Ohne Schuld – und fast ohne Tadel!
Vor vielen Jahren einmal hatte ich eine intensivere Charlotte-Link-Phase. Damals schrieb sie vorwiegend „psychologische Spannungsromane“, die sich von der Emotionalität ziemlich an Rosamunde Pilcher anlehnten, und recht gut zu lesen waren. In jüngster Zeit hat sie sich wohl auf den Kriminalroman verlegt, und die britische Ermittlerin Kate Linville in den Mittelpunkt gestellt. „Ohne Schuld“ ist der dritte Band dieser Reihe, lässt sich aber auch ohne Kenntnis der Vorgänger gut lesen.
Kate Linville hat sich ganz bewusst aus London weg versetzen lassen, um mit einem früheren Kollegen zusammenarbeiten zu können. Doch schon auf der Hinfahrt im Zug löst sich die Hoffnung auf einen friedlichen Arbeitsalltag auf. Genau in dem Zug, in dem Kate sitzt, wird plötzlich und aus heiterem Himmel auf eine junge Frau geschossen! Und nur wenige Tage später wird dieselbe Waffe in einem Anschlag auf eine Lehrerin verwendet… wie die Leben der beiden Frauen nun zusammenhängen, ist sehr trickreich gestaltet, und hält zahlreiche Überraschungen parat.
Der typische „Link-Ton“ ist jedoch erhalten geblieben! An vielen Details habe ich die Autorin wiedererkannt. Es gab wieder einmal die geschundene und unterdrückte Ehefrau; ein Muster, das ich aus früheren Büchern kannte. Es gab die Ermittler mit rund gezeichneten Charakteren, und gerade so viel privaten Verwicklungen, dass es die Haupthandlung nicht behinderte. Es gab den ausgefuchsten Plot, der immer an genau der Stelle , wo man „es verstanden zu haben“ glaubte, abzweigte, und neue Überraschungen bot. Und es gab die Entscheidungen, die in Stressmomenten getroffen werden mussten, und die eigentlich gar nicht gut ausgehen konnten!
Eigentlich würde ich das Buch nicht unbedingt als Kriminalroman bezeichnen wollen. Oder nur zu zwei Dritteln. An dieser Stelle hätte das Buch nämlich – bei anderen Autoren – durchaus enden können. Doch Charlotte Link setzt noch einen drauf, und hängt einen Showdown mit Dramatik an, der das Ganze dann für mich zum Thriller machte.
Ich gehe bewusst wenig auf die eigentliche Handlung ein, da ich sie für die Beurteilung des Buches nicht entscheidend finde. Charlotte Link ist dermaßen versiert, dass sie noch aus einem Kochrezept einen Krimi machen könnte! Trotz kleinerer logischer Lücken und Stolpersteine bin ich ihr immer atemloser gefolgt, und habe bis zum Schluss mitgefiebert. Und alles erraten habe ich auch nicht. Es bleiben offene Fragen und lose Fäden – ein Detail, dass es bei Charlotte Link vorher nicht gab.
Noch ein Argument gegen die These „Kriminalroman“ ist ein Hauptthema des Buches. Es geht um ein schweres Familienschicksal, Adoption, um behinderte Kinder, und die manchmal nicht gelingende Rolle des Mutterglücks. Mutige Themen, die Charlotte Link vielschichtig behandelt! Insofern ist das Ganze eher „Roman“.
Zu kritisieren hätte ich eigentlich nur – gelegentlich – die Sprache, und die nicht immer überzeugenden Dialoge. Man merkt auf fast jeder Seite, dass das Buch von einer weiblichen Autorin geschrieben wurde. Sie kann sich in ihre weiblichen Figuren meiner Meinung nach besser hinein versetzen, als in die männlichen. Auch die obligatorische „Beichte“ des Täters zum Schluss
finde ich eine Spur unglaubwürdig geraten. Aber nun gut! Insgesamt habe ich das Buch sehr gerne gelesen, und könnte mir auch vorstellen, mich mit den anderen Büchern um Kate Linville zu befassen.