Barney Norris – Die Jahre ohne uns / The Vanishing Hours

  • Klappentext/Verlagstext
    Durch Zufall treffen sie sich, in einer Hotelbar in einer kleinen englischen Stadt: ein Mann und eine Frau in ihren Sechzigern, zwei Fremde, die einander ihre Geschichten erzählen. Sie ist einsam, ihr Leben ist voller unerfüllter Träume, ihre Tage verlaufen stets gleich, einzig bei der Arbeit im Garten findet sie zu sich. Er ist ehemaliger Schauspieler, und seine Geschichte ist die einer endlosen Suche nach jemandem, den er verloren hat. Seit Jahrzehnten führt er ein haltloses Leben im Dazwischen: Wann immer er eine Tür öffnet, droht er, in eine neue Existenz hinein katapultiert zu werden. Hunderte Leben hat er berührt, niemand ist ihm geblieben. Doch diese Begegnung wird sie beide verändern – und einen Neuanfang bedeuten.
    ›Die Jahre ohne uns‹ wirft Fragen auf, die uns alle beschäftigen: Warum verletzen wir die Menschen, die wir lieben? Wie machen wir unseren Frieden mit den Entscheidungen, die wir bereuen? Und was passiert, wenn wir die Geister der Vergangenheit wieder in unser Leben lassen? Barney Norris ist ein fesselnder Roman über Liebe, Verlust und die einzigartige Kraft des Geschichtenerzählens gelungen.


    Der Autor
    Barney Norris wurde 1987 geboren. Seine Theaterstücke ›Visitors‹ und ›Eventide‹ wurden mit mehreren Preisen ausgezeichnet, zuletzt adaptierte er Kazuo Ishiguros ›Was vom Tage übrig blieb‹ für die Bühne. Sein Debütroman ›Hier treffen sich fünf Flüsse‹ (2017) war ein Sunday-Times-Bestseller und stand auf der Shortlist für den British Book Award. ›Die Jahre ohne uns‹ ist sein dritter Roman.


    Inhalt
    Zwei Fremde treffen aufeinander, beide um die 70 Jahre alt. Aus der Ichperspektive erzählt die weibliche Person von Höhen und Tiefen im Leben, vom Scheitern und Neuanfangen. Weil sie geordnete Systeme und Worte liebt, besteht ihr Text aus Assoziationen zu Schlagwörtern. Damit möchte sie vermitteln, dass es lohnt, sich zu erinnern. Ihr Springen von einem Begriff zum anderen könnte jedoch beispielhaft für das assoziierende Erinnern alter Menschen stehen.


    Dass ihre Idee der Enzyklopädie verknüpfter Anekdoten damals von der Open University nicht als Abschlussarbeit angenommen wird, ist einer der Tiefpunkte in ihrem Leben. Ihre Pläne waren hochfliegend; ihr Projekt sollte anderen Menschen Teilhabe ermöglichen und ihnen den Zugang zu ihrer Epoche erleichtern. In ihrer Kindheit (in der ihr Vater überraschend verschwand) lernte man noch, sich selbst nicht wichtig zu nehmen. Zum Ende ihres Lebens hin kann sie ihren Hang zu negativen Urteilen einordnen und hat gelernt, dass Traumata und die Neigung zu Depressionen an die Nachkommen vererbt werden. Die Liebe der Unbekannten zu Musik gibt dem Roman eine Tonspur; das sorgfältige Notieren der gehörten Stücke wird ihr schon immer Halt gegeben haben. An der Veränderung der Urteile der Erzählerin lässt sich ihr Altern nachvollziehen. Als Leser folgt man einer sprachlich gewandten Figur, die mit Ungesagtem eine geheimnisvolle Atmosphäre schafft – bis ihr Gesprächspartner auftaucht.


    In einer Hotelbar wird sie förmlich überrumpelt von einem Mann, der sich nicht kurzfassen kann, sondern – ebenfalls in der Ichform - seine Geschichte nur komplett und in der richtigen Reihenfolge hervorbringen kann. Auch er ist ein eloquenter Erzähler, der von einer Zeit berichtet, als er noch nicht erkennen konnte, wie glücklich er damals war. Seine Erlebnisse könnten einen eigenständigen Roman füllen – dabei wartete ich beim Lesen darauf, endlich der Verbindung zwischen beiden Figuren auf die Spur zu kommen, die sie in diese Bar geführt hat. Während "ihr" Geheimnis alltäglich zu sein scheint, ist "seins" offenbar riesengroß, phantastisch und verschlungen.


    Fazit
    Die Auflösung konnte mich verblüffen, wie auch die Sensibilität, mit der ein 1987 geborener Autor die Marotten zweier älterer Personen nachempfindet. Wer überzeugt ist, dass man durch einen Schrank in phantastische Welten klettern kann, sollte hier zugreifen.


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    :study: -- Damasio - Gegenwind

    :study: -- Ravik Strubel - Blaue Frau

    :musik: -- Catton - Gestirne; Rehear


    "The three most important documents a free society gives are a birth certificate, a passport, and a library card!" E. L. Doctorow

  • Ich bin anders als Du, Buchdoktor, etwas zwiespältig bei diesem Buch.


    Ich finde, es ist ein sehr eigenartiges Buch, das mich im ersten Teil sehr berührt hat, ich dann aber den Bezug zu den Geschichten mehr und mehr verloren habe. Die Spannung, wie sich letztlich alles zusammenfügt, habe ich aber auch nicht verloren, wenn ich auch ab einem bestimmten Punkt einen Verdacht hatte.


    Es geht für mich letztlich darum, sein Leben zu leben, nicht in Erinnerungen zu verharren und sich in den vermeintlichen Schutz der Einsamkeit zurückzuziehen. Es hat sehr viele mich direkt betreffende und toll formulierte Gedanken.

    Es scheint sich auch mit der Frage oder sogar der Tatsache zu beschäftigen, dass der Unterschied zwischen einem gesunden, normalen Leben mit seinen Schicksalschlägen und einem schizophrenen und von psychotischen Episoden gekennzeichneten, wahnhaften Leben nur graduell ist. So bleibt es ganz offen, ob der Hauptprotagonist krank ist oder nicht. Genauso die Erzählerin. Als eine Art Fantasy-Roman würde ich das Buch nicht begreifen.


    Die Geschichte ist mir letztlich beim Lesen etwas zu lang geraten, und die sich bei jeder Episode ständig wiederholende Frage, ob er jemals sein altes, eigentliches (?) Leben zurück haben kann, eigentlich relativ schnell schon beantwortet. Dennoch habe ich das Buch gern gelesen.


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