Susanna Clarke - Piranesi

  • Klappentext


    Ein riesiges Gebäude, in dem sich endlos Räume aneinanderreihen, verbunden durch ein Labyrinth aus Korridoren und Treppen. An den Wänden stehen Tausende Statuen, das Erdgeschoss besteht aus einem Ozean, bei Flut donnern die Wellen die Treppenhäuser hinauf. In diesem Gebäude lebt Piranesi. Er hat sein Leben der Erforschung des Hauses gewidmet. Und je weiter er sich in die Zimmerfluchten vorwagt, desto näher kommt er der Wahrheit – der Wahrheit über die Welt jenseits des Gebäudes. Und der Wahrheit über sich selbst.


    Meine Meinung


    Ein äußerst beeindruckendes Buch, bei dem ich mir wirklich schwer tue, Worte dafür zu finden.

    Der Erzähler, Piranesi genannt, ist Wissenschaftler und sozusagen Erforscher des Hauses, in dem er lebt und das wortwörtlich grenzenlose Ausmaße zu haben scheint. Es besteht aus großen Hallen, Vestibülen und meterhohen Treppen, die sich in alle Himmelsrichtungen erstrecken und auch in tiefere Geschosse führen, in denen das Meer mit Ebbe und Flut die Räume umspült - aber auch in lichte Höhen voller Wolken und Vögel.

    Vor allem gibt es aber überall unzählige Säulen und Statuen mit Menschen, Tieren, aber auch phantastischen Wesen in unterschiedlichen Positionen und Tätigkeiten, die die Fantasie von Piranesi jeden Tag aufs neue anregen.


    Piranesi verbringt seine Tage damit, diese Säle zu erforschen und hat auch begonnen, sich mit Dem Haus als Seiner Welt auseinander zu setzen, in dem er Ereignisse mit sich selbst und seinem Schicksal verbindet.

    Das fand ich wunderschön, denn es zeigt, wie verbunden er sich mit "seiner Welt" fühlt und - wie er selbst sagt - die Welt mit ihm spricht und ihm Zeichen sendet, für ein besseres Verständnis.


    Das Erforschen, was hinter den Grenzen ist, das besondere Wissen zu entdecken, was in diesem Haus versteckt sein soll, ist sein vorrangiges Ziel; allerdings wurde ihm das vorgegeben von Dem Anderen. Dem einzigen, lebenden anderen Menschen, dem er begegnet.

    Der Zweck dieser Suche wird schon auf den ersten Seiten erläutert und zeigt die typischen Bestrebungen, die viele Menschen schon seit langer Zeit immer wieder zu enträtseln streben: Unsterblichkeit, Telepathie, Macht, um nur einige zu nennen.

    Doch Piranesi selbst kann diese Faszination dafür nicht so recht teilen. Er ist ein sehr genügsamer Mensch, der völlig aufgeht in der Entdeckung all des wunderbaren, was sich ihm in Seinem Haus zeigt. Er hat Wasser zur Verfügung, geht auf die Jagd nach Fischen, die sich im Meer in den unteren Sälen tummeln und erfreut sich an den Vögeln, die immer wieder in Scharen die Hallen durchqueren. Vor allem die Statuen in diesem riesigen Labyrinth wachsen ihm ans Herz und zeigen ihm eine unerschöpfliche Fülle an Leben.


    Ist es dem Haus gegenüber respektlos, einige Statuen lieber zu mögen als andere? Manchmal stelle ich mir diese Frage. Meine Überzeugung ist, dass Das Haus selbst alles, was es schuf, in gleichem Maße liebt und segnet. Sollte ich dasselbe versuchen? Doch ich stelle auch fest, dass es in der Natur des Menschen liegt, eines einem anderen vorzuziehen, eines als bedeutungsvoller als ein anderes zu empfinden.

    Zitat Seite 27


    Sich die Welt zu erschließen, um sie zu verstehen wird hier sehr schön deutlich anhand eines Vogelschwarms, in dem Piranesi ein Muster zu erkennen versucht, um eine mögliche Bedeutung für sich selbst herauszulesen. Das erinnert an alten Aberglauben, an Symbolik und den Versuch, sich selbst in das naturgegebene Leben mit einzubeziehen.


    Überhaupt schwingen hier eine Menge philosophischer Themen mit, die einen beim Lesen zum innehalten bewegen. Vor allem die Vorstellung der Menschen vor langer Zeit, denen das Leben nicht mit der Natur, sondern in die Natur integriert möglich war, löst eine Sehnsucht und Verbundenheit aus, die uns leider zu sehr abhanden gekommen ist.


    Piranesi berichtet dies alles in seinen Tagebucheinträgen und ich muss gestehen, dass ich auf den ersten Seiten noch nicht so ganz überzeugt war, ob mir diese Geschichte gefallen wird. Seine Beschreibungen sind sehr von den Örtlichkeiten geprägt, da sie seine einzige Orientierung sind und die Nummerierungen der Säle und Wegweiser war mir anfangs etwas zuviel. Dann entsteht jedoch ein Sog, der mich nicht mehr losgelassen hat und auch eine Spannung, die durch die Interessen Des Anderen geschürt wird. Dieser besucht ja Piranesi regelmäßig und erwartet von ihm Unterstützung in seiner Suche nach "dem Wissen". Die kurzen Momente dieser Treffen lassen allerdings schnell erkennen, dass dessen Intention eher kalte Berechnung innewohnt als freundschaftliche Zusammenarbeit.

    Die naive, fast schon kindliche Art von Piranesi bröckelt schließlich. Denn obwohl er ein unbefangenes und höchst liebenswertes Staunen in sich trägt, ist er nicht dumm und erkennt nach und nach mehr, als vielleicht gut für ihn ist.


    Ich spürte Wut in mir aufwallen und überlegte kurz, ihm nicht zu erzählen, was ich weiß. Aber dann hielt ich es für nicht nett, ihn für etwas zu bestrafen, für das er nichts kann. Es ist nicht seine Schuld, dass er die Dinge nicht so sieht wie ich.

    Zitat Seite 60


    Ein wunderschöner Moment wie ich finde und ein so wichtiger Gedanke! Dieses naive Staunen hat so eine ursprüngliche Faszination in sich und verbindet sich mit den klaren Erkenntnissen, zu denen er gelangt. Wie eben, dass jeder eine andere Sicht auf die Dinge hat und darin keine "Schuld" zu finden ist.


    Genauso seine Gedanken dazu, den Sinn dahinter ergründen zu wollen. Den Sinn hinter dem Haus, das Rätsel der Welt, um sie zu entschlüsseln, um ... über sie zu gebieten? Um den Wundern den Zauber zu nehmen? Die Schönheit in ihre Einzelteile zu zerpflücken?


    Ich stellte fest, dass die Suche nach dem Wissen uns veranlasste, Das Haus als eine Art zu lösendes Rätsel zu betrachten, einen zu deutenden Text, und dass es, falls wir Das Wissen jemals entdecken, sein wird, als wäre Dem Haus sein Wert abgerungen worden, und alles, was bliebe, wäre reine Kulisse.

    Zitat Seite 73


    Eine äußerst faszinierende Geschichte, die eine spannende Aufklärung bereit hält, die aber den Reiz hat, nicht alles völlig offenzulegen. Dieses Haus trägt eine Menge Geheimnisse in sich und der Versuch, sie alle zu enträtseln, würde die Magie dieses Ortes zerstören. Die Andeutungen dazu haben mir jedenfalls gereicht, um eine Vorstellung dazu zu bekommen und ich habe Piranesis Gedanken gerne gelauscht, die einen wieder näher an sich selbst heranbringen.


    Der Name "Piranesi" gehört übrigens einem berühmten Künstler und Archäologen, der im 18. Jahrhundert gelebt hat und für seine Ideen in vielen Bereichen der Architektur bekannt war.


    Mein Fazit: 5 Sterne



    Weltenwanderer

  • Squirrel

    Hat den Titel des Themas von „Susanna Clarke - Piranesi / Piranesi“ zu „Susanna Clarke - Piranesi“ geändert.
  • Ich habe "Piranesi" jetzt zweimal innerhalb von drei Wochen gelesen/gehört und werde es noch öfter tun. Sehr sehr schön!


    In einem Blog wurde den Lesern empfohlen, auch "Das Haus des Asterion" von Jorge Luis Borges zu lesen. Und "Gormenghast" von Mervin Peake. Sowie "Der Neffe des Magiers" von C. S. Lewis. Das sind Werke, von denen Susanna Clarke sich hat inspirieren lassen.

    Mir fehlt jetzt noch Peake.


    ***

    Aeria

  • "Das Haus" nennt Piranesi ehrfürchtig die Welt, in der er lebt. Sie besteht aus einer schier endlosen Kette von Marmorhallen und Vestibülen, voller allegorischer Statuen, deren Symbolik er nicht kennt. Im Untergeschoss rauscht das Meer, bei Flut dringen die Wellen manchmal bis in Piranesis Gefilde vor, und oben gibt es einen Himmel mit wechselnden Wetterlagen und diversen Vogelarten. Doch in seinem Bereich ist Piranesi so gut wie alleine, nur "Der Andere" trifft sich regelmäßig mit ihm zu Gesprächen. Sonst sind keine lebenden Menschen und auch keine Tiere zu sehen, nur das Meer ist bevölkert von Fischen und anderen Lebewesen, die Piranesi auch als Nahrung dienen.


    Er hält akribisch in Tagebüchern fest, was er erlebt und entdeckt, wenn er durch die Hallen streift, die Gezeiten und die Vögel beobachtet, und entwickelt ein kompliziertes Referenzsystem, damit er Dinge nachschlagen kann, denn um sein Gedächtnis scheint es nicht zum besten zu stehen.


    Obwohl er ein sehr schlichtes Leben führt, ist Piranesi nicht unglücklich in seinem Dasein, doch er möchte gerne den Dingen auf den Grund gehen und mehr über diese merkwürdige Welt herausfinden. Eines Tages stößt er auf interessante Hinweise, denen nachzugehen sich aber als nicht ungefährlich erweist.


    Mit Sicherheit ist "Piranesi" das außergewöhnlichste und abgefahrenste Buch, das ich in diesem Jahr gelesen habe, und gleichzeitig ist es eines der schönsten.


    Worum es eigentlich geht, ist gar nicht so leicht in Worte zu fassen. Man könnte es vordergründig als phantastisches Abenteuer lesen, aber dafür liegt der Fokus zu wenig auf Spannungsmomenten und Leser:innen mit dieser Erwartungshaltung werden wohl eher enttäuscht sein. Wer sich jedoch ganz offen auf die Geschichte einlässt, wird mit einigen Überraschungen belohnt, mit einer wunderschönen, berührenden Sprache, interessanten philosophischen und moralischen Fragestellungen (wenn auch nicht unbedingt Antworten darauf), die gerade in unserer aktuellen Zeit von Relevanz sind, und mit großartig gezeichneten Charakteren.


    In diesem vielschichtigen Buch ist nichts schwarzweiß und einfach, manches bleibt am Ende auch offen, und ich bin sicher, dass ich nur einen Bruchteil der Anspielungen auf Literatur, Legenden, Wissenschaft und Geschichte erkannt habe, aber es war eine ganz besondere Lektüre für mich und ist eines dieser Bücher, die man mit großem Genuss erneut lesen könnte, weil man sie mit dem Wissen um das, was passiert, noch einmal mit ganz anderen Augen betrachtet.


    Schade nur, dass meiner Ausgabe das Glossar fehlte, das wohl in anderen Editionen enthalten ist und viele der Referenzen erklärt. Aber dem Leseerlebnis an sich tat das keinen Abbruch, und das Buch wird einen Ehrenplatz in meinem Regal bekommen.

  • Den begeisterten Meinungen muss ich mich anschließen. Ich habe schon lange kein so lohnendes Buch gelesen! Die erschaffene Welt ist außergewöhnlich und auf spannende Weise sowohl schlüssig als auch wieder nicht - und es gibt eine sehr schöne Auflösung am Schluss. Unbedingt empfehlenwert!


    Ein Glossar ist in meiner Ausgabe auch nicht dabei, da muss ich mal suchen.

  • Selten einen so herzensguten und gleichzeitig hochnaiven Hauptprotagonisten gesehen, mit dem man seit der ersten Seite nur sympathisieren kann !


    Wie Piranesi die Welt in der er lebt beschreibt, wie er die Dinge um ihn herum kommentiert, wie er mit dem "anderen" agiert, ist neben der Beschreibung der Welt einfach nur als grandios zu bezeichnen!