Kurt Vonnegut Jr. - Zielwasser / Deadeye Dick

  • Der Autor (Quelle: Goldmann): Kurt Vonnegut wurde 1922 in Indianapolis geboren und studierte Biochemie und Anthropologie. Seit 1950 war er als freier Schriftsteller tätig. Weltruhm erlangte er mit seinem Antikriegsroman „Schlachthof 5 oder Der Kinderkreuzzug“ (1969). Vonneguts Werke sind durch eine „respektlose Haltung gegenüber Systemzwängen, Antimilitarismus und durch die unermüdliche Forderung nach humanitärem Verhalten gekennzeichnet.“ (Lexikon der Weltliteratur). Er starb 2007 in New York.


    Klappentext (Quelle: Goldmann): Dies ist die unglaubliche, aber wahre Geschichte von Rudy Waltz, einem grundsympathischen Menschen, der im zarten Alter von zwölf Jahren – versehentlich – einen Doppelmord begeht und dessen Heimatstadt einige Jahre später – versehentlich – von einer „befreundeten“, das heißt amerikanischen Neutronenbombe in einer Art Eigentor kurzerhand entvölkert wird. Mit „Zielwasser“ greift der amerikanische Kultautor und politische Moralist Kurt Vonnegut wieder die zentralen Themen seinen Oeuvres auf. Wie in seinen vorangegangenen großen Romanen geht es auch hier um die Sinnlosigkeit der Geschichte und des Lebens, um die fatale Rolle des Zufalls und um den „Wahnsinn“ und die Absurdität unserer Zeit. In lockerem Plauderton zeichnet er so ein tragikomisches Porträt des „Laufs der Welt“ im Allgemeinen wie unserer westlichen Zivilisation im Besonderen. Sein Fazit: „Wir leben immer noch im finsteren Mittelalter. Das dunkle Zeitalter ist noch nicht zu Ende.“


    Englische, schwedische, dänische, französische, italienische und deutsche Ausgaben:

    • Die amerikanische Originalausgabe erschien 1982 als „Deadeye Dick“ bei Delacorte Press/Seymour Lawrence in New York (240 Seiten) und 1983 im Verlag Granada Publishing in London (224 Seiten), wiederaufgelegt u.a. 2010 bei Delta Trade Paperbacks in New York (271 Seiten), 2010 bei Vintage Digital in London (224 Seiten) und 2019 bei 4th Estate in London (187 Seiten).
    • Die schwedische Übersetzung stammt von Olov Johason. Sie erschien 1982 als „Deadeye Dick“ bei Norstedt & Söners in Stockholm (204 Seiten).
    • Die dänische Übersetzung stammt von Arne Herløv Petersen. Sie erschien 1984 als „Lige i øjet“ bei Vindrose in Kopenhagen (210 Seiten).
    • Die französische Übersetzung stammt von Robert Pépin. Sie erschien 1984 unter dem Titel „Rudy Waltz“ als Nr. 62 der Reihe „Fiction et Cie“ im Verlag Éditions du Seuil in Paris (235 Seiten).
    • Die italienische Übersetzung stammt von Pier Francesco Paolini. Sie erschien 1984 unter dem Titel „Il grande tiratore“ als Nr. 162 der Reihe „Grandi tascabili Bompiani“ bei Bompiani in Mailand (209 Seiten), wiederaufgelegt u.a. 2019 bei Feltrinelli als E-Book und Taschenbuch.
    • Die deutsche Übersetzung stammt von Lutz W. Wolff. Sie erschien 1987 unter dem Titel „Zielwasser“ als Goldmann-Taschenbuch Nr. 8633 im Wilhelm Goldmann Verlag in München (221 Seiten).


    Meine Einschätzung:
    Es geht um Menschen, die sich selbst betrügen, und damit auch andere unglücklich machen. Ein Vater, Otto Waltz, der glaubt, er wäre Maler, aber nichts hinbekommt außer einem unvollendeten Akt. An der Wiener Akademie, wo er nicht angenommen wurde, traf er einen anderen erfolglosen Maler namens Adolf Hitler, für dessen politische Ansichten er bei der Rückkehr nach Amerika eine Zeitlang schwärmte, bis es in den Dreißigern ganz unmöglich wurde. Sein Sohn, Rudy Waltz, der glaubt er wäre Theaterautor, aber nur ein fürchterliches Stück geschrieben hat, in dem der Farmer Fortune aus Ohio nach Kathmandu in Nepal reist, um sein Shangri-La zu finden. Nur schafft es Rudy Waltz nicht zu vermitteln, warum der Bauer eigentlich in der Ferne sein Glück sucht. Dafür lässt er ihn vierunddreißigmal in zwei Stunden den Satz sagen: „Ich suche nach Shangri-La“. :roll: :lol:


    Es geht also auch um Menschen, die aus ihrer kleinen Heimatstadt fortgehen und in der weiten Welt, dort „wo Betrüger immer überführt werden“, mit dem Glauben an sich selbst und ihre Berufung (oder auch mit dem Wissen, das hinter dem Trugbild nichts verborgen ist) im großen Stil eine Bruchlandung erleben. In letzter Konsequenz hängt Ich-Erzähler Rudy Waltz der überzeugenden Vermutung an, dass Künstler überflüssig sind, was verkappte Künstler, quasi Hochstapler aus Verblendung wie Vater und Sohn Waltz mit ihrer Unkunst beweisen.


    Außerdem geht es darum, dass der Gedanke, sein Leben als Geschichte zu betrachten tendenziell eher für Verdruss sorgt. Manches Leben ist als Geschichte bis zu einem bestimmten Alter durchgestaltet, wo die Geschichte im Grunde endet, aber das Leben noch weitergeht wie ein langer Epilog aus Resten und Ramsch. Manche Leute leiden so sehr darunter, in einem Epilog zu leben, dass sie sich umbringen. Für viele Menschen wäre es besser, wenn an der richtigen Stelle ihrer Lebensgeschichte tatsächlich das Wort „Ende“ aufploppen würde: Meine Geschichte endete als ich den bestaussehenden und reichsten Mann der Stadt heiratete. Aber das Leben ging weiter.


    Mir gefällt übrigens das Bild sehr, das Vonnegut für das Leben von Geburt bis zum Tod benutzt: Bei der Geburt öffnen sich die Gucklöcher - für den universellen, über-menschlichen, außerkörperlichen Blick auf das menschliche Leben auf der Erde -, beim Tod schließen sich die Gucklöcher wieder. Bei aller Sinnlosigkeit und Zufälligkeit bekommt das Leben in dieser Sichtweise „durch die Hintertür“ wieder einen Sinn zugewiesen: als Beobachter, Zuhörer und Gewissens des Universums. Mehr Spiritualität wird man von dem nicht religiösen Vonnegut nicht bekommen. (Aber es scheint mir doch mehr, als man gewöhnlich in Romanen angeboten bekommt.)


    Weitere Themen sind das Dasein als geschlechtsloses, an Sexualität nicht interessiertes Neutrum, wenn man sich als Asexueller wie „aus der Herde ausgeschlossen“ fühlt (und dabei eigentlich zufriedener wirkt als vor allem alle Eheverläufe, die in dem Roman geschildert werden: Rudys Bruder Felix, der sich immer wieder mit seinen Ehefrauen aufs Blut entzweit, oder Celia, das schönste Mädchen der High School, das später niemals als vollwertiger Mensch gesehen wurde, nie aufblühen konnte und sich dann mit Drano-Abflussreiniger selbst tötete), sowie die Auswirkungen einer Neutronenbombe auf eine amerikanische Provinzstadt: die Häuser und Straßen sind entvölkert und man merkt, dass sich vom gefühlsmäßigen Eindruck durch das Fehlen der Menschen eigentlich nichts verändert hat. Es war schon vorher fade. :wink:


    Schließlich geht es um Schuld und Zufall. Der Vater, der seinem Sohn zu früh den Schlüssel zur Waffenkammer überließ, und mit großer Geste sämtliche Schuld an dem tödlichen Unfall auf sich nimmt, den sein zwölfjähriger Sohn dank einer verirrten Pistolenkugel verursachte. Es wirkt, als wollte der Vater, der selbst nichts gebacken bekommt, sich zur Hauptfigur einer fremden Geschichte machen, sich eine Bedeutung als „Verbrecher“ zuschustern, die er mit seiner Berufung als Maler, so schlecht wie er ist, niemals erlangen würde. Und dann scheint es kaum verwerflich, dass er in der Folge so tief fällt, wie er es tut: Nicht wegen seiner Schuld, sondern wegen seiner Anmaßung, sich wichtig in den Vordergrund zu spielen, als wäre durch die Zurschaustellung von Zerknirschtheit die Schuld schon getilgt. Ein "Idiot sauvant", jemand der nur in einer Sache Großes zu leisten vermag, ansonsten aber nichts taugt - und dann stellt man leider fest: Auch seine Inselbegabung führt zu nichts! :P


    Das zufällige Versehen des Sohnes, das zu zweifachem Tode führte, wird später dem zufälligen Versehen einer unbeabsichtigt detonierten Neutronenbombe (wahrscheinlich wegen Produktionsmängeln) gegenübergestellt: Wo der minderjährige Sportschütze von Polizisten und Bevölkerung an den Pranger gestellt, fern jeder Strafverfolgung erniedrigt, beleidigt und mit dem Tod bedrohte – jeder würde es doch verstehen, wenn er entweder „die Treppe hinuntergestürzt wäre, oder schlichtweg in der Nacht gelyncht worden wäre, oder?! – bleibt das Vergehen, den hunderttausend Bewohner eine US-Provinzstadt die Gucklöcher für immer geschlossen zu haben, ungesühnt. Selbst im Zufälligen meldet sich die Moral der Menschen, die mit zweierlei Maß misst: das individuelle Vergehen erscheint verwerflicher als das staatliche. So ergibt das Fazit des Romans seinen Sinn: „Wir leben immer noch im finsteren Mittelalter. Das dunkle Zeitalter ist noch nicht zu Ende.“


    Ein unglaublich offener und bei allem Schrecken heiterer Roman, der einem die Beschwernisse des menschlichen Daseins in all seiner Widersprüchlichkeit mit leichter Hand, überraschend und abwechslungsreich (weil vielfältig in den Themen) serviert. Vonnegut drückt das aus, was Paul Auster gerne zum Ausdruck brächte. :-, Eine ähnliche Art, die Sinnlosigkeit des Lebens auf so groteske wie liebevolle Weise spitz und spöttisch, aber im Herzen humanistisch und mit trotzigem Mut zu zeigen, fand ich auch in manchen der guten Romane von John Irving.


    "Zielwasser" (ein sinnloser deutscher Titel) gefällt mir besser als Vonneguts bekannterer und geschätzterer Vorläufer-Roman "Frühstück für starke Männer", der ein ähnliches Personal an gleichem Schauplatz aufeinander hetzt: Fast ganz ohne metatextuelle Verrenkungen brachte "Zielwasser" viel mehr bei mir zum Klingen! Mindestens viereinhalb :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertungHalb: Sterne. :love:

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    Bei Amazon wird man nicht fündig, aber das Cover der E-Book-Ausgabe bei Gyldendal von 2017 findet sich beim dänischen Online-Buchhändler Saxo.

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