Jaan Kross - Wikmans Zöglinge / Wikmani poisid

  • „In Estland gehört dieser Roman des bedeutendsten Gegenwartsautors des Landes zum Kulturgut. Protagonist des Romans ist der junge Jaak Sirkel, der das Wikmannsche Gymnasium in Tallinn besucht, eine der anerkanntesten Lehranstalten Estlands. Es ist die Zwischenkriegszeit, die goldene Zeit aller drei baltischen Staaten. Während sich die Esten in dieser Phase an der Unabhängigkeit ihres Landes erfreuen, ist die Schulzeit der Zöglinge ereignisreich und voll der Herausforderungen des Erwachsenwerdens. Übermütige Schulstreiche, harsche Auseinandersetzungen mit Lehrern und Eltern und erste zarte Liebesgeschichten bestimmen ihren Alltag. Der impulsive Jaak und
    sein eher stiller Freund Riks verehren beide Virve, die reizende Zwillingsschwester eines Klassenkameraden - aus Freunden werden Rivalen. Die unbeschwerte Zeit endet jäh, als der Krieg beginnt. Die muntere kleine Gesellschaft wird in alle Himmelsrichtungen zerstreut. Jaak macht sich verzweifelt auf die Suche nach Virve ...
    Wikmans Zöglinge ist eine lebendige, anekdotenreiche Schulgeschichte, eine Art Feuerzangenbowle auf großer literarischer Bühne. Endlich erscheint einer der letzten großen historischen Romane von Jaan Kross in deutscher Sprache.“ - Klappentext



    1920 wurde Jaan Kross in Tallinn geboren. Im Jahr 1938 machte er dort sein Abitur und studierte an der Universität Tartu Jura. Unter der deutschen Besatzung wurde er 1944 verhaftet. Zwei Jahre später Festnahme durch die Sowjets. Jaan Kross wurde nach Sibirien deportiert, von wo er erst 1954 nach Tallinn zurückkehrte.


    Während seiner Haftzeit übersetzt Kross Werke aus dem Englischen, Französischen und Deutschen. Nach seiner Rückkehr beginnt er, selbst zu schreiben, zuerst Gedichte und später historische Romane. Nach der Unabhängigkeit Estlands übernahm er für mehrere Jahre ein Mandat im Parlament und nahm auch die Lehrtätigkeit an der Universität wieder auf. Er starb 2007.


    Die letzten zwei Schuljahre des Abschlussjahrgangs 1939 an einem Elite-Gymnasium in Tallinn bilden den Rahmen für diesen Roman. Gekonnt gelingt s hier, eine Vielzahl verschiedener Charaktere lebendig zu zeichnen. Direkt wird der Leser wieder mitgenommen und in die Denkweise der siebzehnjährigen Heranwachsenden geworfen, die Streiche der Jungen und ihre Versuche, die Lehrer von nicht erledigten Hausaufgaben abzulenken.
    Bei einem dieser Versuche gehen sie zu weit, ein Klassenkamerad wird als abschreckendes Beispiel der Schule verwiesen. Bedingung für die Wiederaufnahme ist eine Prüfung über den entgangenen Schulstoff am Ende des Schuljahres.
    Die verbliebenen Schüler sehen es als Aufgabe, dem verwiesenen Schüler Juss den versäumten Stoff zu lehren. Der Klassenprimus Jaak und sein bester Freund Rik nehmen sich dieser Aufgabe an, Jaak führt seinen Freund bei Juss Familie ein. Dort begegnen die beiden der Zwillingsschwester Virve.
    Von nun an verändert sich die Beziehung zwischen Jaak und Rik, aus Freunden sind Rivalen um die Gunst Virves geworden.


    Im Klappentext wird ein Vergleich zu „Feuerzangenbowle“ gezogen der mir nicht tief genug greift. Deutlicher als auf den Jungenstreichen liegt der Fokus auf dem Gefühlschaos des Protagonisten, der sich hin-und hergerissen sieht zwischen dem Freund und der Angebeteten, und auf der Schuldfrage an den verunglückten Schulstreich.
    Die letzten Kapitel werfen einen Blick auf die Klassengemeinschaft und die Schicksale einzelner Schüler während des Krieges und in der Zeit danach.
    Die Freunde hat es im Krieg auseinandergerissen – und sie begegnen sich in gänzlich anderen Rollen wieder.



    Der Schreibstil ist angenehm, wirkt nicht zu aufdringlich, ich fühlte mich spielerisch in das Geschehen und das Denken der Schüler versetzt. Die große Politik, die ich beim Lesen der Geschichte stets im Hinterkopf habe spielt in der Denke der Jungen keine Rolle, bis sie schließlich wie eine Welle über ihnen zusammenbricht.


    Erschienen im Osburg Verlag

    Übersetzt von Irja Grönholm


    Leider ist die Erzählung über das weitere Schicksal Jaaks noch nicht aus dem Estnischen übertragen.


    Aber für diesen Teil vergebe ich 4,5 Sterne. :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertungHalb:

    Veritas temporis filia - Die Wahrheit, Tochter der Zeit (Aulus Gellius)
    :study: Daniel Kehlmann - Lichtspiel :musik:


  • Im Klappentext wird ein Vergleich zu „Feuerzangenbowle“ gezogen der mir nicht tief genug greift.

    Ich finde diesen Vergleich völlig daneben.

    in diesem Buch gibt es keine überzeichneten Charaktere, die ins Klamaukige/Karikatureske abdriften.

    Ich bin mit etwas Skepsis an diesen Roman herangegangen, weil die Klassifizierung als "Schulroman" bei mir eher negative Assoziationen hervorrief: ein Roman um lustige Streiche, dumme Jungs und böse Lehrer ist nicht das, was ich gerne lese. Und dann lese ich einen Roman, in dem sich der Erzähler mit großer Ernsthaftigkeit seinen jugendlichen Protagonisten zuwendet und von ihrer Gemütslage, ihren Irrungen und Wirrungen, ihren Zukunftsvorstellungen etc. in dieser wohltuend respektvollen Weise erzählt.

    Die große Politik, die ich beim Lesen der Geschichte stets im Hinterkopf habe spielt in der Denke der Jungen keine Rolle, bis sie schließlich wie eine Welle über ihnen zusammenbricht.

    Ich habe mir die Geschichte Estlands in dieser Zeit, den 30er Jahren, erst ein bisschen zusammensuchen müssen; manchmal hätte ich mir eine Fußnote gewünscht, aber ich sehe ein, dass der Erzählfluss damit unterbrochen worden wäre und dass das einfach nicht zu diesem Roman gepasst hätte. Der Erzähler bleibt immer sehr sehr dicht an seinen Figuren, und daher gibt es keine Erläuterungen oder Hinweise auf die "große Politik", sie ist einfach immer präsent. Trotzdem habe ich mich an einer Stelle gefragt, wie die Jungen darauf kommen, Göbbels als Mephisto darzustellen - das kam mir unvermutet und unvorbereitet. Ansonsten erfährt man die Politik ausschließlich in ihren Auswirkungen auf die Jungen - das finde ich erzählerisch sehr gekonnt!


    Überhaupt bin ich begeistert von der Art, wie Kross erzählt. Das mag Geschmackssache sein, durchaus, aber ich liebe einfach diese Bücher, die unspektakulär und ohne große Dramatik erzählen, wo die Geschichte ruhig und episch dahinfließt. Kross erzählt ausgesprochen lebendig, oft mit einem Augenzwinkern, er spricht den Leser immer wieder an und nutzt die Möglichkeiten des auktorialen Erzählens. Daher haben mir auch die Untertitel der einzelnen Kapitel, in denen die Handlung bereits zusammengefasst wird (allerdings auf einer Meta-Ebene), sehr gut gefallen.


    Ein ganz großer Lesegenuss!

    :study: Edvard Hoem, Der Heumacher.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).