Ein Bordellroman? So haben ihn die Zeitgenossen in der Weimarer Republik wahrgenommen. Und gern gelesen. Ein Mädchen "nicht vom Stande" verguckt sich in einen Oberleutnant der kaiserlichen Armee, steckt ihm Geld zu, das sie auf dem Strich verdient. Dem Offizier gefällt's, er kommt auf den Geschmack, hatte ihn vielleicht auch schon vorher, dem "Katzerl" wie das Mädchen im Soldatenjargon tituliert wird, gefällt's auch, vielleicht auch schon vorher. Die Armee duldet keine Zuhälterei als Nebenjob.Der Oberleutnant fliegt aufs Ehrenrührigste raus, er startet neu durch als Bordellbetreiber, das "Katzerl" bleibt die Nummer eins - bis ein Dame namens "Mizzi" auftaucht. Von da ab ist es ein Eifersuchtsdrama und würde auch in einem anderen Milieu spielen können. Aber natürlich nicht so pikant das Ganze. Die Emotionen kochen hoch in "Tiere in Ketten", am Ende sind sie alle tot. Doch "Tiere"? Das fragt man sich beim Lesen in der Jetztzeit. Dem Autor ist aber diese Zuschreibung sehr wichtig, man lebte noch in festen Kategorien des bürgerlichen 19.Jahrhunderts, Siegmund Freuds Ideen über das Gefühlsleben waren längst noch nicht populär.
Die Erstfassung des Romans von 1918/22 war noch mit viel mehr Pathos angereichert als die heute noch erhältliche Romanform von 1930.
1922 war das Buch umfangreicher, der erste Satz lautete: "In dem Freudenhause einer kleinen Stadt lebte ein schönes Mädchen, das Olga hieß." 1930 liest man: "Das Haus Nr. 37 war nur nachts eine Spelunke. Tagsüber war es ein kleines, solides Wirtshaus." Der Tod des "Katzerls" wird 1930 in einem Satz beschrieben. 1922 steht dafür ein ganzes Kapitel zur Verfügung.
Wenn man kann, sollte man die erste Fassung lesen, und sich durch die Zumutung nicht abschrecken lassen, einen Kolportageroman vor sich zu haben. Man kommt mit ihr noch besser hinein in die Gefühlswelt der damaligen Leserschaft. Leider steht sie nur noch im Projekt Gutenberg online zur Verfügung.
Ernst Weiß (1882-1940) war ein österreichischer Arzt und Schriftsteller, er gilt als Autor des Expressionismus