Klappentext
Diese Geschichte eines Sexualmordes »ist ein Entwicklungs- und Abenteuerroman. Die Geschichte vom verlorenen Kind greift zurück auf einen Tatsachenbericht
aus dem »Neuen Pitaval«, einer Sammlung exemplarischer Kriminalfälle, der bereits Heinrich von Kleist den Stoff zu seiner Novelle »Michael Kohlhaas« entnommen hatte. Dieser Roman ist die erste und aufsehenerregendste Publikation von Rahel Sanzara (1894-1936). Er erschien 1926 und war damals das literarische Ereignis des Jahres. Seine Verfasserin war die berühmte Tanzerin, Schauspielerin und Gefahrtin von Ernst Weiß, der sie in seinem Roman »Franziska« verewigt und für die er sein Drama »Tanja« verfasst hat. Eigentlich hieß sie Johanna Bleschke. Ihr Künstlername Rahel Sanzara wurde ihr unter den Nationalsozialisten zum Verhängnis, die eine Jüdin in ihr vermuteten. Bis der Faschismus den Roman seines
Publikums beraubte, erlebte er mehrere Neuauflagen und Übersetzungen in elfSprachen.
»In ‚Das verlorene Kind‘ erzählt Rahel Sanzara von einer kleinen Welt, die an ihrer Ordnung zugrunde geht. Das Unglück bricht nicht von außen in diese Welt hinein, sondern wächst langsam und ruhig aus ihr hervor. Den Menschen des Romans ist die Fähigkeit, über sich nachzudenken, nahezu fremd. Sie zerbrechen nicht an versteinerten Verhältnissen, sie sind von Anbeginn gebrochen. Zunächst mag es so erscheinen, als ob das „ewig Böse“ in ihnen die Katastrophe anzettelte, aber sehr bald erkennt der Leser, dass die allesamt gutmütigen Leute an ihrer Sprachlosigkeit scheitern... Wenn die Autorin eine Wahrheit zu verkünden hat, dann ist es vielleicht diese: Die schreckliche Mordtat ist nur die Fortsetzung des bedrückend-provinziellen Alltags mit anderen Mitteln.« DER SPIEGEL
Diese Geschichte eines Sexualmordes »ist ein Entwicklungs- und Abenteuerroman zugleich. Sekundenschnelle Ereignisse sind ebenso greifbar nahe wie das Rieseln der
Jahre und Jahrzehnte. Außer Hamsun hat nur Adalbert Stifter Ähnliches geschaffen«, schrieb Ernst Weiß, dem immer wieder die Mitautorschaft an diesem Buch nachgesagt wurde. Dagegen wandten sich Gottfried Benn, Albert Ehrenstein und Carl Zuckmayer, die schon früh das Unverwechselbare und Eigenständige der Sprache Rahel Sanzaras erkannten.
»Das ist ein Buch von der Art, da man vergißt, es gelesen zu haben, da man glauben muss, man habe es geträumt oder wachend erlebt.« Carl Zuckmayer
Beobachtungen
Hier geht mehr als das Kind verloren. Alle verlassen sie die Bühne des Romans als Geschlagene, vom Leben Geschlagene. Sie begehren selten kurz auf, anschließend fahren sie fort mit dem, was nötig ist, was ihre Rolle ist, "dumpf" ist ihre Empfindung, alles kommt aus dem Schweigen und geht wieder ins Schweigen. Knapp 100 Jahre später wissen wir, dass man reden soll über das, was die Seele bewegt, es innerlich bearbeiten, zur Not sogar einen Therapeuten dafür um Hilfe bitten. Die Hauptpersonen des Romans können es nicht, kaum können sie ihre Not benennen. Nur der Leser und die Leserin ahnen hier und dort Trauma oder ein Kindheitsdrama. Verlustgefühle, Versagensängste, Furcht vor körperlicher Nähe, Beschädigungen - die Liste der Themen ist lang, die zu bearbeiten wären.
Stille Hauptfigur ist Christian, Patriarch auf einem Domänenbetrieb, den er nur zu Pacht hat, er führt ihn wie ein Gutsherr, überfordert sich in vieler Hinsicht. Das Buch beginnt mit dem Tode von Christians Vater und endet mit seinem eigenen Tod, da ist er 92, und alles was gewonnen worden war, ist wieder zerronnen. Gegenspieler könnte der Fritz sein, der "Bastard", der mit der Magd gekommen ist, dienend bis liebdienerisch tritt er auf.
Doch das Böse hebt ab und an sein Haupt in ihm, der Lesende weiß, wann es soweit ist: Wenn er sich selbst befriedigen muss. Kommt es schlimm, muss Blut fließen. So wird er zum Sexualmörder an der kleinen Anna, dem "Verlorenen Kind". Aber danach ist er wieder brav, bis es abermals in ihm losgehen will. Christian fühlt sich in seiner selbst gesuchten Rolle gedrängt, den Mörder seiner Tochter nach der Haft wieder bei sich aufzunehmen. Aber auch jetzt ist keine Chance da für Reden und Verstehen.
Fritz stirbt als Bösewicht mit einem letzen Schwall seines "ekligen" Blutes. Gut und Böse kämpfen in den Menschen, die die Autorin auftreten lässt, und das Gute hat keine Chance.
Bewertung
Mir gefällt, wie die Autorin die Gestalt des Fritz ohne tiefer gehende Deutungen lässt. Wir wissen, das Böse steigt plötzlich in ihm auf. Wir ahnen, in welchen Situationen das besonders leicht passieren kann. Ich kann mir selbst überlegen, was Fritz antreibt, Hinweise bekomme ich ja.
Ich habe mich oft in Spannung versetzt gefühlt, die Atmosphäre wollte und wollte sich aber nicht entladen, manchmal gibt es auch gar nichts, was sich entladen kann - aber die Spannung bleibt, Gewitterstimmung.
Dies ist kein Krimi. Ich sehe an den Figuren, wie namenloses Mächte namhaftes Unglück bringen, das über Menschen hereinbrechen kann. Erinnert an ein antikes Drama. Moral, Ethik, Religion oder psychotherapeutisches Verstehen helfen letztlich nicht weiter. Ob Reden wirklich weitergeholfen hätte?
Dass der allerletzte Eindruck des Romans das Bildnis der kleinen Anna ist, das geradezu verehrt wird, löst in mir Zufriedenheit aus. Das Opfer siegt, Anna. Schöner Schluss.