Klappentext (Quelle: Klappentext Hardcover):
Archibald Ferguson heißt der jugendliche Held von Paul Austers neuestem Roman, und er kommt darin gleich viermal vor – in vier raffiniert verwobenen Variationen seines Lebens, ganz nach dem Motto: Was wäre geschehen, wenn …? So entwirft Auster ein grandioses, episches Porträt der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Amerika, einen Roman, in dem seine wichtigsten Themen versammelt sind - sein Opus magnum.
Über den Autor (Quelle: Schutzumschlag Hardcover)
Paul Auster wurde 1947 in Newark, New Jersey, geboren. Er studierte Anglistik und vergleichende Literaturwissenschaften an der Columbia University und verbrachte nach dem Studium einige Jahre in Frankreich. International bekannt wurde er mit seinen frühen Romanen 'Im Land der letzten Dinge' und der 'New-York-Trilogie'. Heute lebt er in Brooklyn. Er ist mit der Schriftstellerin Siri Hustvedt verheiratet und hat zwei Kinder. Sein umfangreiches, vielfach preisgekröntes Werk umfasst neben zahlreichen Romanen auch Essays und Lyrik sowie Übersetzungen zeitgenössischer französischer Lyrik.
Mein Leseeindruck:
Auf Seite 722 heißt es über die Hauptfigur Archibald Ferguson
Zitat„...begriff er, dass die Welt aus Geschichten bestand, so vielen verschiedenen Geschichten, dass, würde man sie alle in einem Buch versammeln, das Buch neunhundert Millionen Seiten hätte.“
Einige dieser unzählig vielen Geschichten der Welt erzählt Paul Auster in seinem Buch. Und wie er das macht, hat mich einfach nur begeistert.
In vier verschiedenen Erzählsträngen hat der Autor ein grandioses Lebens-, Gesellschafts- und Zeitportrait in den USA der 50er und 60er Jahre geschaffen. Es hat eine Weile gedauert bis ich so richtig durchschaut habe, dass nacheinander in jeweils vier unterschiedlichen Erzählsträngen ein bestimmtes Kapitel aus dem Leben der Hauptfigur Archibald Ferguson erzählt wird. (Es gibt quasi Kapitel 1 in vier verschiedenen Varianten, danach Kapitel 2 in vier verschiedenen Varianten usw.. Ich habe mir Notizen zu den einzelnen Strängen gemacht, um mich schneller wieder in der jeweiligen Lebensvariante zurechtzufinden.)
In diesen vier Erzählsträngen lässt der Autor seine Figur unterschiedliche Wege einschlagen, verschiedenste Entscheidungen treffen und unterschiedlichste Begegnungen erleben, die in ihrer Summe die Vielfalt des Lebens aufzeigen. Von Kapitel zu Kapitel entwickelt sich Ferguson weiter, lässt allmählich die Kindheit hinter sich, durchlebt die Wirrungen der Pubertät, die Freuden und Leiden der Liebe, löst sich langsam von seiner Familie und beschreitet seinen eigenen Lebensweg. Dabei wird deutlich, dass es nicht den einen Weg zu Glück und Zufriedenheit gibt, sondern das Leben unendlich viele Varianten und Möglichkeiten bereithält.
Das Buch zu lesen war, wie nicht nur in ein Leben einzutauchen, sondern in mehrere Varianten eines Lebens: mit unterschiedlichen Entwicklungen der Hauptfigur; mit wechselnden Sympathien – mal mag man Ferguson sehr, im nächsten Strang ist er unsympathisch, wobei sich das mit fortschreitendem Alter auch wieder ändert; mit verschiedenen Konstellationen von Familienmitgliedern, Freunden und Mitmenschen, die in jedem Handlungsstrang auftauchen aber in anderem Verhältnis zu Ferguson oder untereinander stehen; mit unterschiedlichen Interessen und Vorlieben des Protagonisten und mit unterschiedlichem Fokus auf die zeitgeschichtlichen Geschehnisse. Mal steht die Politik, mal der Sport, mal die Welt der Kunst, Musik, Literatur oder des Films im Vordergrund. Mal bilden nationale, mal lokale Ereignisse den Hintergrund des jeweiligen Erzählstrangs. Dies wirft zum einen sehr vielseitigen und unheimlich interessanten Blick auf das Zeitgeschehen der 60er Jahre in den USA mit dem nationalen Trauma der Ermordung John F. Kennedys, den Rassenunruhen, dem Vietnamkrieg, dem Konflikt zwischen Kriegsgegnern und -befürwortern, der Bürgerrechtsbewegung, den Black Pantern, den Studentenprotesten oder mit dem Attentat auf Martin Luther King. Zum anderen werden nicht nur unterschiedliche Varianten von Lebenswegen des Protagonisten gezeigt, sondern auch von den Menschen, die sein Leben mitbestimmen und gestalten, was das Leben und den Alltag in der damaligen Zeit sehr greifbar macht. Es geht um Familie, um Freunde, um Liebe, um Sex, um das Heranwachsen und Pubertät, um Sport, um Musik, um Kunst, um Reisen, um Literatur, um Sprache, um Filme, um Politik, um Arbeit, um das Finden seines Lebenswegs, um Einsamkeit, um Glück, um Tod, um Trauer, um Enttäuschungen, um Hoffnungen - vielseitig, facetten- und umfangreich und dabei niemals oberflächlich.
Trotz der verschiedenen Varianten gibt es in jedem Erzählstrang einige Konstanten, wie z. B. die Familie; ein Mädchen, das sein Leben immer wieder sehr stark beeinflusst; die absolute Hingabe und Liebe zu Literatur und Sprache; den Bezug zu New York mit seinen Vierteln, Läden, Bars, Restaurants und Universitäten sowie Paris als Zuflucht und Inspirationsquelle. Mit Blick auf den Lebenslauf des Autors finden sich einige Parallelen im Buch wieder.
Anfangs musste ich mich an Austers doch relativ weit ausholenden Schreibstil gewöhnen - zwischendurch dachte ich mir, dass ein Punkt als Satzzeichen vielleicht auch mal gut täte - aber nach den ersten 100 Seiten gefiel es mir immer besser. Mich hat begeistert, wie der Autor Emotionen und Gefühle seiner Figuren beschreibt, so dass ich intensiv an deren Leben und Gefühlen teilnahm. Wunderbar seine Fähigkeit, Ereignisse und Situationen zu schildern, so dass man diese im Kopfkino so richtig lebendig vor sich sehen konnte. Jeder der vier Fergusons wuchs mir während des Lesens ans Herz - ich habe mich mit ihm gefreut, mit ihm gebangt, mit ihm gelitten und über das ein oder andere Schicksal, das der Autor seiner Figur zukommen lässt, wirklich bittere Tränen vergossen.
Neben der ungewöhnlichen Erzählweise mit den vier Handlungssträngen fand ich auch noch andere stilistische Mittel faszinierend: Plötzlich tauchte eine Kurzgeschichte mitten im Text auf, dann wieder ein Gedicht, ein Witz oder ein Filmzitat, welche die jeweilige Situation oder Stimmung noch mehr verstärkten oder hervorhoben. Faszinierend waren außerdem die vielen im Text erwähnten Bücher, Filme und Musikstücke, die Lust darauf machen, diese für sich selbst zu entdecken (beim nächsten re-read schreibe ich mir alle im Buch genannten Werke raus und werde diese mal recherchieren ). Am Ende des Buchs hat der Autor eine ziemliche Überraschung parat, zu der ich hier gar nicht so viel sagen möchte, die aber in meinen Augen wirklich gelungen ist. Großen Respekt auch an die Übersetzer, die es hervorragend geschafft haben, die manchmal über eine halbe Seite langen und teilweise verschachtelten Sätze sehr verständlich und klar zu übersetzen, so dass der Lesefluss immer erhalten blieb.
Ein sehr interessanter, vielseitiger und unterhaltsamer Backstein, der mir viele schöne Lesestunden beschert hat und die vollen verdient. Definitiv werde ich dieses Buch irgendwann noch einmal lesen und Paul Auster auf jeden Fall auf dem Schirm behalten.