Karine Tuil – Menschliche Dinge / Les Choses Humaines

  • Klappentext/Verlagstext

    Die Farels sind schön und reich, haben Einfluss und Macht: Jean Farel ist ein prominenter Fernsehjournalist, seine Frau Claire eine Intellektuelle, bekannt für ihr feministisches Engagement. Ihr Sohn Alexandre, gutaussehend, sportlich, eloquent, studiert an einer Elite-Uni. Eine Familie wie aus dem Bilderbuch, könnte man meinen. Doch eines Morgens steht die Polizei bei den Farels vor der Tür, eine junge Frau hat Anzeige wegen Vergewaltigung erstattet. Die glanzvolle gesellschaftliche Fassade zeigt gefährliche Risse. Inspiriert vom "Fall Stanford" und vor dem Hintergrund der #MeToo-Debatte, erzählt Karine Tuil in Menschliche Dinge von den Auswüchsen einer Gesellschaft, die auf Leistung und Selbstdarstellung getrimmt ist, in der sich jeder nimmt, was er haben will.


    Die Autorin
    Karine Tuil, geboren 1972, Juristin und Autorin mehrerer gefeierter Bücher, darunter der Roman "Die Gierigen". Zuletzt erschien ihr vielbeachteter Roman "Die Zeit der Ruhelosen", der in zahlreiche Sprachen übersetzt wurde. Karine Tuil lebt mit ihrer Familie in Paris.


    Inhalt

    Claire Farel hat als Kind die Erfahrung gemacht, dass Familien wegen eines einzigen Moments zerbrechen können und die Beteiligten alles verlieren - Ruf, Vermögen und Familie. Nach einem unsteten Leben ist sie inzwischen erfolgreiche Autorin und karrieretechnisch klug mit einem erheblich älteren Fernsehjournalisten verheiratet. Eine Trennung von Jean Farel würde die Ängste ihrer Kindheit zurückbringen, dass ihre Gönner Partei für ihren Mann ergreifen und sie allein zurückbleibt. Jean sieht sich nüchtern als Mentor, der sehr jungen Frauen Karrieretüren öffnet und sich durch deren Anwesenheit verjüngt. Zur Imagepflege benötigt eine TV-Ikone in erster Linie die Fassade von Familie. Claire hat das Spiel bisher mitgespielt und beide Partner haben davon profitiert. Mit inzwischen über 70 hat Jean den passenden Moment verpasst, seine Karriere zu beenden. Er wäre zu allem bereit, um seine Sendung zu behalten. Auch er fürchtet, fallengelassen zu werden, wenn andere keinen Nutzen mehr in ihm sehen.


    Als Claire den Lehrer Adam kennenlernt, konfrontiert sie das mit Frankreichs konservativem jüdischen Milieu, in dem die Ehe als heilig und die Rollenverteilung zwischen Mann und Frau als unverrückbar gelten. Adam hat als Sohn von Einwanderern aus Nordafrika mit seinem Aufstieg die Träume seiner Eltern verwirklicht. Claire und Adam wollen formal an ihren Ehen und Familien festhalten. Sie sehen eine Ehe als Vertrag, den man einhält und von Gefühlen trennt. Schließlich muss sich doch die Patchwork-Familie mit Claires Sohn Alexandre und Adams Töchtern zusammenraufen. Alexandre, hochintelligent und hochsensibel, interessiert sich allein dafür, wer ihn versorgen wird. Als die bisher behütet aufgewachsene Mila mit ihrem Patchwork-Bruder ausgehen darf, erwarten alle, dass Alexandre sich wie ein Bruder verhalten wird. Der Abend endet mit Alkohol, Drogen und einvernehmlichem Sex, wie Alexandre vor Gericht aussagen wird, nachdem Mila ihn wegen Vergewaltigung angezeigt hat. Wenige Monate nach dem Weinstein-Skandal stehen sich vor Gericht Mitglieder zweier Familien gegenüber mit höchst gegensätzlichen Startchancen. Mila vertritt entschieden die Position, Alexandre hätte wissen müssen, dass sie keinen Sex wollte. Der wiederum sieht sich selbst als Opfer und entlarvt sich als völlig unfähig zur Empathie. Dass andere Menschen andere Wünsche haben als er, ist in seinem Universum nicht vorgesehen.


    Fazit

    Auch wenn die Vorgeschichten Claires und Jeans sehr breiten Raum einnehmen, läuft Tuils hochaktueller Roman direkt auf die Frage zu, wie eine Familie und eine Gesellschaft einen Mann wie Alexandre als Opfer stilisieren kann. Deutlich angelehnt an den Stanford-Fall (2016) mit seiner Vorverurteilung des Opfers zeichnet Karine Tuil in präzisem Stil eine Gesellschaft hinter bürgerlicher Fassade, in der Menschen instrumentalisiert werden und junge Männer sich das nehmen, von dem sie meinen, es stünde ihnen aufgrund ihrer Herkunft zu. In Folge der MeToo-Bewegung wurde der Konsens gekündigt, dass Frauen sich dem zu fügen haben. Eingebunden u. a. in die Lebensrealität jüdischer Franzosen steht hier das hochaktuelle Thema des Falscher-Konsens-Effekts im Mittelpunkt, der Annahme Alexandres, selbstverständlich würden alle so denken und handeln wie er und ein Austausch über persönliche Wünsche wäre quasi überflüssig.


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    :study: -- Damasio - Gegenwind

    :study: -- Ravik Strubel - Blaue Frau

    :musik: -- Catton - Gestirne; Rehear


    "The three most important documents a free society gives are a birth certificate, a passport, and a library card!" E. L. Doctorow

  • Das Buch wird von der #MeeToo Debatte geprägt. Anfangs wird über des Leben der Familien Farel und Wizman geschrieben. Das ist für den Lauf der Gerichtsversammlung wichtig, denn aus dem verschiedenen sozialen Hintergrund entsteht die verschiedene Sichtweise auf die Geschehnisse. Im zweiten Teil geht es hauptsächlich um die Gerichtsversammlung nach der Vergewaltigung.

    Mich hat das Buch gefesselt. Karine Tuil ist es gelungen die verschiedenen Sichtweisen und Lebensumstände sachlich darzustellen ohne reißerisch zu werden. Das Buch regt zum Nachdenken über die Rolle der Sexualität in unsere Gesellschaft an. Besonders haben mich die Schlussplädoyers der beiden Anwälte beeindruckt. Beide haben recht, obwohl sie komplett andere Sichtweisen auf das Geschehen haben. Im letzten Kapitel wird die schöne neue Welt ohne sexuelle Belästigung dargestellt. Aber wollen wir so leben? Es muss doch einen vernünftigen Mittelweg geben.

    Das Buch wurde von den Fall Stanford, der 2016 in den Vereinigten Staaten für große Aufmerksamkeit sorgte, inspiriert.

    Das Buch bekommt von mir 5 Sterne und eine Leseempfehlung. Karine Tuil werde ich im Auge behalten, zumal es das zweite Buch von ihr ist, dass mich begeistert hat.

    Sub: 5537:twisted: (Start 2024: 5533)

    Gelesen 2024: 14 / 1 abgebrochen

    gelesen 2023: 55/ 2 abgebrochen / 26075 Seiten

    gelesen 2022: 65 / 26292 Seiten

    gelesen 2021: 94 / 1 abgebrochen / 35469 Seiten


    :montag: Anders Roslund - Engelsgabe

    :study: John Katzenbach - Der Wolf


    Lesen... das geht 1 bis 2 Jahre gut, aber dann ist man süchtig danach.

  • Zwei Seiten einer Medaille

    2016. Der 70-jährige Politik-Journalist Jean Farel ist schon lange für seine TV-Sendungen berühmt und lebt mit seiner 27 Jahre jüngeren Ehefrau Claire, einer ebenfalls bekannten und nicht gerade öffentlichkeitsscheuen Feministin in Paris, während der 21-jährige Sohn Alexandre in Kalifornien an der Stanford Universität studiert. Während Jean bei einer exklusiven Abendveranstaltung vom französischen Präsidenten für besondere Verdienste den Orden der Ehrenlegion überreicht bekommt, feiert Alexandre mit Studienfreunden ausgelassen eine Party, die zur Folge hat, dass die Welt der Farels mit dem Auftauchen der Polizei vor ihrer Haustür am nächsten Morgen in Stücke fällt…


    Karine Tuil hat mit „Menschliche Dinge“ einen intelligenten und hochspannenden Roman vorgelegt, in dem sie mit ihrer Geschichte die heutige Gesellschaft sehr genau und kritisch unter die Lupe nimmt und deren Eigenschaften wiederspiegelt. Angelehnt an die großen Sexismus-Skandale der Gegenwart wirkt die Handlung sehr glaubwürdig und gewährt dem Leser nicht nur Einblick hinter die Kulisse in das Gefüge der Familie mit all ihren Gedanken und Gefühlen, sondern auch in den sehr öffentlich ausgetragenen Umgang der Gesellschaft mit den Vorkommnissen. Dabei schwankt man als Leser immer zwischen zwei Seiten hin und her, denn aus der Sicht der Männer ist es neben Macht und Geld ein Spiel um Selbstgerechtigkeit und Selbstdarstellung, während es bei den Frauen oftmals Selbstbestimmung, verletzter Stolz oder auch verschmähte Liebe ist. Beide Seiten sind durch die Natur der Menschen durchweg nachvollziehbar, wenn auch nicht zu goutieren. Mit wechselnden Perspektiven gelingt es der Autorin, die unterschiedlichen Auffassungen des Vorfalls an den Leser zu bringen, der dazu „verdammt“ ist, selbst abzuwägen, auf welcher Seite er steht. Doch so einfach ist es dann doch nicht, denn aufgrund unserer jeweiligen Erziehung und Position in der Gesellschaft neigt man leider nur zu oft dazu, sich auf eine Seite zu schlagen und sich eine Meinung zu bilden, ohne der Gegenseite genug Gehör geschenkt zu haben. Gerade diese Tatsache führt dazu, dass ganze Existenzen allein auf Hörensagen zerstört werden und die Betroffenen fortan als personae non gratae in dieser Gesellschaft gelten. Tuil hat ihren Spannungsbogen gemächlich angelegt, zieht aber im Verlauf der Handlung die Fäden immer mehr an, so dass der Leser bis zum Ende an den Seiten klebt.


    Die Charaktere sind sehr glaubwürdig und authentisch inszeniert, so dass sie wie aus der Realität gegriffen wirken. Jederzeit kann man als Leser auf sie treffen, ob sie einem sympathisch sind, ist eine andere Frage. Jean Farel hat sich sein Ansehen und Ruhm hart erarbeitet, was ihm eine gewisse Aura der Arroganz sowie Egoismus verleiht. Er fühlt sich überlegen und unantastbar, ist kein Kostverächter, denn das Eheleben mit Claire ist Fassade. Claire ist ebenfalls erfolgreich, doch wird sie am Ende ihren eigenen Ansprüchen nicht gerecht, da sie zwar nach außen gepredigt, aber innerlich das Gegenteil getan hat. Alexandre ist ein intelligenter und fleißiger junger Mann, der dem Druck seiner Eltern gerecht werden möchte, doch seine Unsicherheit und Sensibilität ihm dabei im Weg stehen. Aber auch Mila und ihre Mutter sowie weitere Protagonisten runden mit ihren Auftritten diesen Roman ab.


    Mit „Menschliche Dinge“ ist Karine Tuil eine meisterhafte Gesellschaftsstudie der heutigen Zeit in Romanform gelungen, die dem Leser noch lange im Gedächtnis bleiben wird. Es gilt beide Seiten einer Medaille zu betrachten und Raum für Möglichkeiten miteinzubeziehen, bevor man vorschnell ein Urteil fällt. Die kontroverse Betrachtung des Umgangs zwischen Männern und Frauen ist heutzutage wichtig, um dauerhaft an sich zu arbeiten und Werte zu leben. Absolute Leseempfehlung!


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    Bücher sind Träume, die in Gedanken wahr werden. (von mir)


    "Wissen ist begrenzt, Fantasie aber umfasst die ganze Welt."
    Albert Einstein


    "Bleibe Du selbst, die anderen sind schon vergeben!"
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    gelesene Bücher 2020: 432 / 169960 Seiten