Friedrich Christian Delius - Mein Jahr als Mörder

  • Autor: Friedrich Christian Delius
    Titel: Mein Jahr als Mörder, erschien erstmals 2004
    Seiten: 304 Seiten
    Verlag: Rowohlt
    ISBN: 9783499259951


    Der Autor: (von der Autoren-Homepage)
    Friedrich Christian Delius, geboren im Februar 1943 in Rom, aufgewachsen in Wehrda, Kreis Hünfeld, und Korbach in Hessen. Seit 1963 in Berlin, Studium an der Freien und Technischen Universität (Dr. phil. 1970). 1970 bis 1978 Lektor für Literatur in den Verlagen Klaus Wagenbach und Rotbuch. Prozesse, welche die Siemens AG (1972-76) und Helmut Horten (1979-82) gegen ihn führten, erfolgreich überstanden. Seit 1978 freier Schriftsteller, von 1978-80 in Beek bei Nijmegen/NL, von 1980-84 in Bielefeld. Seitdem lebt er wieder in Berlin (von 2001 bis 2013 in Rom und Berlin). Georg-Büchner-Preis 2011. Übersetzungen seiner Bücher in 18 Sprachen. Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und der Akademie der Künste Berlin.


    Inhalt: (Klappentext)
    Am Nikolaustag 1968 hört ein Berliner Student im Radio, dass Hans-Joachim Rehse, Richter an Freislers Volksgerichtshof, freigesprochen wurde. Noch während die Nachrichten laufen, beschließt er ein Zeichen zu setzen: Er wird diesen Mann umbringen. Auch aus persönlichen Gründen, denn Rehse hat den Vater seines besten Freundes zum Tode verurteilt, Georg Groscurth – Arzt von Rudolf Heß und zugleich als Widerstandskämpfer aktiv.
    Die Tatbereitschaft des jungen Mannes wächst, je mehr er sich mit der Familiengeschichte beschäftigt. Besonders empört ihn das Schicksal von Groscurths Witwe Anneliese, die nach 1945 zwischen die Fronten des Kalten Krieges geriet. Dass ein ehemaliger Nazi ungeschoren davonkommt, während die Witwe seines Opfers als kommunistische Hexe juristisch verfolgt wird, ruft nach Vergeltung. Ohne Rücksicht mehr auf Studium, auf pazifistische Ideale oder seine Freundin Catherine setzt er Schritt für Schritt einen ausgeklügelten Plan um …


    Meinung:
    Das letzte Buch in meinem Lesejahr 2020 war zugleich auch mein Lesehighlight. Ein Buch, das mich erschüttert hat, das mich so emotional gepackt hat, wie zuletzt wohl Siegfried Lenz’ «Deutschstunde» (welches ich erst 2019 gelesen hatte).
    Wie immer bei FC Delius geht es um die jüngere deutsche Geschichte; in diesem Fall um Täter des Naziregimes und wie unbehelligt sie in den Nachkriegsjahren weiterhin Karriere machen, und ehemalige Widerstandskämpfer drangsalieren konnten. Es ist ein sehr persönliches Buch, da die Familien Delius und Groscurth sich kannten, quasi aus demselben hessischen Dorf stammten. Und so ist das Buch eher eine Recherche, ein Nacherzählen, was damals während des Krieges geschah, und das anschließende vergebliche Aufarbeiten der personellen Verstrickungen mit dem Dritten Reich. Ein Buch, das wütend macht, ja tatsächlich Verständnis schafft, wie der Ich-Erzähler ein Exempel statuieren will. Er will einen Mord begehen, am Richter der den Vater seines Freundes zum Tode verurteilt hat, und er will gefasst werden und Rechenschaft ablegen. Dazu schreibt er den Text, legt ausführlich dar, welches Unrecht geschehen ist, insbesondere am Beispiel Georg Groscurth und dessen Witwe. Und ich war immer wieder überrascht, wie nahe die Erzählung an den tatsächlichen Geschehnissen ist. Viele Themen wie bspw die Widerstandsgruppe «Europäische Union», das 131er-Gesetz, die als Kommunistin diffamierte Witwe Groscurths waren mir zuvor nicht bekannt.
    Für mich bislang das beste Buch von Delius, in einer langen Reihe ausnahmslos guter Bücher von ihm: diesmal eher Geschichtsunterricht, zugleich Denkmal an Familie Groscurth und Mahnmal über Mitläufertum.

  • Delius ist etwas in Vergessenheit geraten. Zu Unrecht, meine ich und finde es sehr gut, dass Du ihn wieder mal ins Gespräch bringst.

    Delius ist einer, der sich einmischt wo es unbequem ist, so einer wird dringend gebraucht! #-o

  • Mir völlig unverständlich, weshalb er so wenig Beachtung findet. Ich habe jetzt 10 Bücher von ihm gelesen, und sie waren alle klasse. Abwechslungsreich, stets hervorragend recherchiert, sicherlich auch politisch und unbequem, aber eben - davon gibt es doch viel zu wenige! Wenn es nach mir ginge, hätte er längst den Literaturnobelpreis.

  • Mir völlig unverständlich, weshalb er so wenig Beachtung findet.

    Er wird aber an bayerischen Gymnasien gelesen, sehe ich...?

    :study: Percival Everett, James.

    :musik: Agatha Christie, Mord im Pfarrhaus.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Tatsächlich. Auf die Idee in den Lehrplänen nachzuschauen, kam ich gar nicht. Nach etwas googeln stelle ich fest: in Bayern wird vorgeschlagen in Auszügen „Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde“ zu lesen, parallel zum Film „Das Wunder von Bern“. Und in Hessen wird „Amerikahaus“ vorgeschlagen. Das beruhigt mich doch ein wenig 8)