Ralf Rothmann – Hotel der Schlaflosen

  • Kurzmeinung

    BarbSie
    Die Geschichten lassen mich sprachlos zurück. Vielfältige Themen, brilliant geschrieben, verstörend oder mit Witz.
  • Original : Deutsch, 2020

    11 Erzählungen von 5-29 Seiten


    »Fear is a man’s best friend« lautet das Motto von Ralf Rothmanns neuem Erzählungsband Hotel der Schlaflosen, und tatsächlich ist es oft die Angst, die seinen Figuren aus der Not hilft.


    IM EINZELNEN :

    - Wir im Schilf : Emilia kommt nach Jahren zurück in ihre Heimatstadt Berlin, um dort ein Konzert als Violonistin zusammen mit ihrem Bruder (Klavier) zu geben. Bei der Probe zerreißt eine der Saiten, und sie muss nochmals schnell zurück ins Hotel um eine Ersatzsaite zu besorgen. Sie erinnert sich schmerzhaft an die ihr vor einigen Tagen gestellte Diagnose in Zürich… Ist eine innere Saite ebenso gesprungen ? Bei näherem Lesen eine äußerst geschickt konstruierte Geschichte, mit wieder auftauchenden Motiven wie Heimat, Einsamkeit, Schilf, Stockwerke…


    - Hotel der Schlaflosen : Wir begleiten einen der (historischen!) Henker Stalins, Wassili Michailowitsch Blochin, aktiv in einem umgewandelten Gebäude, der berüchtigten Lubjanka (siehe auch: https://de.wikipedia.org/wiki/Lubjanka ) , auch « Hotel der Schlaflosen » genannt. Während er noch zur Überwindung der Schlaflosigkeit in Gedicht- und Prosabänden blättert, insbesondere von Isaak Babel (siehe auch : Isaak Babel – Die Reiterarmee ), landet eben dieser selbst im Kreise der zu Exekutierenden… Hommâge an den großen Babel, wie auch Beschreibung eines Werkzeuges der Todesmaschinerie.


    - Geronimo : Während der vom Bergbau heimkehrende, ehemalige Melker (« Cowboy »!) von Vater abends solch einen müden Eindruck hinterläßt, träumt der Ich-Erzähler und Sohn (Alter-Ego Rothmanns?!) von Geronimo, und spielen sie mit Freunden Indianerfähigkeiten nach. Als er eines Tages mit seinem Vater einkaufen geht, und sie auf einem Gelände eine seltsame, dann bedrohende Gestalt treffen, könnten wir uns hinterher fragen, wer denn da der « mutige » Indianer ist und die Zeichen zu lesen versteht…


    - Auch das geht vorbei : In knappen, fast abgehackten Sätzen resümieren sich Marlies’ Leben seit den harten Kindheitsjahren unter einer stets meckernden Mutter bis hin zu den Problemen einer vermasselten Ausbildung, ersten sexuellen Belästigungen… Rothmann schildert etwas Traumatisch-Dramatisches, zwischen Ängsten und Sehnsüchten...


    - Der dicke Schmitt : Für Jungpolier Simon ist der « Dicke Schmitt » ein manchmal herber Vorarbeiter, der die Leute scheucht und anstachelt, jedoch selber auch alles gibt. Wird er ihn ganz anders erleben, als er sich als Vater einer klumpfüßigen, aber lieben Franziska herausstellt ? Und wie wird sich Simon geben ? Wer sind wir denn eigentlich?


    - Das Sternbild der Idioten : 1981, und einige Berliner Lebenskünstler werden als Statisten für einen Mauerfilm angeheuert. « Klassen » entstehen oder bleiben. Und bleibt der herbeigerufene Statdtstreicher bei der Auszahlung tatsächlich vergessen ? Mit totaler Berliner Schnauze geschrieben… Ein Höhepunkt !


    - Alle Julias : Nach ihrer gescheiterten Beziehung räumt Julia ihre Wohnung aus. Genau dann kommt der Anruf einer ehemaligen Freundin, Juliane. Was spielen sie sich vor ?


    - Admiral Frost : Auf einem wirtschaftlich doch bedrohten Gestüt im Berliner Umland soll der Zuchthengst Admiral Frost zur Stute gelassen werden. Doch es wird ein gefährliches Unternehmen…


    - Die Nacht in der Wüste : Gregor, ein deutscher Ingenieur in La Paz, ist auf der Rückfahrt von den USA und sammelt in Mexiko zunächst Sophia, eine ebenfalls deutsche Studentin auf, die unbekümmert unterwegs ist, und dann noch zwei Bolivianer, die nach der illegalen Arbeit in den USA ebenfalls auf dem Heimweg sind. Was ergibt die Nacht in der Wüste, mit Unterbrechungen ?


    - Der Wodka des Bestatters : Der Ich-Erzähler ist am Bau, hilft aber ansonsten abends und am Wochenende dem Kumpanen seiner Mutter aus : Egon, den Bestattungsunternehmer, Wodkatrinker im Akkord. Während Reinhold an seine verschwundene Braut Matilda denkt, werden sie zu einer Zeche gerufen : man hat wohl Leichen bereit...


    - Ein leises Ziehen in der Herzgegend : Er will seiner Frau den Ort seiner Großeltern in Schleswig-Holstein zeigen. Welche Assoziationen ! Welche Erinnerungen ! Und wenn wir daneben liegen mit unseren Vorstellungen ? Wo ist der Kern der Erinnerungen ?


    BEMERKUNGEN :

    Was Rothmann hier auf einigen Seiten komprimieren kann geht unter die Haut. Es spricht ein großer Realismus aus diesen Seiten, doch er gleitet nicht ab in dunklen Sarkasmus, sondern bewirkt oft eine Art Wehmut und tiefe Empathie mit den Figuren der Erzählungen. Es mag ihnen Angst, ja hier und da das Gefühl von kalter Gänsehaut und Ohnmacht zueigen sein, aber viele bewahren sich eine tiefe Menschlichkeit. Und bleibt nicht trotz aller bedrängenden Kräfte oft ein Handlungsspielraum ?


    Sprachlich schmiegt sich der Autor manchmal an das gewählte Umfeld an, da gibt es die Berliner Schnauze oder das Ruhrpottdeutsch. Als Kulisse eben auch mal Moskau oder Mexiko. Beeindruckend, wie hier teils schnoddrige Weise und Tiefsinn miteinander verbunden wird.


    Leute, das ist teils zum Weinen... schön ! Da kann ich nur sagen : Lesen ! Aber den wirklichen Rothmann-Kennern, bzw -Genießern müsste ich das eigentlich nicht mehr extra sagen, oder ?


    ZUM AUTOR :

    Ralf Rothmann (* 10. Mai 1953 in Schleswig) ist ein deutscher Schriftsteller. Er wuchs im Ruhrgebiet in der Umgebung von Oberhausen auf. Nach der Volksschule und einem kurzen Besuch der Handelsschule machte er zunächst eine Lehre als Maurer. Später schlug er sich mit verschiedenen Jobs durchs Leben, arbeitete als Fahrer, Koch, Drucker und als Krankenpfleger. Seit 1976 lebt er in Berlin, wo er 1984 sein literarisches Erstwerk veröffentlichte, den Lyrikband Kratzer, für den er 1986 das Märkische Stipendium für Literatur erhielt. Sein erster Roman Stier erschien 1991. 1999/2000 war Rothmann poet in residence an der Universität Essen. Er lebt heute als freier Autor mit seiner Frau in Berlin-Friedrichshagen am Müggelsee. Er erhielt für sein Werk verschiedene renommierte Literaturpreise (u.a. 2005: Heinrich-Böll-Preis; 2006: Max-Frisch-Preis).


    Weitere sehr gute Infos zum Werk und zum Autor auf: http://de.wikipedia.org/wiki/Ralf_Rothmann


    Herausgeber : Suhrkamp Verlag; 2. Edition (12. Oktober 2020)

    Sprache: : Deutsch

    Gebundene Ausgabe : 200 Seiten

    ISBN-10 : 3518429604

    ISBN-13 : 978-3518429600

    Abmessungen : 12.6 x 2.8 x 20.2 cm

  • Sehr schöne Rezi, vielen Dank tom leo . Das Buch ist noch auf meiner Wunschliste;

    Lass es nicht zu lange dadrauf stehen! Noch sind die Geschichten ziemlich frisch in meinem Gedächtnis; ich würde gerne so vieles schnell wiederlesen! Und dann wird man durch die Flut der Subleichen weitergezogen...


    Ich hörte gerne Deine Reaktion!

  • Gestern habe ich mit den Erzählungen begonnen. Die haben es ja richtig in sich!

    Und man kann sie nicht "schnell mal runterlesen", sie müssen erstmal verarbeitet werden. Jedenfalls ergeht es mir so. So habe ich gerade die titelgebende Erzählung "Hotel der Schlaflosen" gelesen.

    Danke für deine Buchvorstellung, tom leo.

  • Gerade habe ich die ersten vier Erzählungen gelesen und mein lieber Schwan, das Ganze ist recht heftig. Muss ich erst mal verdauen, bevor ich dann morgen weiterlese.

    "Auch das geht vorbei" erinnert mich ein bisschen an meine Kindheit und damalige Zeit. War nicht immer ganz einfach.

    ☆¸.•*¨*•☆ ☆¸.•*¨*•☆ La vie est belle ☆¸.•*¨*•☆☆¸.•*¨*•☆

  • Die Lektüre habe ich nun beendet. Es sind wirklich interessante, anrührende Geschichten, teilweise mit einem Hauch von Humor. Ein wirklich grosser Erzähler der Herr Rothmann. In einigen Lesemomenten fühlte ich mich mitten im Geschehen, z.B. in und um den Pferdestall. Oder als dem Auto Wasser fehlte bekam ich regelrecht Durst - so komisch das auch klingen mag. Ich staune noch immer über die Komplexität der einzelnen Geschichten.

    Dies war mein siebtes Buch von diesem Autor, es sind noch einige auf der Wunschliste.

    ☆¸.•*¨*•☆ ☆¸.•*¨*•☆ La vie est belle ☆¸.•*¨*•☆☆¸.•*¨*•☆