Stefanie Gregg - Nebelkinder

  • Inhaltsangabe:


    2017: Die 39jährige Lilith kann sich nicht binden. Ihr Herz gehört Robert, der meist nie lange bleibt und doch bittet er sie um etwas Unmögliches: Sie soll sich um sein Kind kümmern, das er in einer Nacht mit ihrer Cousine gezeugt hat. Seine Frau käme mit dem Kind nicht klar und da die Cousine inzwischen verstorben ist, bliebe nur noch sie.


    Sie lehnt es vorerst ab und bespricht es mit ihrer Mutter Ana. Zu ihr hat Lilith seit jeher ein distanziertes Verhältnis. Anas Leben ist auf Sicherheit aufgebaut und als Richterin sorgte sie stets gut für ihre Tochter. Doch was wirklich in ihrem Herzen schlummert, erfährt Lilith, als sie gemeinsam nach Breslau fahren, der Heimat von Käthe –Liliths Oma und Anas Mutter!


    Anfang 1945: Käthe und die beiden Töchter Ana und Leni leben in Breslau. Ludwig ist im Krieg in Italien. Die Ostfront kommt immer näher und somit auch die Flucht. Schon fast zu spät kommen sie noch mit dem letzten Zug aus Breslau heraus. Doch die Reise, unter bitterster Kälte und größtem Hunger, fordert von allen Familienmitgliedern einen hohen Preis. Die seelischen Verletzungen reichen bis in die Gegenwart.


    Auf der gemeinsamen Reise von Mutter und Tochter erfahren sie einander, was sie vorher nicht gekannt hatten. Lilith lernt nicht nur ihre Mutter neu kennen, sondern erfährt auch noch von grausamen Dingen, die damals in Breslau und auf der Flucht vor der russischen Armee passierten. Kann sie das in ihrer Entscheidung beeinflussen? Sind das die Gründe, warum sie nie wirklich Zugang zu ihrer Mutter gefunden hatte?


    Mein Fazit:


    Und wieder wurde ein dunkles Kapitel beschrieben. Ja, man hörte von den Grausamkeiten, die die russischen Soldaten damals machten. Es wurde leise oder hinter vorgehaltener Hand davon berichtet. Meine Schwiegereltern, beide aus Schlesien, haben beharrlich über den Krieg geschwiegen und wenn, dann nur von schönen Dinge erzählt.


    Vor einigen Jahren las ich ein Sachbuch über die Kinder der Kriegskinder, eben diese Nebelkinder, wo zwar nicht von den Kriegsverbrechen in Details erzählt wurde, aber von dessen Folgen, die bis in die zweite oder gar dritte Generation reichten. Eisiges Schweigen und stets das Bedürfnis, die schrecklichen Dinge hinter sich zu lassen und mit Fleiß und Entschlossenheit ein neues Leben aufzubauen. Was mich auch heute noch erschüttert: Obwohl die Flüchtlinge allesamt Deutsche waren, wurden sie wie Fremde behandelt. Man pferchte sie in Lager ein oder sie bekamen sinnbildlich nur den letzten Krumen Brot. Vorher haben sich die „Einheimischen“ den Bauch vollgeschlagen.


    Käthe, Ana und Lilith tragen den Krieg noch unbewusst in sich. Es ist gerade für Lilith so tragisch, denn sie wächst in Wohlstand und Freiheit auf, kann sich also überhaupt nicht vorstellen, was ihre Mutter als junges Mädchen oder ihre Großmutter als junge hübsche Frau mit zwei Kindern erdulden musste, nur um die zu schützen, die sie liebte. Selbst die eigenen Landsleute haben sich da nicht mit Ruhm bekleckert und die Situation schamlos ausgenutzt.


    Gelegentlich gab es auch Lichtblicke in der Geschichte, die auf drei Zeitebenen spielt und doch in einem Ende gipfelt, nämlich der gemeinsamen Reise von Ana und Lilith. Mit allen drei Frauen konnte ich warm werden, selbst mit Käthe, die nach dem Krieg nie wieder richtig glücklich wurde. Wen wundert es, wenn man die Geschichte liest? Dennoch hat es auch sehr viel Menschlichkeit und birgt Anteilnahme.


    Es ist spannend, schockierend, aufwühlend und nachdenklich stimmend geschrieben. Auch jetzt, ein paar Tage nach dem Ende des Lesens, wandern meine Gedanken zu dem zurück, was zwar eine fiktive Geschichte ist, aber exemplarisch für Millionen von echten Geschichten steht. Es ist deutlich zu spüren, dass es der Autorin ein Herzensanliegen war. Denn ein bisschen steckt auch von ihr drin. Auch wenn die Opfer dieser Grausamkeiten es verständlicherweise anders sehen, aber genau diese Geschichten müssen erzählt werden, damit alte Strukturen aufbrechen und die junge Generation(en) freier leben können. Die Lasten wiegen ansonsten zu schwer.


    Fünf bewegte Sterne und eine klare Lese-Empfehlung spreche ich aus, gerne auch für den Schulunterricht für die oberen Jahrgangsstufen.

  • Wenn sich der Nebel lichtet...


    2017. Die 39-jährige unverheiratete Lilith lebt in München, als sie erfährt, dass ihre Cousine gestorben ist und einen kleinen Sohn hinterlässt. Robert ist der Vater des kleinen Jungen und bittet sie, sich um seinen Sohn zu kümmern, was Lilith gar nicht recht ist. Als sie sich diesbezüglich an ihre Mutter Ana wendet, zu der sie ein recht angespanntes Verhältnis hat, beschließt diese, mit Lilith in ihr die Heimat ihrer Kindheit ins polnische Breslau zu reisen, um ihrer Tochter die Erlebnisse ihrer Vergangenheit näher zu bringen. Diese Reise birgt nicht nur eine neue Chance für das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter, sondern lässt Lilith erkennen, weshalb ihre Mutter all die Jahre so distanziert war…


    Stefanie Gregg hat mit „Nebelkinder“ einen eindringlichen und berührenden Roman vorgelegt, der sich stark an die persönliche Familiengeschichte der Autorin anlehnt. Sie selbst ist ein „Nebelkind“, eine Enkelin der Kriegsgeneration, deren Leben mehr oder weniger stark unter den Erlebnissen und deren Einflüssen steht, die die Vorfahren durchleben mussten. Ihre Erkenntnisse hat sie wunderbar in ihre Geschichte miteinfließen lassen, was ihr eine besondere Authentizität verleiht. Der flüssige und gefühlvolle Erzählstil holt den Leser sofort ab und lässt ihn zwischen den Seiten versinken, um sich auf unterschiedlichen Zeitebenen zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu bewegen, während er verschiedenen Perspektiven folgt. So erlebt der Leser gemeinsam mit Käthe, ihren Töchtern Ana und Helene sowie Käthes Schwester Selma und deren Anhang 1945 die strapaziöse Flucht vor den russischen Soldaten aus Breslau nach Bayern hautnah mit, bei der vor allem Käthe ein Trauma davongetragen hat, von dem sie sich nie wieder erholte. Ana war damals erst knapp 13 Jahre alt und hatte von einem Moment auf den anderen die Verantwortung der Familie auf ihren Schultern, was für so ein junges Mädchen nicht nur eine große Last, sondern auch prägend für das restliche Leben ist. Aber auch die Gegenwart um Ana und Lilith sowie ihre Beziehung zueinander ist für den Leser sehr aufschlussreich und offenbart die weitreichenden Folgen der damaligen Flucht bis ins Jetzt hinein. Die Autorin jongliert zwischen den Zeiten und lässt den Leser erst nach und nach das Gesamtbild erfassen, was ihr sehr gut gelungen ist, stehen doch die drei Frauenschicksale für viele, die Ähnliches erlebt haben.


    Die Charaktere sind sehr authentisch und individuell gezeichnet, wirken glaubhaft und realistisch. Der Leser kann sich unter ihnen niederlassen, ihre Erlebnisse mitverfolgen und ihre jeweilige Entwicklung beobachten. Käthe ist eine eher schwache Frau, die von ihrer Schwester zur Flucht überredet werden muss. Sie will lieber auf ihren Ehemann warten, als sich und die Kinder in Sicherheit zu bringen. Die Erlebnisse auf der Flucht haben Käthe endgültig gebrochen, sie zieht sich in sich zurück, ist hilflos und kraftlos. Ana muss schnell erwachsen werden, denn ihr bleibt gar nichts anderes übrig, als sich um die jüngere Schwester Helene und ihre Mutter zu kümmern. Eigene Wünsche und Träume haben da keinen Platz, das Verantwortungsgefühl ist immer stärker und zieht sich durch Anas ganzes Leben. Gefühle wie Wärme und Liebe bleiben da auf der Strecke, denn sie hat immer funktionieren müssen. Lilith fühlt sich von ihrer Mutter abgelehnt und ungeliebt, was sich auf ihr eigenes Lebensmodell überträgt. Sie wirkt oft unsicher und unentschlossen sowie tieferen Gefühlen nicht fähig. Aber auch Selma, Wolfi und Robert spielen wichtige Rollen in diesem Buch.


    „Nebelkinder“ berührt, schockiert und enthält so viel Wahres über die Generationen, die dies alles durchmachen mussten. Eine wichtige Geschichte für ein besseres Verständnis und um daraus zu lernen. Absolute Leseempfehlung!!!


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    Bücher sind Träume, die in Gedanken wahr werden. (von mir)


    "Wissen ist begrenzt, Fantasie aber umfasst die ganze Welt."
    Albert Einstein


    "Bleibe Du selbst, die anderen sind schon vergeben!"
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    gelesene Bücher 2020: 432 / 169960 Seiten