Christoph Ransmayr - Die Schrecken des Eises und der Finsternis (ab 09.04.2021)

  • Dann hoff ich mal, dass auch Mojoh aufgeschlossen hat und versuche mich mal an dem doch komplexen Kapitel 13. Hier hat Ransmayr ja einiges zusammengepackt.

    Ich bin da und werde mich gerne heute auf den Weg in Kapitel 13 begeben. :wink:

    Das Pensum ist für mich auch in Ordnung.

    "Imagination, rather than mere intelligence, is the truly human quality."


    "Chaos is found in greatest abundance wherever order is being sought. It always defeats order, because it is better organized."

    Terry Pratchett

    "The person, be it gentleman or lady, who has not pleasure in a good novel, must be intolerably stupid."

    Jane Austen


    :study:

    Alex Haley - Roots

    Andrew Jefford - Whisky Island

    Randale Munroe - What if 2


    :bewertung1von5: 2024: 5 :bewertung1von5:

  • zu Kapitel 13


    Was mir zum einen direkt aufgefallen ist, ist der Unterschied zwischen damals und heute. Waren die Seeleute vor 100 Jahren doch weitgehendst der Natur ausgeliefert, die sie versuchen mussten zu beherrschen, so beherrscht heute die Technik einen guten Teil der Natur.

    Das alles machte den Eindruck einer eher langweiligen Touristenfahrt mit ein paar

    Forschern. Der eklatante Unterschied zwischen der alten Expedition und diesem

    ereignislosen Trip wird in jeder Zeile deutlich. Da ist kein Abenteuer mehr, kein

    Aufbäumen gegen eine unbarmherzige Natur. Und mitttendrin Manzini der sich

    seinen Träumen hingibt und nicht bemerkt, dass er aus der Zeit gefallen ist.

    Er ist mühsam geduldeter Gast an Bord, der ab und an mal mitgenommen wird. Er erlebt eine Feier noch auf Spitzbergen, die nichts gemein hat mit den Feiern in Tromsö, macht ein paar Beobachtungen vom Eismeer und darf eine Insel betreten. Aber das hat nichts mit der Realität vor 100 Jahren zu tun. Aber ich hatte beim Lesen nicht den Eindruck, dass Mazzini das so empfindet.

    Ich empfinde Mazzini mittlerweile schon als eher tragikomische Figur. So wirklich ernst

    nimmt ihn niemand mehr. Selbst Frayand betrachtet uhn eher spöttisch. Da bleibt ihm

    wieder nur der Rückzug, dass Verschwinden in seinem Traum vom großen Abenteuer..

    Tja, die Polarnacht existiert immer noch. Aber sie wird ganz anders wahrgenommen und beschrieben. Sie ist sozusagen "beiläufig" geworden...

    Ja, das ist nichts mehr übrig von der Faszination und der Ehrfurcht die die alten Forscher

    noch empfanden. Die Polarnacht existiert, ist aber nur Beiwerk, kaum beachtet.

    Empfindet Mazzini diese Entzauberung? Ist seine einzig verbleibende Möglichkeit das

    endgültige Verschwinden, die Auflösung in diesem alten Abenteurertraum, an dem er

    trotz allem noch festhält?

    Wir sind der Stoff aus dem die Träume sind und unser kleines Leben umfasst ein Schlaf.

    William Shakespeare


    :study: Robert Seethaler - Das Cafe ohne Namen

  • Das alles machte den Eindruck einer eher langweiligen Touristenfahrt mit ein paar

    Forschern.

    die sich auch noch zanken wie kleine Kinder um den Sandeimer :loool:

    Da ist kein Abenteuer mehr, kein

    Aufbäumen gegen eine unbarmherzige Natur. Und mitttendrin Manzini der sich

    seinen Träumen hingibt und nicht bemerkt, dass er aus der Zeit gefallen ist.

    Nein, das Abenteuer ist aus dieser Welt entschwunden. Das aus-der-Zeit-gefallen ist ein guter Ausdruck für Mazzini - er ist nicht nur schlicht geduldet, er ist irgendwie gar nicht da. Ein Geist könnte nicht unsichtbarer sein.

    Ich empfinde Mazzini mittlerweile schon als eher tragikomische Figur. So wirklich ernst

    nimmt ihn niemand mehr. Selbst Frayand betrachtet uhn eher spöttisch.

    Ich stimm Dir zu in Bezug auf tragikomische Figur. Aber hattest Du irgendwo in der Geschichte mal das Gefühl, das jemand Mazzini ernst nimmt? Nicht mal beim Erzähler hatte ich diesen Eindruck und schon gar nicht bei den Personen, die real im Norden leben, also Fyrand (der am allerwenigsten) oder der Institutsleiter in Oslo oder die Mannschaft. Die halten ihn doch nur für einen Spinner, hab ich das Gefühl.

    Ja, das ist nichts mehr übrig von der Faszination und der Ehrfurcht die die alten Forscher

    noch empfanden. Die Polarnacht existiert, ist aber nur Beiwerk, kaum beachtet.

    Empfindet Mazzini diese Entzauberung?

    Naja, die Polarnacht in ihrer Bedrückung erlebt er ja nicht, er ist im Sommer beim ewigen Licht in der Arktis. Aber die technische Entzauberung scheint er für mich nicht wahrzunehmen, denn sobald sie ihm zu nahe tritt flüchtet er sich ja wieder in seine Scheinwelt, in die Bücher und alten Geschichten.

    viele Grüße vom Squirrel



    :study: Kai Seyfarth - Entscheidung in Aleppo: Walter Rößler, Helfer der verfolgten Armenier


  • Ich bin jetzt nicht mehr so tief in der Materie, aber mein Eindruck war, das die Tegethoff noch an der Natur gescheitert ist, während Mazzini an künstlicher, menschgemachter (auch seiner eigenen) Bürokratie scheitert.

    Veritas temporis filia - Die Wahrheit, Tochter der Zeit (Aulus Gellius)
    :study: Daniel Kehlmann - Lichtspiel :musik:


  • Ich stimm Dir zu in Bezug auf tragikomische Figur. Aber hattest Du irgendwo in der Geschichte mal das Gefühl, das jemand Mazzini ernst nimmt?

    Aber wirkt das dann nicht unglaubwürdig? Die Tatsache, dass er so gar nicht bemerkt das

    niemand ihn für voll nimmt, irritiert mich. Das müsste doch selbst ihm auffallen. Oder hat

    er es bemerkt und bereitet tatsächlich sein Verschwinden aus der Welt vor? Ist es möglich

    sich so vollends von jeglicher Realität zu entfernen. Blockt er das alles ab, weil es sein Lebens-

    werk in Frage stellen würde? Für was steht Mazzini in dieser Geschichte? Für ein Relikt aus

    alter längst vergangener Zeit, für die sich kaum noch jemand interessiert?


    Seine Reise hat er ja eigentlich recht pragmatisch vorbereitet. Ist es doch eine bewusste

    Reise in den sicheren Tod, weil er doch weiß, das er "aus der Zeit gefallen ist" ?

    Offen gesagt, komme ich mit dieser Figur nicht so richtig klar.

    Wir sind der Stoff aus dem die Träume sind und unser kleines Leben umfasst ein Schlaf.

    William Shakespeare


    :study: Robert Seethaler - Das Cafe ohne Namen

  • Die Tatsache, dass er so gar nicht bemerkt das niemand ihn für voll nimmt, irritiert mich.

    Da ich solche Menschen tatsächlich schon in der Realität erleben durfte, ist es für mich zumindest keine irreale Darstellung.

    Um es mal genauer zu definieren: in Wien in der Runde der Buchhändlerin war er vielleicht lediglich ein Außenseiter, aber prinzipiell akzeptiert in der Runde. Aber mit Beginn seiner Reiseplanung, so akribisch er dies auch tat, hatte ich nicht mehr das Gefühl, dass seine Mitmenschen ihn ernst nehmen. Hätte er lediglich einen Urlaub geplant um die Gegend kennenzulernen, wäre das noch anders gewesen. Aber da er sich quasi auf Expeditionswege begeben will, sinkt doch die Akzeptanz - zumindest nach meinem Empfinden. Aber eventuell ist das auch nur mein Empfinden.

    Für was steht Mazzini in dieser Geschichte?

    Diese Frage kann ich mir auch noch nicht beantworten, ich hab genauso viele Fragen dazu wie Du auch.

    viele Grüße vom Squirrel



    :study: Kai Seyfarth - Entscheidung in Aleppo: Walter Rößler, Helfer der verfolgten Armenier


  • Kapitel 13

    Ich bin eigentlich nur noch von Mazzini genervt. So toll und gekonnt Ransmayr aus der 10. unterschiedlichen Perspektive, mit dem 20. verschiedenen Bild, in Wechselwirkung mit dem 30. abstrusen Charakter versucht, mir Mazzini als Getriebenen, als im Wahn verlorenen Charakter, als tragischen Antihelden schriftstellerisch auch schildert - langsam ist er auserzählt. Umso mehr, als wir ja noch nicht einmal gespannt sein können, wie es mit ihm endet, selbst das wissen wir bereits.

    Er ist schon faszinierend angelegt, aber manchmal erwische ich mich bei der Vermutung, dass es Ransmayr nicht genügt hat, einfach nur die abenteurliche Geschichte der Tegethoff um Payer und Weyprecht zu erzählen.

    Das macht er im grandiosen Wechsel zwischen Otönen der Teilnehmer, das wirft er auf die Leinwand Mazzini, durch dessen Augen wir ebenfalls Teile der historischen Reise erleben und durch seine eigenen weunderbaren Beschreibungen.

    Aber Mazzini nimmt mir zuviel Raum ein, dient er meiner Meinung doch nur als Kontrapunkt und das tut er zunehmend zuviel.

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  • Kapitel 13

    Da bei den Beträgen Mazzini einen grossen Raum einnimmt - wie Mojoh erwähnt "für ihn zuviel" möchte ich doch etwas auf dessen Person eingehen

    Nochmals Mojoh -"er dient doch nur als Kontrapunkt "- ich möchte das nur entfernen und schon hat der Satz eine andere Bedeutung. Denn genau das ist doch die Absicht von Ransmayr, es reicht ihm nicht, einfach die Geschichte der Tegetthoff zu erzählen -welche allenfalls ein Reisebericht gewesen wäre. Nur diese lesend welche doch relativ nüchtern und sachlich erzählt wird (ich weiss man kann auch bei der Darstellung der Reise der Tegentthoff indem man den Worten des Autors eine bedeutsamere Bedeutung zuspricht - einen tieferen Sinn dahinter sehen) - bleibt es doch nur eine Erzählung einer Expedition.


    Für was steht Mazzini in dieser Geschichte?

    Mit Mazzini hat der Autor eine Figur geschaffen welches für viele stehen kann - Abenteuerlust - Phantasie - Träume - Verwirklichung - Flucht - Verblendung und Vergänglichkeit


    Was ebenso ein Aspekt ist. Es gibt Polarforscher wie Payer - Weyprecht - Amundsen - Scott welche der Nachwelt in Erinnerungen bleiben, welche geehrt und bejubelt wurden für ihren Taten, welche in der Geschichtsschreibung präsent sind. Mazzini steht für all die vielen welche einfach „verschwunden“ sind - niemand erinnert sich mehr an sie - sie sind „vergangen“


    Zitat

    Kapitel eins

    Mir war die Tatsache oft unheimlich, dass sich Anfang, auch das Ende jeder Geschichte, die man nur lange genug verfolgt, irgendwann in der Weitläufigkeit der Zeit verliert.


    Ich empfinde Mazzini mittlerweile schon als eher tragikomische Figur. So wirklich ernst

    nimmt ihn niemand mehr. Selbst Frayand betrachtet uhn eher spöttisch. Da bleibt ihm

    wieder nur der Rückzug, dass Verschwinden in seinem Traum vom großen Abenteuer..

    Mazzini wurde doch schon immer belächelt - daran hat sich nichts geändert. Allerdings frage ich mich, wieso eigentlich - denken wir doch einmal etwas weiter, all die grossen Erfinder - die grossen Denker denen der Welt grossartige Dienst geleistet haben wurden oftmals belächelt, ja man nahm sie nicht ernst.


    Gut Mazzini können wir nicht in die Reihe dieser Frauen und Männer stellen.


    Akzeptieren wir Mazzini als das was er ist, ein Phantast, einer welche versucht etwas zu wiederholen was sich nicht wiederholen lässt.


    Somit hat der Autor bewusst eine Figur wie Mazzini welche so viele verschiedene Empfindungen beim Leser auslöst mit der Geschichte der Polarexpedition verwoben.

    Gebt gerne das, was ihr gerne hättet: Höflichkeit, Freundlichkeit, Respekt. Wenn das alle tun würden, hätten wir alle zusammen ein bedeutend besseres Miteinander.

    Horst Lichter

  • Denn genau das ist doch die Absicht von Ransmayr, es reicht ihm nicht, einfach die Geschichte der Tegetthoff zu erzählen -welche allenfalls ein Reisebericht gewesen wäre. Nur diese lesend welche doch relativ nüchtern und sachlich erzählt wird (ich weiss man kann auch bei der Darstellung der Reise der Tegentthoff indem man den Worten des Autors eine bedeutsamere Bedeutung zuspricht - einen tieferen Sinn dahinter sehen) - bleibt es doch nur eine Erzählung einer Expedition.

    Das Empfinden habe ich ja auch, und zwar mehrfach und zunehmend zu sehr mit dem Holzhammer. Wo ich anfangs noch dachte, sie mal an, was sich am Bild und Beispiel des Mazzini alles verdeutlichen lässt und wie fein die Verknüpfungen und Verwebungen mit der historischen Expedition sind, so sehr drängt sich Mazzini was die Erzählung angeht in den Vordergrund - paradoxerweise obwohl ich das Gefühl des Verschwindens auch gut nachfühlen kann. Aber er verschwindet zu tragisch und zu offensichtlich und plakativ. Ich weiß nicht, ob ich deutlich machen kann, was mich an seiner Theatralik stört.


    Aber vielleicht ist es das Wörtchen "nur", welches du vor dem Kontrapunkt enfernt hast und vor deinen Satz "... bleibt es doch nur eine Erzählung einer Expedition." Ich glaube das zeigt ein wenig unsere unterschiedliche Lesart des Buches, den Fokus, den wir jeweils lieber haben und anders setzen.

    Vielleicht hätte ich gerne die Erzählung einer spannenden Expedition mit den schriftstellerischen Mitteln Ransmayrs, seinen Bildern, Vergleichen, historischen Einbettungen anderer Expeditionen und dem "Nur"- Kontrapunkt Mazzini gelesen, möglicherweise hätte mir das gereicht.

    Und für dich, serjena ist das "nur" die Erzählung und der Rahmen, an dem sich der Kontrapunkt Mazzini abarbeitet.


    Akzeptieren wir Mazzini als das was er ist, ein Phantast, einer welche versucht etwas zu wiederholen was sich nicht wiederholen lässt.

    Als genau das habe ich ihn akzeptiert, aber als genau der nimmt er mir zu viel Platz ein. Weil genau das haut der Autor mir in jedem Mazzini-Kapitel mehrfach und zu aufdringlich um die Ohren.

    "Imagination, rather than mere intelligence, is the truly human quality."


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    :bewertung1von5: 2024: 5 :bewertung1von5:

  • Und für dich, serjena ist das "nur" die Erzählung und der Rahmen, an dem sich der Kontrapunkt Mazzini abarbeit

    Das macht es doch spannend, diese unterschiedlichen Arten des Lesen. Ich finde die Figur Mazzini mit all seinen Facetten spannend, möchte ihn nicht missen.

    Natürlich mag ich die Geschichte der Tegetthoff und der Mannschaft wie sie Ransmayr erzählt, genau so gerne lese ich die Aufzeichnungen von Julius Payer welche ganz sicher subjektiv, allerdings ebenso spannend sind.

    Übrigens stimmt ich wollte eigentlich das „nur“ hervorheben, wie ich das „nur“ bei deinen Bemerkungen entfernt habe.

    Gebt gerne das, was ihr gerne hättet: Höflichkeit, Freundlichkeit, Respekt. Wenn das alle tun würden, hätten wir alle zusammen ein bedeutend besseres Miteinander.

    Horst Lichter

  • Das macht es doch spannend, diese unterschiedlichen Arten des Lesen. Ich finde die Figur Mazzini mit all seinen Facetten spannend, möchte ihn nicht missen.

    Da stimme ich dir absolut zu. Ich finde es immer wieder spannend, wie unterschiedlich man ein und dasselbe Buch lesen und auch mit seinen eigenen Schablonen bewerten kann. Wobei es in unserem Fall ja nur Nuancen sind - missen möchte ich Mazzini auch auf keinen Fall und die Erzählung, die ich so grandios finde, magst du ja ebenfalls. Wir legen halt nur unterschiedliche Schwerpunkte, wobei deiner mehr bei der Absicht und Erzählweise des Autors ist als meiner.


    Ich glaube wir sind uns einig, dass es ein tolles Buch ist und obwohl mir die Figur des Mazzini auf den Nerv geht, mag ich doch in weiten Teilen Ransmayrs grundlegeneden Stil recht gerne.

    "Imagination, rather than mere intelligence, is the truly human quality."


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    Terry Pratchett

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    Jane Austen


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    Andrew Jefford - Whisky Island

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    :bewertung1von5: 2024: 5 :bewertung1von5:

  • Zu Kapitel 13

    Ich empfinde Mazzini mittlerweile schon als eher tragikomische Figur.

    Ich hatte schon mal den Vergleich mit Don Quijote bemüht, und Mazzini erinnert mich immer mehr an diesen "Helden". Don Quijote hatte zu viele Ritterromane gelesen und will eine untergegangene Epoche bzw. deren Werte wieder beleben - und so ähnlich ist es bei Mazzini. Er hat die Heldengeschichten seiner Mutter Lucia im Ohr, die auch in diesem Kapitel wieder auftaucht und will deren erzählte Heldenfahrt eines Vorfahren nachahmen, und so liest er die Bordtagebücher der Tegetthoff passend zum aktuellen Datum.

    Und exakt am selben Tag sehen sie auch LAND: am 30. August. "Sein Land" (S. 237)!


    Einige dieser "Helden" werden uns vorgestellt und auch ihr "Geraufe um die Ehre" und ihr absolut nicht heldenhaftes, teilweise entmenschtes Verhalten. Nur am Rande: Nobile ließ sich als Erster retten, das erinnert fatal an den italienischen Kapitän, der sich auch selber als Erster ins Rettungsboot flüchtete. Das scheint Mazzini aber nicht zu bekümmern.


    Mir hat ein Bild zu Beginn des Kapitels gut gefallen: Mazzini steht vor der Wandkarte der Arktis in der Messe und sieht sein Spiegelbild: er sieht die "Neonglorie" um seinen Kopf und ein "Häftlingsschild" vor seiner Brust. Dieser Gegensatz gefiel mir gut, weil er Mazzinis Gefangenheit in seinen Kinderträumen gut beschreibt. Und wenn der Erzähler/Autor von den prächtigen "Rittern" ( eine Parallele zu Mazzinis Mutter) erzählt, vergisst er nicht die "Neonglorie" zu erwähnen, also den unechten Heiligenschein.

    Alles, was Mazzini tut, ist unecht, nur ein "Spiegel".

    :study: Edvard Hoem, Der Heumacher.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Ganz am Rande: Die cradle muss wegen Packeis am 17. August die Route ändern. Heute ist das kein Problem mehr, da kann man Svalbard umrunden. Da scheint doch eine Menge Eis in den letzten 40 Jahren geschmolzen zu sein...

    :study: Edvard Hoem, Der Heumacher.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Die Figur Mazzini war für mich der Grund, warum ich dem Buch nach der Lektüre nur drei Sterne gegeben habe. Ich habe es auch als nervig empfunden, daß er in der Erzählung so "mitgeschleift" wurde, zumal man wirklich von Anfang an weiß, wie es mit ihm endet. Ich erwischte mich oft dabei, regelrecht den Moment herbeizusehnen, wo Mazzini endlich ins Nirvana verschwindet und der spannenden Erzählung von der Peyer-Weyprecht-Erzählung Platz macht :twisted:

    Für mich fühlt sich Mazzini wie ein Klotz am Bein an, wenn man das von einer Romanfigur so sagen kann. Er hat in mir bei der Lektüre viel Unmut ausgelöst, war mir quasi im Weg.

    I will take with me the emptiness of my hands. What you do not have you find everywhere. (W. S. Merwin)


  • Er hat in mir bei der Lektüre viel Unmut ausgelöst, war mir quasi im Weg.

    Kann ich verstehen. Bei mir löst er aber keinen Unmut aus (vielleicht noch nicht?). Durch das Erzählen seiner Epigonen-Reise wird für mich die Historizität der historischen Reise überwunden (teilweise), und sie rückt ganz nahe an die Jetzt-Zeit heran. Für mich wird sie dadurch greifbarer und realistischer. Und ich vergleiche: und so wird für mich die Leistung der Männer der Tegetthoff noch imposanter.

    Palin machte es ja ähnlich mit der Erebus-Geschichte: er reiste selber an die entsprechenden Orte, so gut es ging, und schildert seine Eindrücke. Damit wird der Bericht mehrschichtiger, und das machte mir die Reisen plastischer.

    :study: Edvard Hoem, Der Heumacher.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Palin machte es ja ähnlich mit der Erebus-Geschichte: er reiste selber an die entsprechenden Orte, so gut es ging, und schildert seine Eindrücke. Damit wird der Bericht mehrschichtiger, und das machte mir die Reisen plastischer.

    Stimmt, allerdings empfand ich Palin nicht als so planlos, nicht als "Hanswurst", wenn ich das mal so Mazzini-feindlich sagen darf :-, Palin war ja Forschungsreisender.

    I will take with me the emptiness of my hands. What you do not have you find everywhere. (W. S. Merwin)


  • Ich empfinde zunehmend eine innere Verärgerung, nicht allein über Mazzinis Figur an sich, sondern den Platz, den diese Kapitel quasi gleichwertig neben den anderen einnehmen. Da mag er Kontrapunkt sein oder nicht; so ganz verstehe ich da Ransmayr eben nicht. Und ich bin da eher bei Regenmann ...


    Vielleicht klärt sich aber noch genauer auf, was es mit diesem Vorgehen auf sich hat? Deswegen hatte ich auch nicht zu diesem Thema gepostet, da manches am Ende klarer sein wird...?!

    Zu Kapitel 13

    Ich empfinde Mazzini mittlerweile schon als eher tragikomische Figur.

    Ich hatte schon mal den Vergleich mit Don Quijote bemüht, und Mazzini erinnert mich immer mehr an diesen "Helden". Don Quijote hatte zu viele Ritterromane gelesen und will eine untergegangene Epoche bzw. deren Werte wieder beleben - und so ähnlich ist es bei Mazzini. Er hat die Heldengeschichten seiner Mutter Lucia im Ohr, die auch in diesem Kapitel wieder auftaucht und will deren erzählte Heldenfahrt eines Vorfahren nachahmen, und so liest er die Bordtagebücher der Tegetthoff passend zum aktuellen Datum.

    Und exakt am selben Tag sehen sie auch LAND: am 30. August. "Sein Land" (S. 237)!

    Die Parallele mit dem Don Quichotte ist/wäre natürlich eine Referenz! Eine Form, sich dem Vorgehen Ransmayrs quasi literaturgeschichtlich anzugenähern. Interessant!


    Ansonsten warte ich selber auch stets eher auf die Payer/Weyprecht-Kapitel, und empfinde den Mazzini als leicht störend.

  • allerdings empfand ich Palin nicht als so planlos, nicht als "Hanswurst"

    Nein, das wollte ich auch damit nicht sagen. Wobei Mazzini ja nicht "planlos" ist, aber doch irgendwie verplant, da sind wir uns wohl einig.

    Die Einfügung der Figur Mazzini (und besonders das datumsgleiche Lesen der historischen Bordbücher) hat bei mir eben den Effekt der Überwindung der Historizität.


    Wir könnten natürlich Herrn Ransmayr fragen, was er sich denn gedacht hat - getreu dem Motto: "Was will uns der Dichter sagen?"

    Ich bin allerdings ein vehementer Verfechter des rezeptionsästhetischen Ansatzes. Insofern interessiert mich seine Antwort eher theoretisch.

    :study: Edvard Hoem, Der Heumacher.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Kapitel 13

    Was ebenso ein Aspekt ist. Es gibt Polarforscher wie Payer - Weyprecht - Amundsen - Scott welche der Nachwelt in Erinnerungen bleiben, welche geehrt und bejubelt wurden für ihren Taten, welche in der Geschichtsschreibung präsent sind. Mazzini steht für all die vielen welche einfach „verschwunden“ sind - niemand erinnert sich mehr an sie - sie sind „vergangen“

    Okay, damit kann ich leben, das klingt für mich greifbar für die Figur

    Ich hatte schon mal den Vergleich mit Don Quijote bemüht, und Mazzini erinnert mich immer mehr an diesen "Helden". Don Quijote hatte zu viele Ritterromane gelesen und will eine untergegangene Epoche bzw. deren Werte wieder beleben - und so ähnlich ist es bei Mazzini.

    Und auch den Quijote kann ich in Mazzini erkennen

    so sehr drängt sich Mazzini was die Erzählung angeht in den Vordergrund - paradoxerweise obwohl ich das Gefühl des Verschwindens auch gut nachfühlen kann.

    Vielleicht drängt er sich aber auch nur so in den Vordergrund weil er Dich so nervt? Nervige Dinge fallen einem ja immer stärker ins Auge als alles andere. Denn vom reellen Seitenverhältnis der beiden Stränge hab ich gar nicht das Gefühl als ob Mazzini im Vordergrund steht. :wink:

    Da scheint doch eine Menge Eis in den letzten 40 Jahren geschmolzen zu sein...

    So viel, dass man im Sommer fast keine Eisbrecher mehr braucht 8-[

    Und ich vergleiche: und so wird für mich die Leistung der Männer der Tegetthoff noch imposanter.

    Gute Idee, das hab ich bisher noch gar nicht getan - aber der Aspekt gefällt mir. :)

    Ansonsten warte ich selber auch stets eher auf die Payer/Weyprecht-Kapitel, und empfinde den Mazzini als leicht störend.

    Okay, sind wir also schon drei, die sich mehr für die reale Expedition interessieren :lol:

    viele Grüße vom Squirrel



    :study: Kai Seyfarth - Entscheidung in Aleppo: Walter Rößler, Helfer der verfolgten Armenier


  • Vielleicht klärt sich aber noch genauer auf, was es mit diesem Vorgehen auf sich hat?

    Die Hoffnung habe ich auch noch. Bis dahin aber sehe ich die Figur des Mazzini auch

    als stark überzeichnet an. Ich empfinde das alles als einen Tick zuviel.

    Wir sind der Stoff aus dem die Träume sind und unser kleines Leben umfasst ein Schlaf.

    William Shakespeare


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