Pierre Lemaitre – Spiegel unseres Schmerzes / Miroir de nos peine

  • Klappentext/Verlagstext
    Das große Finale der Romantrilogie von Goncourt- Preisträger Pierre Lemaitre Im April 1940 glaubt in Frankreich niemand mehr an den Krieg, weder die Soldaten in ihren Bunkern noch die Pariser in ihren Cafés, und erst recht nicht Lehrerin Louise Belmont. Fast wird es gemütlich – bis die deutsche Wehrmacht durch die Ardennen vorrückt und Louises Leben völlig aus den Fugen gerät. Pierre Lemaitre erweckt mit Louise Belmont eine außergewöhnliche Heldin zum Leben und erschafft ein unvergleichliches Panorama jener Zeit. In Frankreich scheint die Zeit stillzustehen. Schon im September 1939 haben Frankreich und Großbritannien dem Deutschen Reich den Krieg erklärt, doch seitdem: nichts. Während sich an der Maginotlinie die feindlichen Truppen gegenseitig belauern, geht für die Bewohner von Paris der Alltag weiter. Man sitzt im Café, plaudert und spekuliert über die Zukunft. So auch bei Monsieur Jules, dem Restaurant in Montmartre, in dem die Lehrerin Louise an den Wochenenden kellnert. Doch dann überschlagen sich die Ereignisse: Louise wird mit einer unliebsamen Enthüllung konfrontiert, die ihr Leben auf den Kopf stellt, während der junge Soldat Gabriel mit den Konsequenzen einer überraschenden Beförderung zu kämpfen hat. Überrumpelt wird auch der Rest Frankreichs – und zwar von der deutschen Wehrmacht, die die Maginotlinie durchbrochen hat und Kurs auf Paris nimmt. Dann bricht Chaos aus, und nichts ist mehr so, wie es einmal war ...


    Der Autor
    Pierre Lemaitre, 1951 in Paris geboren, ist Autor mehrerer preisgekrönter Romane und Kriminalromane. Sein 2014 erschienenes Buch, »Wir sehen uns dort oben«, wurde mit dem wichtigsten französischen Literaturpreis, dem Prix Goncourt, ausgezeichnet.


    Inhalt
    Mehreren Schicksalssträngen folgt Lemaitre im Abschlussband seiner Trilogie. Louise arbeitet in der Woche als Lehrerin und bedient seit ihrer Jugend samstags im La petite Bohème des Monsieur Jules im Pariser Montmartre, wo sich regelmäßig als Stammgast Doktor Thirion einfindet. Monsieur Jules und Louise arbeiten als eingeschworenes Team zusammen, das Restaurant ist ohne sie so wenig vorstellbar wie der Patron und seine Aushilfe ohne einander. Louise erinnert sich noch an den kriegsversehrten Édouard, der im zweiten Band der Trilogie untertauchen musste, weil er mit einem Kumpel einen gigantischen Betrug mit Kriegerdenkmälern aufgezogen hatte. Von dem Moment an, auf den der Doktor nur gewartet zu haben scheint, um sich vor Louises Augen zu erschießen, entwickelt sich ein komplexes Familiendrama, das einen Bogen schlagen wird zu Louises Bruder Raoul, der an der Maginot-Linie als Elektriker bei den Pionieren eingesetzt ist. Raoul, der als König aller Schieber, Spieler und Kriegsgewinnler die gesamte Versorgung der Truppe zu kontrollieren scheint, teilt sich die Stube mit dem Mathematiklehrer Gabriel, dessen Dienstgrad: Fernmelder. Raoul lebt mehr als üppig davon, dass ohne Schnürbänder in den Stiefeln und ohne Prostitution keine Kriege zu führen sind. Beide Männer scheinen an der Front eine ruhige Kugel zu schieben, während ihre Altersgenossen ihr Leben riskieren. In Rouen ist derweil Rechtsanwalt Desiré Migault, frisch aus Paris eingetroffen, in einem Sensationsprozess aktiv. Als der Gerichtspräsident im Verzeichnis der Pariser Anwaltskammer keinen Migault finden kann, scheint dessen raffiniert ziselierte Identität zu Staub zu zerfallen.

    Neben der atmosphärisch gelungenen Darstellung von Louises Flucht vor der deutschen Wehrmacht aus Paris zeichnet Lemaitre ein makabres Bild von Hochstaplern und Schwarzhändlern, die in Kriegs- und Notzeiten immer auf die Füße zu fallen scheinen. Parallel dazu klärt sich das Schicksal von Louises Mutter Jeanne, die Anfang des 20. Jahrhunderts in einem bürgerlichen Haushalt diente, zu einer Zeit als der „gnädige Herr“ sich straflos an Dienstmädchen vergreifen und sie davonjagen konnte, nachdem er sie geschwängert hatte. Louise muss sich aus diesem Anlass mit dem „Weggeben“ von Kindern auseinandersetzen, mit dem die sexuelle Gewalt vertuscht wurde. Allein Jeannes Schicksal ermöglicht Lemaitres Lesern bereits einen neuen Blick auf die Kriegs- und Vorkriegszeit. Die Flüchtlingsströme führen die Figuren wieder zusammen, als Frankreich von den Deutschen besetzt wird. Es geht u. a. um kleine Rädchen im Getriebe, Heldenmut im Kleinen, den Zufall, ob jemand zum Opfer oder zum Antreiber der Ereignisse wird, und um das Schicksal von Kindern, die in Notzeiten verloren gehen.


    Fazit

    All das erzählt Lemaitre mit jenem Sprachwitz seiner Figuren, dem in der deutschen Übersetzung schon mal die Gäule durchgehen können. Wie bereits in „Wir sehen uns dort oben“ balancierte der Roman für meinen Geschmack haarscharf an der Grenze zur Pietätlosigkeit, mit der Kriegsteilnehmer und Kriegsopfer dargestellt wurden. Durch die komplexen Verbindungen der zahlreichen Figuren hatte ich den Eindruck, drei Romane in einem zu lesen. Der Epilog führt die Fäden schließlich zufriedenstellend zusammen und klärt, welche Orte und Ereignisse reale Vorbilder haben.

    :study: -- Damasio - Gegenwind

    :study: -- Ravik Strubel - Blaue Frau

    :musik: -- Catton - Gestirne; Rehear


    "The three most important documents a free society gives are a birth certificate, a passport, and a library card!" E. L. Doctorow

  • Trilogieabschluss mit leichten Schwächen

    1940 Frankreich. Der Zweite Weltkrieg ist zwar in vollem Gange, doch in Paris und dem Rest des Landes merkt man davon nichts, obwohl Frankreich gemeinsam mit Großbritannien Deutschland den Fehdehandschuh vor die Füße geworfen hat. Die Franzosen wiegen sich in Sicherheit, auch die Lehrerin Louise Belmont, die aushilfsweise im Monsieur Jules‘ Restaurant „La Petit Bohéme“ am Montmartre bedient. Als die Deutschen Paris mit ihrem Einmarsch überraschen und die Stadt im Handumdrehen übernehmen, ändert sich das Leben der Franzosen schlagartig, auch das von Louise Belmont…


    Pierre Lemaitre hat mit „Spiegel unseres Schmerzes“ den Abschlussband seiner historischen Trilogie vorgelegt, der sicher erneut mit Frankreich und der Zeit zwischen den Kriegen beschäftigt. Der detailreiche, anspruchsvolle und leicht ironische Erzählstil erlaubt dem Leser eine Zeitreise in die Vergangenheit, um dort nicht nur den Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Paris mitzuerleben, er wird gemeinsam mit Louise auch hautnah Zeuge eines Selbstmordes mitten im Restaurant und deren Flucht aus Paris. In einem weiteren Handlungsstrang hält sich der Leser an der Maginot-Linie auf, wo sich Louises Bruder Raoul mit viel Einfallsreichtum und Geschäftssinn als Schieber verdingt und dadurch nicht nur an Einfluss gewinnt, sondern praktisch in dem ganzen Drama wie ein Kriegsgewinnler erscheint. Das Frontgeschehen sowie die Handlungen im Militärgeschehen werden sehr bildhaft geschildert, doch es dauert eine ganze Weile, bis der Leser langsam die Zusammenhänge der Perspektivwechsel erkennt und nach und nach die Puzzleteile zusammensetzen kann. Detailverliebt und recht ausschweifend zeichnet Lemaitre seine Handlung gleich einem Gemälde, nur fehlen dieser der gewisse Pepp und die Spannung, die seinen beiden Vorgängerbänden zu Eigen war. Grundsätzlich aber verfehlt der Autor auch diesmal nicht sein Ziel, dem Leser mit seiner Geschichte die damalige Atmosphäre und genug Stoff zum Nachdenken zu vermitteln und gleichzeitig das Kopfkino anzuwerfen.


    Detailliert und mit eigenen Persönlichkeiten ausgestaltete Charaktere erscheinen lebendig und authentisch vor dem inneren Auge des Lesers, der ihre jeweiligen Schicksalswege verfolgt, bis sie sich am Ende zu einem vollständigen Bild zusammensetzen. Louise wirkt zu Beginn noch sorglos und selbstsicher, doch ändert sich das schlagartig, bringt Unsicherheit und Ängstlichkeit hervor. Doch unterschwellig wächst eine Stärke in ihr heran, die sie geradezu zur Heldin mutieren lässt. Raoul ist ein Schlitzohr, der den Krieg für seine Zwecke zu nutzen weiß. Aber auch Monsieur Jules, Gabriel, Dr. Thirion und Louises Mutter Jeanne besetzen wichtige Rollen in Lemaitres letztem Akt.


    „Spiegel unseres Schmerzes“ rundet mit einer komplexen in sich verwobenen Geschichte die Zwischenkriegs-Trilogie ab, wobei dieser Roman an den beiden Vorgängern in punkto Spannung und ironischem Witz nicht herankommt. Trotz allem lohnt sich die Lektüre, die eine Leseempfehlung verdient hat!


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    Bücher sind Träume, die in Gedanken wahr werden. (von mir)


    "Wissen ist begrenzt, Fantasie aber umfasst die ganze Welt."
    Albert Einstein


    "Bleibe Du selbst, die anderen sind schon vergeben!"
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