Klappentext
Vanessa ist gerade fünfzehn, als sie das erste Mal mit ihrem Englisch-Lehrer schläft. Jacob Strane ist der einzige Mensch, der sie wirklich versteht. Und Vanessa ist sich sicher: Es ist Liebe. Alles geschieht mit ihrem Einverständnis. Fast zwanzig Jahre später wird Strane von einer anderen ehemaligen Schülerin wegen sexuellen Missbrauchs angezeigt. Taylor kontaktiert Vanessa und bittet sie um Unterstützung. Das zwingt Vanessa zu einer erbarmungslosen Entscheidung: Stillschweigen bewahren oder ihrer Beziehung zu Strane auf den Grund gehen. Doch kann es ihr wirklich gelingen, ihre eigene Geschichte umzudeuten – war auch sie nur Stranes Opfer?
»Meine dunkle Vanessa« ist ein brillanter Roman über all die Widersprüche, die unsere Beziehungen prägen, ein Roman, der alle Gewissheiten erschüttert und uns spüren lässt, wie schwierig es ist, klare Grenzen zu ziehen. Verstörend und unvergesslich!
Meine Beobachtungen
Ein Mann sieht die Einsamkeit eines Mädchens, lobt ihr Kleid, vergleicht ihr Haar mit einem roten Ahornblatt, das zufällig auf dem Weg treibt, bringt ihr Gedichte, die etwas mit ihr zu tun haben. "Du bist ganz besonders!" flüstert es.Und das Mädchen ist begierig auf diese Zuwendung, auf diese Worte, erhört den Mann. Beginn einer Liebesgeschichte. Keiner Liebesgeschichte? Was schreibt uns Kate Elizabeth Russel da für ein Buch? Denn: Vanessa ist fünfzehn Jahre alt, er ist ihr Lehrer und könnte ihr Vater sein. Er nistet sich ein bei ihr. Erst nach 120 Seiten haben sie Sex, ab dann sammelt er ihre Orgasmen (Viagra hilft dabei) und manchmal macht er Fotos. Er legt sich nicht bloß über ihren Leib sondern auch über ihr Leben. Ein Mann, der alles richtig zu machen scheint, fragt höflich, sorgt sich um sie, nimmt Rücksicht. Immer wieder aber gibt es kleine Risse, Brüche, Erkenntnisse. Vanessa weiß, dass sie Nein sagen kann. "Deshalb habe ich lange noch nicht das Sagen," bekennt sie vor sich selbst. Und ein andermal: Mir geht's gut. "Aber es fühlt sich wie ein Zwang an." Dennoch: Sie genießt die Situation, weiß, wie groß ihre Macht über ihn ist, wenn sie nur in der Erzählung drin bleibt, die er inszeniert und sie glaubt. Und sie hat über ein Dutzend Jahre keine andere Erzählung und behauptet auch vor sich selber, keine andere zu wollen. Sie braucht diese Liebesgeschichte. Sie hat keine andere. Auch keine andere Geschichte. Sie kann nicht Opfer sein - das würde ihre Teenager-Jahre ausradieren und ihren Aufbruch ins Leben und ihre Besonderheit.
Dieser Roman, in dem ein Missbrauch im Mittelpunkt steht, ist amerikanischen Highschool-Milieu angesiedelt, manche sehen, was passiert, noch mehr gucken weg. Vanessas Lehrer kann sich herauswinden, als die Schulleitung Wind von der Sache bekommt, drängt Vanessa, mit Hilfe einer Notlüge die Verantwortung zu übernehmen. Sie ist es, die die Schule zu verlassen hat. Damit aber ist die kritische Beziehung nicht zu Ende und auch nicht die kritische Disposition, in der sich die junge Frau befindet. Sie verabredet sich weiterhin mit ihrem alten Lehrer zum Beischlaf, sie wirft zusätzlich ihrerseits ein Auge auf einen Lehrer an der neuen Highschool und versucht ihn in ihren Bann zu ziehen nach dem vertrauten Erlebnismuster. Es ist ein Mann, der ihr versuchlich erscheint. Vanessa ist in Internet-Chats aktiv, sammelt Statements und Fotos in einem Ordner, immer sind es Männer aus der Generationen ihres ersten Liebhabers. Erkenntnisse bei Vanessa wachsen langsam ins Tag-Bewusstsein, eine Therapeutin hilft dabei, die Autorin vermeidet es zum Glück, ihr die ganze Last des "erklär mir die Geschichte" zuzuschieben. Es bleiben Fragen offen.
Als männlicher Leser gehen mir die vielen kleinen Szenen nach, in denen Jacob Strane, der Lehrer, auf nett klingende Art die Entscheidung vermeintlich an Vanessa delegiert. Doch sie ist überfordert und ihre Kontrollmechanismen versagen bzw. sie schaltet sie letztlich ab. Ich entsinne mich einer eigenen Situationen in meinen "normalen" Beziehungen, in der ich zu dem zu werden drohte, der überfordert, dominiert - meine Partnerin stieg einfach aus ...
Meine Bewertung
Dies war mein Weihnachtsbuch. Spannend zu lesen bis zum Selbstmord des alten Liebhabers auf S. 227, ab dann verlangsamt sich das Tempo, die Nebenstränge des Romans breiten sich aus und enden bedeutungslos, es ist fast alles gesagt. Sie soll in diesem Teil des Buchs in eine me-too-Kampagne hineingezogen werden. Diese schwach angelegte Nebengeschichte hätte fehlen können, glaube ich, aber in den USA mag man das anders empfunden haben.
Ich nutzte den zweiten "langsamen" Teil zum Nachdenken und nacharbeiten auch jener Einzelheiten, die ich auf den ersten 200 Seiten wegen der Spannung im Fluge genommen hatte. Bis zum Selbstmord hat der Roman mich berührt und ab und an in Aufruhr versetzt. Ich wäre so gern als Leser für die Hauptfigur eingenommen gewesen oder wenn nicht dies, dann wenigstens gegen sie. Doch so kommt es nicht, Vanessa bleibt "kompliziert" (ihre Selbstbeschreibung im Buch). Und dann dieses "grooming", herrje, wie man Pferde striegelt, so kann man also Heranwachsende auf seine Seite ziehen und sie hörig machen. In der Internet-Szene ein inzwischen gebräuchliches Wort, recherchierte ich. Ob die Autorin wohl den Schluss so mehrdeutig empfunden hat, wie ich als deutscher Leser? Ein Pitbull als Begleiter auf dem Weg in die Freiheit? Und - übt Vanessa nicht wiederum Macht aus bei der Erziehung des Tieres? Immerhin: Jolene ist eine Hündin.