John Barth - Die schwimmende Oper / The Floating Opera

  • Klappentext (Quelle: BvT): Am Morgen des 21. Juni 1937 beschließt Todd Andrews, bester Anwalt an der Küste von Maryland und exzentrischer Bürger seiner Heimatstadt Cambridge, sich das Leben zu nehmen. Aus ethischen Gründen möchte er seinen letzten Tag so normal wie möglich verbringen, z.B. noch eben den Millionenprozess zu einem guten Abschluss bringen. Doch als Andrews sein Leben Revue passieren lässt, wird deutlich, dass sein Leben alles andere als normal war... Schließlich kommt es zu einem überraschenden Showdown auf einem Schiff im Hafen von Cambridge, der Name des Showboats: Die schwimmende Oper.


    Englische, deutsche, französische und italienische Ausgaben:

    • Die amerikanische Originalausgabe erschien 1956 unter dem Titel „The Floating Opera“ bei Appleton-Century-Crofts in New York (280 Seiten). 1967 wurde eine merklich revidierte Fassung bei Doubleday Co. in Garden City/NY veröffentlicht (252 Seiten), die u.a. das ursprüngliche Ende wiederherstellte, wiederaufgelegt u.a. 2015 in der Reihe „American Literature Series“ mit einem Nachwort von Charles B. Harris im Verlag Dalkey Archive Press in Victoria/TX (269 Seiten).
      Der Roman wird oft in einer Doppelausgabe in einem Band zusammen mit Barths zweitem Roman „The End of the Road“ (dt. Tage ohne Wetter) veröffentlicht, wie um dem komödiantischen Ansatz des Debüts noch das tragische Gegenstück des Nachfolgeromans beizugeben, u.a. 1997 bei Anchor Books (464 Seiten).
    • Die deutsche Übersetzung aus dem Amerikanischen, die auf der reividierten Originalfassung basiert, stammt von Matthias Müller. Sie erschien 2001 unter dem Titel „Die schwimmende Oper“ in der Verlagsbuchhandlung Liebeskind in München. Im Januar 2005 erschien eine Taschenbuchausgabe im BvT Berliner Taschenbuch Verlag, Berlin (364 Seiten).
    • Die französische Übersetzung von Henri Robillot erschien 1968 als „L'opéra flottant“ bei Gallimard in Paris (289 Seiten), wiederaufgelegt u.a. 1997 in der Reihe „L'Étrangère“ bei Gallimard in Paris (348 Seiten).
    • Die italienische Übersetzung von Henry Furst und Martina Testa erschien 2003 als „L'opera galleggiante“ als Nr. 1 der Reihe „Minimum classics“ bei Minimum Fax in Rom (329 Seiten).


    Inhalt:

    Zuerst mein Klavier gestimmt (11 Seiten)

    Der Dorchester Entdecker-Klub (14 Seiten)

    Koitus (35 Seiten)

    Das Geständnis des Captain (8 Seiten)

    Eine raison de cœur (4 Seiten)

    Geschlagene Maryland-Kekse (7 Seiten)

    Meine unvollendeten Boote (20 Seiten)

    Eine Bemerkung, eine Warnung (2 Seiten)

    Der Handzettel (15 Seiten)

    Das Gesetz (36 Seiten)

    Eine lehrreiche, wenn auch spitzfindige Bemerkung (4 Seiten)

    Ein Austernchor (7 Seiten)

    Dem Leben einen Spiegel vorgehalten (12 Seiten)

    Flaschen, Nadeln, Messer (24 Seiten)

    Dieses schiefe Lächeln (4 Seiten)

    Das Mittagessen des Richters (10 Seiten)

    Das Ende des Überblicks (14 Seiten)

    Eine Frage von Leben und Tod (12 Seiten)

    Eine Prämisse zum Schlucken (3 Seiten)

    Dampforgelmusik (15 Seiten)

    Eulen nach Athen (20 Seiten)

    Ein Rundgang durch die Oper (12 Seiten)

    Bis dann, bis dann (15 Seiten)

    Drei Millionen Dollar (4 Seiten)

    Die Untersuchung (17 Seiten)

    Der erste Schritt (2 Seiten)

    Die schwimmende Oper (22 Seiten)

    Eine Parenthese (6 Seiten)

    Die schwimmende Oper (2 Seiten)


    Meine Einschätzung:
    John Barth bringt in Nebensätzen überraschende Gedanken und tiefsinnige Analysen aufs Papier, die andere mühsam kapitelweise entwickeln oder stolz darauf sind, ihren ganzen Roman auf einer solchen Erkenntnis enden zu lassen. Mit welcher Selbstverständlichkeit Tiefsinn in den launigen Plauderton hineinplatzt, finde ich ganz großartig. Wenn sich hier der zaghafte Beginn der literarischen Postmoderne abzeichnet, weiß ich nicht, warum sie allgemein in so schlechtem Ruf steht: "Die schwimmende Oper" ist unglaublich unterhaltsam und von trockener Komik. Ein ausschweifender Ich-Erzähler, aber ohne besonders stolz auf seine Abschweifungen zu sein, der einfach seine Geschichte erzählt. Er ist der Kern der Geschichte, so dass man im Grunde noch nicht einmal von Abschweifungen sprechen sollte. Nichts wird überbeschrieben, sondern kurz, aber prägnant angerissen. Der Ich-Erzähler bittet seine Leser sogar, aus seinen eigenen Handlungen keine ethischen Empfehlungen abzulesen. Was er bzw. was man so tut, ist eben doch von extremer Inkonsequenz geprägt, nicht einfach nur Ausdruck einer Idee. Der Erzähler nimmt seinen Leser wirklich an der Hand, spricht ihn an, entschuldigt sich, weißt auf wichtige Punkte gesondert hin: nichts wird verborgen, nichts wird verrätselt. Es ist ein sehr zuverlässiger Erzähler!
    Der erfolgreiche Anwalt Todd Andrews beschließt am Morgen eines schönen Junitages des Jahres 1937, an diesem Abend noch aus dem Leben zu scheiden. Nicht aus Trauer oder Weltekel, sondern aus ... Zufriedenheit mit dem Dasein, das nicht mehr besser werden kann? Aus Gelassenheit?? Um dem Tod durch eine diagnostizierte Herzkrankheit zuvorzukommen?!? Das sollte jeder Leser selbst erkunden. Seinen letzten Tag will Todd so normal wie möglich begehen. Und die Erledigungen dieses Tages beschreibt John Barth, woran etliche Rückblicke und Lebenserinnerungen verbunden sind, die auf Todds Selbstmordabsicht hinauslaufen: eine große Untersuchung des Selbstmordgedankens – welche Aspekte sprechen für das Leben, welche für den Tod? Und diese (im Grunde endlose) Untersuchung schmiegt sich an eine größere Untersuchung an, mit der Todd versucht, den Selbstmord seines Vater zu verstehen. Die Weigerung diesen zu akzeptieren wird in Verbindung gesetzt mit der Beziehung zwischen Vater und Sohn, was im Grunde auf die Erkenntnis ihrer mangelhaften Kommunikation hinausläuft. Tatsächlich scheint Todds Erkenntnissuche (einerseits eine „Untersuchung des Todes“, andererseits eine „Untersuchung des Lebens“) am Ende des Romans abgeschlossen zu sein und Antworten zu liefern, auch wenn es Antworten sind, die man nicht völlig versteht.

    Todd wagt einen feuergefährlichen frevelhaften Schritt, der allerdings durch ungeklärte Zufälle scheitert. Am Ende scheint keine Seite überzeugendere Argumente aufzuweisen: Todd erkennt, dass nichts einen Wert aus sich heraus hat. Dass alle Gründe, die Menschen dazu führen, Dingen einen Wert beizumessen, immer irrational sind. Und dass deswegen auch nichts ein Wert zugemessen werden sollte. Wenn Leben Handeln meint, es aber eigentlich keinen Grund für das Handeln gibt, scheint es keinen Grund zum Weiterleben zu geben. Damit ist Todds Untersuchung zunächst beendet, bis sich seine Meinung ändert: Sein größter Zuspruch für das Weiterleben, dessen Todd nach dieser nihilistischen Erkenntnis fähig ist, ist das Anfügen einer Zusatzes in Klammern: Es gibt keinen eigentlich Grund weiterzuleben (oder sich umzubringen).


    „Die schwimmende Oper“ erscheint mir tatsächlich ein wenig wie die Komödienfassung von Albert Camus' „Mythos des Sisyphos“: Der Mensch, der den Lebenssinn sucht, obwohl er die Sinnwidrigkeit der Welt erkannt und angenommen hat. Der Befreiungsversuch aus diesem absurden Dilemma, den Todd mit einem absurden Paukenschlag versucht, misslingt zwar, woraus jedoch umgehend eine neue Sicherheit erwächst. Scheitern oder Gelingen ist alles keine Frage von Gut oder Böse. Die Frage nach Sein oder Nichtsein erscheint bedeutungslos. Der Roman endet auf der überwältigenden Erkenntnis, dass letztlich nichts wichtig ist. Eine tragfähige Grundlage zum Weiterleben.


    John Barth wird im Klappentext auf eine Stufe mit Thomas Pynchon als wichtige Stimme der amerikanischen Literatur des 20. Jahrhunderts gestellt. Aber kein Wunder, dass er hierzulande kaum bekannt ist, weil seine metatextuellen Hauptwerke fast durchgängig nicht ins Deutsche übersetzt wurden! In Übersetzungen finden sich nur seine vergleichsweise „zahmen“ Frühwerke „Die schwimmende Oper“ und „Tage ohne Wetter“ sowie sein dritter Roman „Der Tabakshändler“, bei dem Barth die metatextuelle Schraube schon angezogen haben soll. Aber wo sind die deutschen Übersetzungen von "Giles Goat-Boy", "Lost in the Funhouse", "Chimera", "Letters", „The Tidewater Tales“ oder „The Last Voyage of Somebody the Sailor"? Wirklich schade, dass Barth im Vergleich zu Pynchon so völlig in die Unbekanntheit abgerutscht ist. Verglichen mit Pynchon ist er obendrein unglaublich launig im Tonfall, eingängig geschrieben, weil eben ein großer Erzählfluss vor dem Leser ausgebreitet wird, und überdies verdammt komisch, nicht laut-lach-lustig-komisch, sondern elegant verschmitzt komisch. (Obwohl Pynchon im Grunde ja auch ein Spaßvogel ist, man merkt es nur nicht immer gleich, etwa bei den "Enden der Parabel".)


    „Die schwimmende Oper“ ist eine mit leichter Hand erzählte detailliert und tiefgründig erschlossene Wesensbestimmung des Menschen, äußerst clever, sprachbewusst und witzig erzählt von dem damals erst 24-jährigen Barth. Das Bild eines Theaterschiffes, dessen Bühnenprogramm permanent aufgeführt wird, während es einen Fluss auf- und abfährt, das Publikum schaut vom Ufer zu, manches erscheint ihm zunächst unverständlich, aber dann wartet man einfach so lange, bis das Schiff wieder vorbeifährt, auf dass man sich nach und nach die Lücken der Aufführung erschließen kann, ist ein schönes Sinnbild für das Leben.

    Aber der Roman liefert noch viel mehr eindrückliche Szenen: Todds Erinnerung an seinen Fronteinsatz im Ersten Weltkrieg liefert eine der unglaublichsten und mich völlig umwerfenden Romanstellen meines ganzen Lesejahres: Erst erfährt Todd eine völlig animalische Angst, die von seinem Körper Besitz ergreift, danach begegnet er in den Granatentrichtern und Schützengräben einem deutschen Hauptmann, der von dieser extremen Grenzerfahrung der Gräuel des Krieges ebenso in Panik geraten ist wie Todd - worauf sie sich in den Armen liegen, einander streicheln, küssen. Ein inniger Moment des Menschseins, der nichts mit Homosexualität zu tun hat (und obendrein absolut erschreckend endet).

    "Die schwimmende Oper" ist angefüllt mit waghalsigen Momente der völligen literarischen Großartigkeit! Überraschend, engagiert, eloquent, philosophisch, konsequent durchdacht und subversiv: ein sanftmütiges Ungeheuer von Buch! :applause:

    White "Die Erkundung von Selborne" (103/397)

    Everett "God's Country" (126/223)


    :king: Jahresbeste: Gray (2024), Brookner (2023), Mizielińsky (2022), Lorenzen (2021), Jansson (2020), Lieberman (2019), Ferris (2018), Cather (2017), Tomine (2016), Raymond (2015)

    :study: Gelesen: 55 (2024), 138 (2023), 157 (2022), 185 (2021), 161 (2020), 127 (2019), 145 (2018), 119 (2017), 180 (2016), 156 (2015)70/365)
    O:-) Letzter Kauf: Martinson "Schwärmer und Schnaken" (15.04.)

  • Die amerikanische Originalausgabe erschien 1956 unter dem Titel „The Floating Opera“ bei Appleton-Century-Crofts in New York (280 Seiten). 1967 wurde eine merklich revidierte Fassung bei Doubleday Co. in Garden City/NY veröffentlicht (252 Seiten), die u.a. das ursprüngliche Ende wiederherstellte, wiederaufgelegt u.a. 2015 in der Reihe „American Literature Series“ mit einem Nachwort von Charles B. Harris im Verlag Dalkey Archive Press in Victoria/TX (269 Seiten).

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