Lorenz Just – Am Rand der Dächer

  • Klappentext/Verlagstext
    Im großen Berliner Zimmer beginnt die Freundschaft von Andrej und Simon. Dort ritzen sie ihre Initialen ins Holz der Fensterbank und von dort aus begeben sie sich auf den langen Streifzug durch die Straßen ihres Viertels. Während Berlin-Mitte durch den Elan der herbeiströmenden Alteigentümer, Unternehmerinnen, DJs und DJanes, Kunst- und Abenteuerlustigen zu neuem Leben erwacht, gleiten die Kinder auf den Wegen ihrer Jugend an den Rand des Geschehens. Durch verwinkelte Hinterhöfe und den chaotischen Leerstand, in die Sackgasse der Kleinen Ham­burger Straße, wo sie den Anfang und das Ende der Besetzung der Nr. 5 beobachten, bis auf die Dächer, auf denen sie fern der Welt ganze Nachmittage verbringen. Als die alten Häuser hinter neuen Fassaden und die Flachdächer unter den Dachterrassen der neuen Bewohner mehr und mehr zu verschwinden beginnen, geraten sie auf immer bedrohlichere Abwege. In seinem Romandebüt verwebt Lorenz Just das Aufwachsen seiner Figuren mit der rasanten Veränderung, die aus dem Berlin-Mitte der Wende das Berlin-Mitte der Nullerjahre werden ließ. Fernab gefestigter Geschichtsbilder vom wilden Berlin und den Träumen der Selbstverwirklicher erzählt er von jener fragilen Freiheit, die in den Neunzigern eine ganze Generation geprägt hat.


    Der Autor

    Lorenz Just, geboren 1983 in Halle an der Saale, zog 1988 mit seiner Familie nach Berlin und wuchs dort auf. Nach seinem Islamwissenschaftsstudium in Halle und verschiedenen Auslandsaufenthalten studierte er von 2011 bis 2015 am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. 2015 erschien sein Jugendbuch ›Mohammed. Das unbekannte Leben des Propheten‹, 2017 sein hochgelobter Erzählband ›Der böse Mensch‹. Er lebt in Berlin.


    Inhalt

    Andrej wächst mit zwei Brüdern und seinem besten Freund Simon im Ost-Berlin der 90er auf. Die Jungen streifen - weitgehend frei von der Kontrolle Erwachsener - durch Hinterhöfe und vorbei an grasüberwuchertem Brachgelände. Miteinander verbundene Dächer und Dachböden sind ihr Spielplatz. Von dort oben lässt sich die Veränderung eines Stadtviertes verfolgen, in dem bisher Mietshäuser 50 Jahre lang unrenoviert verwitterten. Renovierte Hausfassaden erobern nun das Viertel, Farbe verdrängt grauen Putz. Baugerüste erweitern zunächst den Zugang zu neuen Abenteuern während der Renovierungsarbeiten. Die Wege über die Dachböden von Nachbarhäusern sind plötzlich unterbrochen von ausgebauten Dachgeschossen; Leute, die hier einziehen, haben offenbar viel Geld. Aus der Vogelperspektive blicken die Jungen durch Dachfenster in feudale Lofts, Dachgauben wurden zu Balkons ausgebaut, die oberen Stockwerke sind unerwartet auch für Erwachsene wertvoll geworden.


    Freundschaft, Streit unter Brüdern, Streiche Jugendlicher, die nah am Rand der Kriminalität balancieren, Andrejs erste Liebe Annika, diese Stichworte könnten nach einem Coming-of-Age-Roman klingen. Für westdeutsche Leser verblüffend wirkt die Übernahme einer Generation durch US-Amerikanische Filme und Werte, etwas das Andrej von seinen älteren Brüdern unterscheidet. Sein Jahrgang wird vom Schüleraustauch mit den USA träumen und verdrängen, dass die Einschusslöcher in Berliner Häuserfassaden nicht von amerikanischen Helden stammen. Die äußerlichen Veränderungen seines Kiezes durch Hausbesetzer und Haubesitzer nimmt der Junge zunächst nur wahr, wo sie seine kindlichen Abenteuer betreffen. Folgen der Gentrifizierung - auch für seine Familie - werden ihm und seinen Kumpels erst später bewusst geworden sein. Sein nüchterner Blick auf die Architektur und Bausubstanz wirkt für ein Kind zunächst ungewöhnlich. Andrej erinnert sich an seine Ost-Berliner Jugend aus der Distanz des Erwachsenen und in dessen Duktus. Wenn Andrej die Einschlusslöcher in Hausfassaden aus dem Zweiten Weltkrieg nahtlos in seine Spiele und Phantasien integriert, ist er ganz das Kind, das noch nicht versteht, was es in der Schule tun soll und vor allem, welche Person es dort sein soll. Eine Gedankenwelt, für die Erwachsene in der Zeit nach der Wende vielleicht zu wenig Energie aufbringen konnten. Renovierungsstau und Mangelwirtschaft führten in der DDR zu einer unendlichen Geschichte der Unzufriedenheit, zunächst nur hinter vorgehaltener Hand gezischt. Die restaurierten Fassaden, die Andrejs Welt erobern, vermitteln daher eine eigene zweischneidige Symbolik.


    Fazit

    „Am Rand der Dächer“ zeichnet das Ende einer Ost-Berliner Kindheit in der Nachwendezeit. Der Übergang von Erinnerungen an die Hinterhöfe der Kinderzeit zur Perspektive des erwachsenen Berichterstatters gelingt Lorenz Just äußerst glaubwürdig und mit einem speziellen Blick auf die Architektur der Stadt.


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    :study: -- Damasio - Gegenwind

    :study: -- Toibin - Long Island

    :musik: -- Catton - Gestirne; Rehear


    "The three most important documents a free society gives are a birth certificate, a passport, and a library card!" E. L. Doctorow