Klappentext/Verlagstext
In „Kindheit“ erzählt Tove Ditlevsen vom Aufwachsen im Kopenhagen der 1920er Jahre in einfachen Verhältnissen. Tove passt dort nicht hinein, ihre Kindheit scheint wie für ein anderes Mädchen gemacht. Die Mutter ist unnahbar, der Vater verliert seine Arbeit als Heizer. Sonntags muss Tove für die Familie Gebäck holen gehen, so viel, wie in ihre Tasche hineinpasst, und das ist alles, was es zu essen gibt. Zusammen mit ihrer Freundin, der wilden, rothaarigen Ruth, entdeckt Tove die Stadt. Sie zeigt ihr, wo die Prostituierten stehen, und geht mit ihr stehlen. Aber eigentlich interessiert sich Tove für die Welt der Bücher und hat den brennenden Wunsch, Schriftstellerin zu werden – und dafür ist sie bereit, das Leben, wie es für sie vorgezeichnet scheint, hinter sich zu lassen.
Die Autorin
Tove Ditlevsen (1917–1976), geboren in Kopenhagen, galt lange Zeit als Schriftstellerin, die nicht in die literarischen Kreise ihrer Zeit passte. Sie stammte aus der Arbeiterklasse und schrieb offen über die Höhen und Tiefen ihres Lebens. Heute gilt sie als eine der großen literarischen Stimmen Dänemarks und Vorläuferin von Autorinnen wie Annie Ernaux und Rachel Cusk. Die „Kopenhagen-Trilogie“ mit den drei Bänden „Kindheit“, „Jugend“ und „Abhängigkeit“ ist ihr zentrales Werk, in dem sie das Porträt einer Frau schafft, die entschieden darauf besteht, ihr Leben nach den eigenen Vorstellungen zu leben. Die „Kopenhagen-Trilogie“ wird derzeit in sechzehn Sprachen übersetzt.
Biografie bei Fembio
Die Trilogie
Kindheit (1967 Barndom)
Jugend (1967 Ungdom)
Abhängigkeit (1971, 1980 dt. „Sucht“ suhrkamp, Übersetzerin Erna Plett 978-3518110096)
Auf Deutsch erschien 1980 nur der 3. Band der Trilogie, die Bände 1 und 2 wurden für diese Ausgabe zum ersten Mal ins Deutsche übersetzt.
Inhalt
Tove Ditlevsens Erinnerungen an ihre Kindheit beginnen mit dem Eindruck einer Fünfjährigen, in einer kalten, feindseligen Umgebung nicht beachtet und von ihrer Mutter abgelehnt zu werden. Bei Toves Einschulung im folgenden Jahr zeigt sich ihre Lehrerin äußerst ungehalten darüber, dass das Kind sich bereits selbst Lesen und Schreiben beigebracht hat. Tove wächst inmitten von widersprüchlichen Signalen und Rollenerwartungen auf, die für ein Kind nur schwer zu entwirren waren. Ihr Vater arbeitete bis zu 12 Stunden täglich als Heizer, er war Sozialist, Gewerkschafter und erstaunlich belesen. Die Rollenverteilung zwischen Ernährer und Hausfrau wurde von den Eltern nicht infrage gestellt, deutlich war jedoch, dass die Mutter alle Interessen ihres Mannes ablehnte und sich ihre Tochter später als brave Hausfrau wünschte. Als das Mädchen schon früh beschließt, später Gedichte zu schreiben, lehnt ihr Vater entschieden ab, dass ein Mädchen Dichter werden könne. Toves Vater wirkt jedoch unsicher, wie er mit einem kleinen Mädchen sprechen soll, das seine literarischen Interessen teilt, die wiederum von der Mutter strikt abgelehnt werden. Aus dem Kleinkind, das anfangs noch alles wörtlich nimmt, entwickelt sich im ersten Band der Trilogie eine wissbegierige Schülerin, der die Kinderbuchabteilung der Bibliothek von Anfang an nicht genügt. Der Besuch der Sekundarschule wird Tove schließlich „erlaubt“, weil selbst ihre Eltern eine Ablehnung ihr gegenüber ungerecht finden.
Die spätere Autorin autofiktionaler Romane durchschaut die Rollenunsicherheit ihrer Eltern früh. Obwohl nicht zu übersehen ist, dass der ältere Bruder Edvin allein aufgrund seines Geschlechts nicht klüger ist als seine Schwester, beharren die Eltern auf der für sie unverrückbaren Einteilung. Nur ein Junge kann seine Eltern stolz machen, Mädchen heiraten. Obwohl für Leser der Gegenwart deutlich hervorsticht, wie wichtig für ein Mädchen aus einem Arbeiterhaushalt damals ihre Lehrerinnen und die Bibliothekarin gewesen sein müssen, scheint Tove sich im ersten Teil ihrer Biografie dessen noch nicht bewusst zu sein. Dass alle drei Mentorinnen von ihrer Umwelt nicht als Frauen wahrgenommen wurden, verwundert rückblickend kaum. Ursel Allenstein schreibt im informativen Nachwort, dass in den 60ern, als "Kindheit" erschien und Tove Ditlevsen längst bekannt war, die Zeit für Frauenthemen offenbar noch nicht reif gewesen ist.
Fazit
„Kindheit“, das zusammen mit dem zweiten Band „Jugend“ 1967 während einer Sucht-Therapie der Autorin entstand, zeigt Tove Ditlevsen bereits im Grundschulalter als kluge Beobachterin, die die Lebenslügen ihrer Mitmenschen durchschaut, ihre Intelligenz jedoch stets verbirgt, um nicht anzuecken. Bewegend fand ich hier besonders die Schicksale von Vater und Bruder, die ebenfalls in ihrer vorgezeichneten Rolle nicht glücklich werden konnten.