Otto Borst - Alltagsleben im Mittelalter

  • Zitat

    Du nennest Riter, was ist daz?

    Diese Frage des Parzival von Wolfram von Eschenbach beantwortet Borst mit seinem detaillierten und sehr genauen Bericht ebenso, wie die Frage nach dem Alltag der Köhler, Bauern, Kaufleute oder der Handwerker in den mittelalterlichen Städten.

    Hier geht es nicht um eine wissenschaftliche Analyse, sondern um ein Bild der Buntheit, Vielfalt und Lebensfreude, wie auch dem Elend, der Entwurzelung und der kaum noch vorstellbaren Rechtlosigkeit einzelner Gruppen von Menschen.

    Das Mittelalter hat nicht zuletzt durch die unermüdliche Arbeit vor allem der französischen Historiker der Annales - Schule, einen ungeahnten Boom erlebt in den letzten Jahrzehnten.

    Vor allem junge Menschen beleben eine Szene, die sich mit allen Erscheinungsfornen mittelalterlichen Lebens auseinandersetzt.

    Musik, Kleidung, Literatur, Mystik, Bewaffnung oder Architektur, alles wird aufgenommen und beleuchtet.

    Das "finstere Mittelalter" war nicht finsterer als die Neuzeit und oftmals weit weniger barbarisch.

    Mit Romantik hatte das alles aber wenig zu tun. Das Alltagsleben war hart, gefährlich und unsicher für die grosse Masse der Menschen. Bildung, Reisefreiheit, Gleichberechtigung oder überhaupt Rechte besass nur ein geringer Teil der Bevölkerung Europas zwischen den Jahren 500 und 1500.

    Aber wie war das Weltbild der Menschen?

    Eingebettet in eine heute kaum noch vorstellbare Gläubigkeit und einheitliche Form der Gottesbetrachtung, war die Kirche der grosse Identifikationspunkt aller Gruppen der Gesellschaft. Sie alleine besass die Deutungshoheit der heiligen Schrift, die Bildungsmöglichkeiten und eventuelle Chancen zum Aufstieg für Viele. Die römisch - katholische Kirche sammelte die gesellschaftliche Elite um sich, die Avantgarde der Bildung und Wissenschaft, was ihr zu enormem Einfluss auf alle Lebensbereiche verhalf.

    Dem gegenüber verhielten sich die Stände, die Adeligen, Bürger und Bauern nahezu klandestin.


    Wie eine Burg im Mittelalter funktionierte, wie ein grosses Bauerngehöft nämlich, wie es in einer grossen Stadt wie Nürnberg oder Augsburg zuging, wie die Lehensordnung und Leibeigenschaft der bäuerlichen Bevölkerung von Gau zu Gau verschieden war, stellt Borst sehr gut heraus und bringt auch alle wichtigen Quellen, soweit erkennbar.


    Fazit:

    Eine akribische, detaillierte Arbeit, bis zur Gefahr, ins Beliebige abzudriften. Borst macht eine weitausgelegte Reise mit seinen Lesern, kaum eine Lebensform bleibt unberücksichtigt.

    Gewonnen hätte das Ganze noch durch eine abschließende phänomenologische Einordnung in den Kontext der europäischen Sozial und Wirtschaftsgeschichte.

    Aber durch seine bunte Vielfalt, seine klare und unprätentiöse Sprache und die durchaus humorvolle Betrachtung mancher Einzelphänomene, ist ein sehr lesenswertes Buch dabei herausgekommen für alle Freunde des Mittelalters und seiner Erscheinungsformen.

    Ich selbst habe in früheren Seminaren interessierten jungen Leuten die Lebensformen des Mittelalters näherbringen dürfen, was viel Freude bereitet hat und weiss daher, wie gerne eine solche Möglichkeit auch von fachfremden Hörern genutzt wird. Daher ist dieses Buch denjenigen durchaus zu empfehlen, die einfach einmal " hineinschnuppern " möchten in die Welt des mittelalterlichen Menschen.

    In Anbetracht des komplexen Themas und unter Berücksichtigung der erwähnten leichten Schwächen in der konsequenten Durchführung der Kerngedanken, gebe ich dennoch gute vier Sterne. :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5:



    Otto Borst (1925 - 2007) ( Nicht zu verwechseln mit dem Mediävisten Arno Borst), war ein deutscher Philologe und Mediävist. Er habilitierte über den Ursprung der europäischen Sprachen in Erlangen und wechselte später nach Konstanz, wo er mittlere und neue Geschichte lehrte.

    Hohes fachliches Ansehen erwarb er sich mit seinen Arbeiten zu den Grundlagen der Ideengeschichte Europas.