Susin Nielsen - Adresse unbekannt / No Fixed Address

  • Ein Buch über sozialen Abstieg, Freundschaft und falschen Stolz – schweres Thema!

    Das Buch:


    Nach dem Lesen der Leseprobe war ich sehr gespannt darauf, wie die Autorin dieses wirklich schwere Thema der Obdachlosigkeit kindgerecht aufbereitet hat. Ich bedanke mich für den Gewinn des Buches beim Verlag und der Autorin.


    Worum geht’s?


    Der 12jährige Felix und seine Mutter Astrid leben in einem als Wohnmobil ausgebauten Bus. Anfänglich ist alles ein Abenteuer, ein Urlaub, aber bald schon wird klar, dass sich dieser Wohnsitz zur Dauerwohnung entwickelt. Grund hierfür ist unter anderem, dass Astrid keinen Job besonders lange behält und auch keinerlei Anstalten macht, sich an die Sozialbehörden zu wenden, aus Angst davor, dass man ihr ihren Sohn wegnehmen könnte.


    Auch seinen Freunden soll Felix nichts von ihrer Misere erzählen. Diese jedoch kommen eines Tages von selbst hinter das Geheimnis und halten trotz allem weiter zu Felix.


    Charaktere:


    Die drei Freunde Felix, Winnie und Dylan besuchen eine Schule mit Französischleistungskurs. Sie sind ganz normale Fast-Teenager, die man – jeden für sich irgendwie mögen muss. Über Winnie musste ich häufig schmunzeln. In ihrer unnachahmlichen Art hat sie mich an Hermine Granger erinnert. Alles weiß sie besser, hat immer das letzte Wort und will Felix und Dylan irgendwie erziehen. Dennoch ist sie dabei liebenswert. Das bemerkt auch Felix und obwohl sie ihn hin und wieder gewaltig nervt, löst sie in ihm auch warme Gefühle aus, Zuneigung.


    Felix mochte ich allerdings besonders. Trotz der wirklich nicht kindgerechten Umstände verliert er nicht seinen Humor. Er ist intelligent und schlagfertig. Oftmals tat er mir allerdings einfach leid, weil seine Mutter in meinen Augen einfach nicht die Reife besitzt, sich um ein Kind zu kümmern. Vielmehr ging sie mir mit ihrem falschen Stolz irgendwann gehörig auf die Nerven. Es ist deutlich wichtiger für sie, nach außen hin ein bestimmtes Bild zu wahren, anstatt sich Hilfe zu suchen. Außerdem finde ich es doch reichlich naiv zu glauben, dass sie sich im Job alles erlauben dürfe und nur ihre Chefs ihr wahres Talent nicht erkennen. Manches Mal habe ich mich ernstlich gefragt, wer von den beiden der Erziehungsberechtigte ist. Darüber hinaus finde ich es schon reichlich seltsam, wenn eine Mutter von ihrem Sohn mit dem Vornamen angesprochen werden möchte. Ich glaube, Astrid lebt in ihrer ganz eigenen Welt, die nicht viel mit der Realität oder Verantwortung zu tun hat. Ebenso ist ihr Konstrukt aus Lügen und Übertreibungen nicht unbedingt der Rahmen für die Erziehung eines 12jährigen.


    Umso mehr war ich positiv überrascht über Dylan und Winnie, die es letztlich mit ihrem Einsatz und ihrer Loyalität Felix gegenüber schaffen, die Situation zu entschärfen und mithilfe anderer Menschen Felix und Astrid wieder zu einer festen Bleibe verhelfen. Am Ende des Buches war ich mehr denn je davon überzeugt, dass die 3 Jugendlichen deutlich weiter in ihrer persönlichen Entwicklung sind, als es Astrid je sein wird. Sie wirkt auf mich wie eine Hippiefrau der 60er Jahre.


    Schreibstil:


    Das Thema des Buches ist zugegeben ein sehr schwieriges und für mich wäre es wohl auch eine Herausforderung, wenn ich meinem Sohn erklären müsste, was Obdachlosigkeit für ein Kind bedeutet. Dennoch wurde ich mit dem Buch die ganze Zeit nicht richtig warm. Mich interessierte der Fortgang der Geschichte durchaus, ich mochte die Jugendlichen und war immer wieder überrascht darüber, wie andere Menschen auf Felix reagiert haben. Aber dennoch hat mich die Geschichte nicht wirklich mitgerissen. Ich könnte hier nicht auf den Punkt sagen, warum genau das so war und möglicherweise sehen andere Leser dies auch völlig anders.


    Zwar konnte ich mir die Szenarien vorstellen, die Situationen in denen sich die Figuren bewegten, aber ich fühlte mich oft nur als Zuschauer, wie jemand der unbeteiligt daneben steht.


    Was ich jedoch als wirklich positiv hervorheben möchte, ist das Ende des Buches. Hier hat die Autorin Fragen zum Buch formuliert, die nicht ganz so leicht zu beantworten sind und vielleicht als Grundlage für eine Diskussion in größerer Runde dienen können. Da dieses Buch in gewisser Weise auch eine Sozialstudie ist, ein Thema, das Kinder und Jugendliche berühren soll, könnte ich mir durchaus vorstellen, dass in einem Fach wie Gesellschaft diese Fragen in der Schule diskutiert werden könnten. In jedem Fall jedoch regt Nielsen den Leser zum Nachdenken an.


    Neben allen sozialen Aspekten des Buches gelingt es der Autorin meiner Meinung nach wirklich toll, die zwischenmenschlichen Aspekte der Jugendlichen einzufangen. Das aufkeimende Interesse am anderen Geschlecht, die Nervosität, die damit einhergeht, wie wichtig es wird, dass man einen guten Eindruck macht usw. Diese Teile des Buches haben mir durchweg gefallen.


    Eignung für Kinder:


    Dieses Buch ist definitiv für ältere Kinder bzw. Jugendliche geeignet. Hier gibt es keine Illustrationen mehr und das Thema ist einfach zu schwer, um einfach als Unterhaltung zu dienen. Aus meiner Sicht regt das Thema und die Geschichte zum Nachdenken an, was mir sehr gefällt. Jedoch könnte ich mir vorstellen, dass gerade sensible Kinder durchaus einen Austausch im Anschluss an die Lektüre brauchen könnten. Die Geschichte kommt einer möglichen Realität sehr nahe, finde ich.


    Das Buch ist ein Hardcover mit etwas dickeren Seiten, weshalb es einem mehrfachen Lesen durchaus standhalten kann.


    Fazit:


    Der Leser muss sich auf die Geschichte einlassen wollen. Sie liest sich nicht einfach so weg und dient nicht ausschließlich als Unterhaltung. Vielmehr regt sie zum Nachdenken an. Insbesondere die Fragen am Ende des Buches unterstützen diesen Prozess. Ich kann dieses Buch nicht uneingeschränkt weiter empfehlen, aber wer sich mit diesem schwierigen Thema befassen möchte, ist hier ganz sicher richtig. 3 Sterne.

  • K.-G. Beck-Ewe

    Hat den Titel des Themas von „Susin Nielsen - Adresse unbekannt“ zu „Susin Nielsen - Adresse unbekannt / No Fixed Address“ geändert.
  • Die Autorin
    Susin Nielsen (geboren 1964) begann mit elf Jahren, ein Tagebuch zu führen, und zwar mit dem Hintergedanken, dass daraus eine Biografie entstehen könnte, wenn sie einmal eine bekannte Schriftstellerin geworden wäre. In der Tat hat sie zahlreiche Kinder- und Jugendbücher geschrieben, die mit Preisen überhäuft und in viele Sprachen übersetzt wurden. Manche nennen sie auch den »John Green von Canada«. Sie lebt mit ihrer Familie und zwei frechen Katzen in Vancouver.


    Inhalt

    Der 12-jährige Felix Knutsson sitzt auf einer Polizeiwache in Vancouver/Kanada und versucht Constable Lee zu erklären, warum er mit seiner Mutter in einem alten Volkswagen-Westfalia-Bus lebt. Ein halbes Jahr zuvor hatte Astrid Knutsson nach einem Abstieg in mehreren Etappen mal wieder ihren Job verloren, weil sie den Mund nicht halten konnte. Nach jeder Etappe musste Felix in einer neuen Schule wieder von vorn beginnen und dabei nach außen verbergen, dass sie beide obdachlos sind. Dass der Junge immer die selben Kleidungsstücke trägt und ständig hungrig ist, ist nicht übersehen. Seine besten Freunde Winnie und Dylan ahnen längst, warum sie Felix nicht besuchen können und er mit ihnen stets komplizierte Treffpunkte in der Stadt ausmacht.

    Astrid Knutsson sieht sich selbst als Künstlerin und hat ein seltenes Talent, sich die Dinge schön zu reden. Für Felix ist unvorstellbar peinlich, wie Astrid sich die Dinge zurechtbiegt, denn andere zu belügen ist das Schlimmste, das man von Felix fordern kann. Wie peinlich es für einen 12-Jährigen sein muss, einer Polizistin zu gestehen, dass seine Mutter pleite ist und ihr Leben nicht mehr allein auf die Reihe bekommt, ist nicht schwer zu begreifen. Im vergangenen Sommer ergab sich für Felix überraschend ein Hoffnungsstrahl, als er zur Junior-Version von Kanadas populärster Quizshow eingeladen wurde, in der er einige Tausend kanadische Dollar gewinnen könnte. Als wandelndes Lexikon mit exzellentem Wissen aus Fernsehkrimis ist Felix die Idealbesetzung für eine Quizshow. Doch wer sich in der Schultoilette waschen muss und nie sicher sein kann, ob er sein Handy rechtzeitig aufladen kann, lebt gefährlich. Was passiert, wenn der Sender Felix nicht erreicht oder ein Brief nicht zugestellt werden kann, weil Astrid den Bus gerade mal wieder umgeparkt hat, damit sie niemandem auffallen? Ob Felix es rechtzeitig in die Show schafft und ob seine Geschichte ein gutes Ende findet, ist eine spannende Geschichte, an der Dylan, Winnie, Mr Ahmadi aus dem Gemüseladen und Vijay mit dem Turban, der beste aller Sozialarbeiter, ebenfalls ihren Anteil haben.


    Fazit
    Susin Nielsen hat einen respektvollen Weg gefunden, Obdachlosigkeit von Kindern zu beschreiben. Wie sie jungen Lesern Felix Scham nahebringt und die ungeheure Kraft, die es kostet, aus Loyalität gegenüber Erwachsenen vorhandene Hilfsangebote auszuschlagen, finde ich großartig. Ebenso, dass sie die Gefahren nicht beschönigt, die das Leben auf der Straße mit sich bringt. Wie Felix rückblickend seine Mutter beschreibt, empfinde ich als besonderes Highlight, die ja konstant gegen Felix Werte handelt und ihn zum Vertuschen der Misere zwingt. Ebenso respektvoll schildert die Autorin Kanada als multikulturelles Land, in dem Diversität und unkonventionelle Lebensweisen selbstverständlich ihren Platz finden.


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    :study: -- Damasio - Gegenwind

    :study: -- Naylor - Die Stimme der Kraken

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    "The three most important documents a free society gives are a birth certificate, a passport, and a library card!" E. L. Doctorow

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    Die Autorin hat schon vor vielen vielen Jahren die Bücher zur Serie "Degrassi Junior High" geschrieben, eine kanadische Highschool-Serie, die ich als Jugendliche sehr gern geschaut habe, leider wird das seit vielen Jahren nicht mehr wiederholt.

    Dort ging es nicht nur um den 1. Freund und schlechte Noten, sondern wo die Schüler teilweise auch aus sozial benachteiligten Familien stammten und die Themen dementsprechend auch etwas ernster waren.


    Einem solchen Thema widmet sie sich auch in "Adresse unbekannt". Felix und seine Mutter rutschen immer mehr in die Armut ab und leben mittlerweile in einem Campervan.

    Und so wie Felix ihren Weg dorthin beschreibt, kann das tatsächlich so gut wie jeden treffen.

    Damit Felix trotzdem eine gute Schulbildung erhält, und sie vor allem nirgendwo auffallen und das Jugendamt auf den Plan rufen, müssen sie sich immer wieder "durchschummeln".


    Bereits zu Beginn erfährt man, dass sie dennoch irgendwann bei der Polizei landen. Und Felix erzählt dann rückblickend seine Geschichte. Das ist alles einen Hauch bedrückend zu lesen, da man ja schon weiß wo es hinführen wird - aber nicht unbedingt wieso, und vor allem weiß man nicht wie es endet. Doch nur weil es ein Jugendbuch ist kann ich nicht automatisch davon ausgehen, dass schon alles gut gehen wird. Obwohl ich es mir natürlich sehr für Felix und seine Mutter gewünscht habe!


    Insgesamt fand ich das Buch super! Zum einen weil es wirklich gut geschrieben ist, weil die Geschichte spannend ist, weil sie authentisch wirkt auch ohne dass ich ähnliches aus meinem persönlichen Umfeld kenne. Aber ich kann mir gut vorstellen, dass auch hierzulande eine Situation wie die von Felix und seiner Mutter leicht möglich ist. Und genau deshalb ist es auch gut, dass es darüber mal ein Buch für Jugendliche gibt, denn auch die können und sollen wissen, wie das Leben für manche Menschen aussieht. (Und wie ein bisschen Unterstützung doch schon einen Unterschied machen kann).

  • Eine Bereicherung für Kinder und Erwachsene


    Der zwölfjährige Felix lebt zusammen mit seiner alleinerziehenden Mutter Astrid in einem Camping-Bus. Das Buch beginnt damit, dass er nachts auf einer Polizeiwache der diensthabenden Polizistin die ganze Geschichte erzählt, wie es so weit gekommen ist. Vom Anfang, als es sich noch wie Urlaub anfühlte, bis jetzt – vier Monate später. Felix hat die Polizei gerufen, als sie in eine bedrohliche Situation geraten waren.


    Die Geschichte eines sozialen Abstiegs, wie er nahezu jedem passieren kann, aus der Sicht eines Zwölfjährigen ist sehr einfühlsam und zum Nachdenken anregend erzählt. Das Ganze kommt dabei weder belehrend noch tiefschwarz daher. Es gibt dabei sogar Szenen zum Schmunzeln. Das Ganze hat ein zufriedenstellendes Ende, ohne schnulzig zu werden.


    Stellenweise fragt man sich sogar: Wer ist hier der Erwachsene, Felix oder seine Mutter? Man kann sie jedoch nicht verurteilen. Sie kämpft auf ihre Weise und ist in den kleinen „Überlebens“-Dingen sogar sehr gewitzt und geschickt und sie liebt Ihren Sohn über alles. Außerdem sind da noch seine Freunde, denen er zuerst vorgaukelt, in einem ganz normalen Zuhause zu leben, die erstaunlich reif reagieren, als sie die Wahrheit erfahren.


    Dieses Buch ist sowohl für Kinder ab etwa elf Jahren als auch Erwachsene eine Bereicherung.


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