, dass du eine Rezension zu diesem nicht einfachen Buch verfasst hast. :) Mir hat es ja gar nicht gefallen, auch wenn ich die Absichten der Autorin gut nachvollziehen konnte. Aber ich habe ihre Art sich sprachlich in die Szene zu setzen gar nicht gemocht. Die Besonderheiten ihrer Erzählkunst liegen nicht jedem, wie du schon treffend sagtest. Mir war es zu viel an Assoziationen, an Andeutungen, an sprunghafter Erzählung...

    Dennoch immer, wenn ich diesem Buch irgendwo begegne, muss ich darüber nachdenken, immerhin das hat die Autorin bei mir erreicht. Mögen tue ich es aber dennoch nicht. Schön, dass du dieses besondere Buch rezensiert hast. Das hat die Erzählung mit Sicherheit verdient. :thumleft:

    2024: Bücher: 90/Seiten: 39 866

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    Scalzi, John - Die Gesellschaft zur Erhaltung der Kaiju-Monster

  • Aber ich habe ihre Art sich sprachlich in die Szene zu setzen gar nicht gemocht.

    Ja, das kann ich verstehen. Sprache ist eigentlich das Medium, mit dem ein Inhalt transportiert wird, aber in diesem Buch wird die Sprache immer wieder zum Selbstzweck.


    Deswegen bin ich auch nicht über die Sprache an das Buch herangegangen, sondern über die Gemälde.

    Die Autorin/Erzählerin übertitelt jedes Kapitel mit einem Gemälde, quer durch die Kunstgeschichte, und das fand ich natürlich von Haus aus interessant. Von daher hat mich das Schlaglichtartige ihres Romans weniger gestört.

    :study: Percival Everett, James.

    :musik: Agatha Christie, Mord im Pfarrhaus.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Nehmen Sie ein Gemälde von Pieter Bruegel.

    So ein Satz zwingt mich dazu, das Buch lesen zu wollen, egal, wie die Rezensionen ausfallen und obwohl ich mehr als einmal hereingefallen bin, weil ein Klappentext einen Ausflug zu Gemälden versprach und nicht hielt. :-?

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • So ein Satz zwingt mich dazu, das Buch lesen zu wollen,

    :lol:

    Tu das!

    Du bist, egal wie es Dir gefällt, um eine überraschende Lese-Erfahrung reicher!


    Mich hat der Roman immer wieder an Elfriede Jelinek erinnert, was den Umgang mit der Sprache angeht. Jelinek zertrümmert die Sprache, bis nichts mehr weiter geht - finde ich. Das macht Helena Adler auch, aber nicht so konsequent bis zum Letzten. Sie fängt das Zertrümmern dann mit Assoziationen und auch Sprachspielereien wieder auf.


    Das muss man mögen. Aber ich mochte auch Jelineks "Liebhaberinnen".

    :study: Percival Everett, James.

    :musik: Agatha Christie, Mord im Pfarrhaus.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Aber ich mochte auch Jelineks "Liebhaberinnen".

    Das trifft sich dann. "Liebhaberinnen" kenne ich nicht, aber ich habe "Lust" und "Gier" mit innerem Beifall :-, gelesen.

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • "Liebhaberinnen" kenne ich nicht, aber ich habe "Lust" und "Gier" mit innerem Beifall :-, gelesen.

    Die kenne ich wiederum nicht :lol: .

    Dann warte ich Dein Urteil zur "Infantin" ab!

    :study: Percival Everett, James.

    :musik: Agatha Christie, Mord im Pfarrhaus.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).