W.G.Sebald – Campo Santo

  • Interessante Bücher stellst Du hier vor, Leo, es macht großen Spaß. Erstmal muss ich mir natürlich "Campo Santo" anschaffen, aber auch die "Ästhetik des Widerstands" will ich schon seit Jahrzehnten lesen. Es ist ja ein berühmtes Buch, allerdings 1200 Seiten lang und sicher nicht leicht zu bezwingen. Und die Zeit läuft leider im Sauseschritt.:(

    :study: Olga Tokarczuk - Gesang der Fledermäuse

    :study: Claire Keegan - Liebe im hohen Gras. Erzählungen

    :study: David Abulafia - Das Mittelmeer
















  • Danke, mofre! Und mir macht es - ob nun viele mitlesen oder wenige - sehr viel Spaß, mir diese Essays von Sebald zu "erarbeiten". Sie lassen mich viel nachdenken und sind so sinnerfüllte Stunden in Coronazeiten! (Wären sie auch außerhalb.) Jedoch ist es eine Katastrophe für meine "Unendlos-Wuli", bzw meinen SUB. Ich hatte nun drei Monate nahezu kein Buch eingekauft (nur zwei, drei geliehen). Und - schwupp - bin ich drauf reingefallen und bestellte mir von oben erwähnten Büchern vorgestern. Sie sollen Ende der Woche ankommen.:


    Caspar Hauser: oder Die Trägheit des Herzens

    Der Untergang.

    Die Lücke, die der Teufel läßt: Im Umfeld des neuen Jahrhunderts

  • Caspar Hauser: oder Die Trägheit des Herzens

    Der Untergang.

    Die Lücke, die der Teufel läßt: Im Umfeld des neuen Jahrhunderts

    :thumleft:


    Ich sehe an Deiner Signatur, dass Du "Apostoloff" von Sibylle Lewitscharoff liest.

    Da bin ich gespannt auf Deine Rezension.

    Mir hatte "Das Pfingstwunder" von ihr gut gefallen!

    :study: Percival Everett, James.

    :musik: Agatha Christie, Mord im Pfarrhaus.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Zum zweiten Essay, in dem das Buch von Hans Erich Nossack - Der Untergang zitiert und kommentiert wird, hier noch ein Eindruck von comnenos :

    Zitat

    161. Welches Buch hat dir im Mai am besten gefallen?


    Dieses Büchlein hat mich überrascht. Es beschreibt die Tage nach den aliierten Luftangriffen auf Hamburg im Sommer 1943 (Operation Gommorrah). Der Focus liegt auf den Überlebenden und ihren Reaktionen. Ein kurzes Buch, das in wenigen Stunden gelesen ist, mich aber noch immer beschäftigt!

  • 4. Die Zerknirschung des Herzens. Über Erinnerung und Grausamkeit im Werk von Peter Weiss (1986)


    (...) In Sebalds Augen wäre das Werk Weiss’ ein wahrer « Besuch bei den Toten », ein « auf das eigene Ende ausgerichtete Ausdruck ». Erinnerung sei stets verbunden mit einem Maß von Schmerz.

    Dazu noch folgendes Zitat, das mich bewegte:

    "Der Prozeß des Schreibens (...) ist der immer wieder (...) aufgenommene Kampf gegen "die Kunst des Vergessens", die zum Leben so sehr gehört wie die Schwermut zum Tod. Schreiben, das ist der Versuch, trotz unserer "Absenzen" und "Schwächeanfälle" mit all unseren Toten in uns, mit unserer Totenklage, unserem eigenen Tod vor Augen, zwischen den Lebenden dahin zu balancieren, um die Erinnerung ins Werk zu setzen, die allein das Überleben rechtfertigt im Schatten des Berges der Schuld."

    W.G.Sebald, teilweise Peter Weiss zitierend

  • 5. Mit den Augen des Nachtvogels. Über Jean Améry (1988)


    Jean Améry am 31. Oktober 1912 als Ha(n)ns Mayer in Wien geboren und am 17. Oktober 1978 in Salzburg durch Freitod gestorben, war ein
    österreichischer Schriftsteller, Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus und ein Opfer des Nationalsozialismus. Seit 1955
    verwendete er das Pseudonym Jean Améry, wobei Améry ein Anagramm von Mayer und Jean die französische Form von Hans ist. Er war Sohn jüdischer Eltern.


    Er arbeitete als Buchhändler und verließ nach dem Anschluß das heimische Österreich mit seiner Frau in Richtung Belgien, wo er wieder Arbeit fand. Er engagierte sich dann beim Verteilen von Flugblättern nach der Okkupation Belgiens, wurde festgenommen, schwer gefoltert und kam nach Auschwitz, dann Buchenwald und Bergen-Belsen. Im April wurde das Lager befreit und er kehrte nach Brüssel zurück. (Quelle, siehe auch mehr hier : https://de.wikipedia.org/wiki/Jean_Am%C3%A9ry )


    Sebald spricht hier also von diesem Schriftsteller. Nochmals führt er eingehend aus (siehe oben), dass man sich bis Anfang der ‘60iger ungenügend mit dem totalitären Reich auseinandergesetzt hätte. Auch auf der literarischen Ebene. Jean Améry hatte in den ersten
    zwanzig Nachkriegsjahren über anderes geschrieben, doch erschien dann ab Mitte der 60iger fulgurant mit Essaybänden auf der
    Bildfläche. Es ging dabei ums Exil, den Widerstand, Folter und Völkermord. Im Gegensatz zu manch wie von außen und zaghaft
    dastehenden Kritisierenden stossen wir bei ihm auf einen « Betroffenen » (siehe Bio). « Wer Opfer wurde, der bleibt es. » Und eine erste Tendenz wäre die Sprachlosigkeit. Die ihn ja auch zwanzig Jahre umgetrieben hatte. Dann das Schreiben. Da wird das Reden nicht zu einer intellektuellen Gymnastik oder Pflichtübung, sondern kommt glaubwürdig daher. Ähnlich wie bei einem Peter Weiss (ebenfalls siehe oben).


    Er beschreibt in seinen Essays stets autobiographisch, weniger narrativ, literarisierend, aber reflektierend. Opfer könnten eben nicht, wie
    Täter, verdrängen. Sicherlich könnte sie teils Amnesie beschlagen, aber die traumatischen Bilder tauchen immer wieder auf. Améry weiss,
    wovon er spricht. Beschreibt fast distanziert die Folter, die Grenzerfahrung « Schmerz ». Hier stoßen wir an die Grenzen sprachlichen Mitteilungsvermögens. Trotz aller Sinnlosigkeit bleibt er bei einer prinzipiellen Solidarität mit den Opfern und dann, einer Denunziation des Unrechts.


    Seine Ursprünge als österreichischer Bergjunge zeigen auch (der Vater starb als Soldat im I.Weltkrieg), wie unglaublich es ihm vorkam, dass
    die Abstempelei als Jude auch diese Welt erreichte. Dabei waren sie doch assimiliert ! Und man hatte diese Identität doch internalisiert ! Da und so wird der Faschismus zur « Zerstörung von Heimat ». Da aber, wo das geschieht, wird auch die Person zerbrochen. Im Heimweh wird die Heimat fremd und fremder. Dieser Schmerz ist unheilbar:


    « Die Heimat ist das Kindheits- und Jugendland. Wer sie verloren hat, bleibt ein Verlorener, und habe er auch gelernt, in der Fremde nicht mehr wie betrunken umherzutaumeln. »

    Jean Améry - Jenseits von Schuld und Sühne


    Und in den Opfern bleibt eine « Überlebensschuld ». Bei Améry führt sie zur sprachlichen Auseinandersetzung mit dem ganzen Komplex, mit seiner furchtbaren Vergangenheit. Ein Todeswunsch kommt hoch. Nach ihm : nicht Resignation, denn er würde ja kämpfen. Man überlebt, und ist doch tot.



    Seine Erfahrungen in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern verarbeitete Jean Améry in seiner Essaysammlung « Jenseits von
    Schuld und Sühne »
    , einem Werk, mit dessen Veröffentlichung er 1966 im deutschsprachigen Raum bekannt wurde und das zu den
    zentralen Texten der deutschsprachigen Holocaustliteratur gehört. Im Folgejahr wandte er sich scharf gegen Adornos Versuch, in einer „von
    sich selber bis zur Selbstblendung entzückte[n] Sprache“ aus Auschwitz unter dem Titel „absolute Negativität“ philosophisch Kapital zu schlagen.


    Taschenbuch: 173 Seiten

    Verlag: Klett-Cotta; Auflage: 11. Druckaufl. (19. November 2019)

    Sprache: Deutsch

    ISBN-10: 3608939482

    ISBN-13: 978-3608939484

  • Und in den Opfern bleibt eine « Überlebensschuld »

    Was versteht Amery oder Sebald darunter? Das würde mich interessieren.

    Mich erinnert es an das Phänomen, dass viele Überlebende des Holocausts sich schuldig fühlten dafür, dass sie und nicht andere überlebt hatten. Zugleich entwickelten viele das Gefühl, durch ihr Überleben quasi auserwählt worden zu sein und sich dieser Auserwählung würdig erweisen müssten.

    Literarisch wurde das kurz thematisiert in diesem Buch:

    :study: Percival Everett, James.

    :musik: Agatha Christie, Mord im Pfarrhaus.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Und in den Opfern bleibt eine « Überlebensschuld »

    Was versteht Amery oder Sebald darunter? Das würde mich interessieren.

    Mich erinnert es an das Phänomen, dass viele Überlebende des Holocausts sich schuldig fühlten dafür, dass sie und nicht andere überlebt hatten.

    Es handelt sich hier eindeutig um diese Interpretation des Wortes. Den Begriff in dieser Form kannte ich übrigens nicht; eher wie Du die Umschreibung. Sebald (bzw Améry) beschreibt dieses Phänomen, dass die Schuld nicht von jenen wahrgenommen wird, für die sie eigentlich zutrifft. Sondern die Opfer selber trifft.

    Verdrängung und Vergessen, bzw Schuldabweisung, liegen auf seiten der Täter.

  • 2. Zwischen Geschichte und Naturgeschichte. Über die literarische Beschreibung totaler Zerstörung (1982)

    In diesem Zusammenhang mit "Campo Santo" wird ja auch dieses Werk genannt, das ich sei kurzem auf dem SUB liegen habe.


    Sechzig Minuten im Bombenhagel in einer nicht weiter benannten deutschen Großstadt. Sehr brutal sollen die Schilderungen sein, der Autor wurde deshalb kritisiert.

    Veritas temporis filia - Die Wahrheit, Tochter der Zeit (Aulus Gellius)
    :study: Daniel Kehlmann - Lichtspiel :musik:


  • Danke für diese Hervorhebung!


    Zitat von comnenos

    Sechzig Minuten im Bombenhagel in einer nicht weiter benannten deutschen Großstadt. Sehr brutal sollen die Schilderungen sein, der Autor wurde deshalb kritisiert.


    Um es noch ausdrücklich für andere Mitleser zu machen: Ist Sebald sicherlich eindeutig ein Gegner des Faschismus' und schreibt dagegen an,

    so war sein Sprechen über die alliierten Massenbombardierungen andererseits auch eindeutig: Das traf teils absolut unschuldige Menschen und trug zum Ausgang des Krieges oft nichts mehr bei. Wenn ich es richtig verstehe...

  • Vielen Dank für Deine ausführlichen Kommentare tom leo ! Ich habe mir das Buch zwischenzeitlich bestellt und es sollte morgen oder übermorgen eintreffen. Dann schaue ich mal, inwiefern ich auf die einzelnen Essays weiter eingehen bzw ergänzen kann. Lesen werde ich es jedenfalls zeitnah.

  • 6. Des Häschens Kind, der kleine Has. Über das Totemtier des Lyrikers Ernst Herbecke (1992)


    Ich stelle hier zunächst mal einen Ausschnitt aus der Biographie bei wikipedia ein (auf die Sebald nicht weiter eingeht):


    Ernst Herbeck (*9. Oktober 1920 in Stockerau; † 11. September 1991 in Maria Gugging) war 45 Jahre lang Patient in der Niederösterreichischen Landesnervenklinik Gugging. Unter Anleitung seines Arztes Leo Navratil (auch Herausgeber seiner Gedichte, siehe unten) begann Herbeck Gedichte zu schreiben. Ernst Herbeck wurde mit einer Lippen-Kiefer-Gaumenspalte geboren und hatte eine damit einhergehende Sprechstörung. Er absolvierte die Hauptschule und besuchte anschließend ein Jahr lang die Handelsschule. Mit 20 Jahren wurde er zum ersten Mal an der Wiener Psychiatrischen Universitätsklinik aufgenommen. Zwei Jahre später erfolgte ein zweiter
    Spitalaufenthalt. Nach seiner Entlassung aus der Klinik arbeitete Herbeck wieder als Hilfsarbeiter in einem Rüstungswerk. Im Herbst
    1944 wurde er zum deutschen Militär einberufen und im März 1945 als kriegsdienstuntauglich wieder entlassen. Im September des gleichen
    Jahres erfolgte die dritte Aufnahme in die Klinik. Im Mai 1946 wurde Herbeck zum vierten Mal aufgenommen. Er wurde ins Krankenhaus
    überstellt und war seit dieser Zeit mit einer einjährigen Unterbrechung hospitalisiert.


    Bekannt wurde er ab 1966, zunächst in Veröffentlichungen Navratils, unter dem Pseudonym „Alexander“. Einige seiner Gedichte wurden von Heinar Kipphardt für seine Kunstfigur Alexander März übernommen, zum Teil auch verändert und fortgeschrieben, was zu einer Kontroverse zwischen Kipphardt und Navratil führte. Wolf Biermann hat drei März-Gedichte vertont und gesungen und damit für eine weitere Verbreitung gesorgt. Unter seinem eigenen Namen wurden Herbecks Gedichte erst nach seinem Tod in zwei Sammlungen veröffentlicht. Anders als seine Künstlerkollegen in Gugging Johann Hauser, August Walla und Oswald Tschirtner, die mit ihrer Malerei zentrale Künstler der Art Brut wurden, hat Ernst Herbeck immer nur den künstlerischen Ausdruck in Gedichten gesucht. „Herbeck hat stets nur auf Wunsch und meist nur nach Angabe eines Titels geschrieben. Änderungen und Korrekturen an seinen Texten nahm er nur während deren Entstehung vor, nachher nicht mehr,“ schrieb Navratil über seine Arbeitsweise.


    2014 schuf der Komponist Karlheinz Essl junior die Klangperformance Herbecks Versprechen auf Basis einer Tonaufnahme von Herbecks Stimme.

    (Quelle : https://de.wikipedia.org/wiki/Ernst_Herbeck)


    Diese Person aus dem Umfeld einer Nervenheilanstalt interessierte W.G.Sebald in mehrerlei Hinsicht : Einen 1980 unternommenen Besuch bei Ernst Herbeck schildert er in seinem (allerdings reale Erlebnisse und Fiktionen vermischenden) Prosaband Schwindel. Gefühle. von 1990. Sebald hat sich auch in einigen Essays mit den Texten Herbecks beschäftigt.
    (Quelle : Wikipedia)


    Hier, im Campo Santo Leseband handelt es sich aber um einen Essay aus dem Jahre 1992, kurz nach Herbecks Tod. Eine besondere hommâge?! Erwähnung findet so zB schon die erfolgte Wiedervereinigung Deutschlands, bzw der Fall der Mauer.

    Das kreative Potential von so gennanten gestörten Menschen erinnerte mich an die unanfechtbaren Fähigkeiten von Menschen,
    Schriftstellern, wie Christine Lavant (Christine Lavant - Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus ), Robert Walser ( https://www.buechertreff.de/se…/?highlight=robert+walser ), Friedrich Hölderlin (
    https://de.wikipedia.org/wiki/Friedrich_H%C3%B6lderlin ) und vielen anderen mehr.


    Bei Herbeck scheint der Impuls vom Begleiter auszugehen – wenn ich recht verstehe , der ein Thema vorgibt. Herbeck schreibt dazu etwas nieder, assoziiert (?). Es sind Wort- und Rätselbilder, in denen insbesondere Tiere und andere(s) plötzlich für etwas zu stehen scheinen, was uns verdutzt : Ersetzt hier zB ein Tier das Sprechen über sich selbst ? Ist dieses Sich-Äußern indirekt möglich, würde sich aber nicht freiweg zeigen ? So das bei ihm besonders auftauchende Bild des Hasens und Häschens. Sprechen über die Eltern, über das eigene Werden und Sein durch und in Bildern…Ein recht kurzer Essay, der eventuell nahezu psychologische Tiefe hat. Aber natürlich betrachtet Sebald hier vor allem den zum Ausdruck findenden und geachteten Menschen, Herbeck.


    Ernst Herbeck - Im Herbst da reiht der Feenwind: Gesammelte Texte 1960 - 1991

    Herausgeber, Nachwort : Leo Navratil


    Ein junger Arzt des psychiatrischen Krankenhauses hat Ernst Herbeck angeregt, zu einem vorgegebenen Titel ein Gedicht zu schreiben. Er tat es in der Absicht, mit dem sehr in sich gekehrten schizophrenen Patienten, der außerdem wegen einer Fehlbildung des Gaumens im Sprechen behindert war, eine Beziehung herzustellen. Die Texte, die auf diese Weise entstanden sind, frappierten ihn. Sie schienen ihm ebenso lyrisch wie schizophren zu sein. Er publizierte 83 dieser kleinen Gedichte unter dem Pseudonym "Alexander", und sie fanden literarische Würdigung. Im Laufe der folgenden Jahre und Jahrzehnte wurde das stumme "Gespräch" zwischen dem Arzt und dem Patienten fortgesetzt. Aus der Beziehung zwischen den beiden entstand eine Freundschaft und aus den Texten Ernst Herbecks ein dichterisches Werk, das bald im gesamten deutschen Sprachraum Interesse und Anerkennung fand.


    Gebundene Ausgabe: 236 Seiten

    Verlag: Residenz;
    Auflage: 3. A. (1. Januar 1999)

    Sprache: Deutsch

    ISBN-10: 3701711801

    ISBN-13: 978-3701711802

  • 7. Via Schweiz ins Bordell. Zu den Reisetagebüchern Kafkas (1995)


    In den nun folgenden Texten verwendet Sebald keine Fußnoten mehr und wirft « den Ballast wissenschaftlicher Nachprüfbarkeit ab ». Wer den Autor kennt, kennt dieses Unterfangen von seinen Romanen ! Und so kommt auch dieser siebenseitiger « Essay » daher. Eine Wiedergabe einer Reise, die Franz Kafka im Jahre 1912 zusammen mit Max Brod unternahm : von Prag über die Schweiz und Oberitalien nach Paris. Näheres oder eine mögliche Quelle - fände man sicherlich hier :


    Franz Kafka. Gesammelte Werke in Einzelbänden in der Fassung der Handschrift / Tagebücher 1909-1923 Herausgeber: Hans G Koch


    Aus Kafkas Eigenart, Tagebücher zu führen – autobiographische und literarische Texte dabei miteinander mischend –, wird deutlich, wie
    stark Kafkas jeweilige Lebenssituation auf das Entstehen seines literarischen Werkes gewirkt hat; sie geben den Blick unvermittelt frei in seine Werkstatt. 'Ich werde das Tagebuch nicht mehr verlassen. Hier werde ich mich festhalten. ' notiert er am 16. Dezember 1910.

    Neben diesen Tagebuchaufzeichnungen hat Kafka auch auf vier Reisen in den Jahren 1911 bis 1913 seine Eindrücke fixiert. Sie stehen in eigenen Heften und Notizblöcken, die die 12 erhaltenen Tagebuchhefte und zwei Restkonvolute (vermutlich eines weiteren Heftes) ergänzen. Dieser Text-Ausgabe liegt die Kritische Kafka-Edition zugrunde, das bedeutet, daß die Eintragungen den Heften entsprechend wiedergegeben werden, nicht nach der Chronologie.


    Nun geht Sebald einigen Erlebnissen dieser Reise nach. Doch das Hervorstechendste in meinen Augen ist die Verwandtschaft, die er selbst feststellt mit diesen beiden Unzertrennlichen. Sebald findet sich in seinen eigenen Erinnerungen, teils circa 40 oder 50 Jahre später an den erwähnten Orten gemacht, wieder. Als ob da wie « Parallel-Erinnerungen » wären, eine Nähe. Das mag sich auch zB erklären durch die Tatsache, wie Kafka selber vorgeht, aber auch durch den Namen von « Max » Brod ?! Selber lehnte Sebald seine allzu deutschen Vornamen ab (Winfied Georg), verkürzte sie auf die Initialien, und ließ sich von Freunden « Max »nennen. Sicher fühlte auch er sich freundschaftlich Kafka nahe, der öfter in seinem Werk auftaucht !


    Gebundene Ausgabe: 848 Seiten

    Verlag: S. FISCHER; Auflage: 1., (1. August 1997)

    Sprache: Deutsch

    ISBN-10: 3100381602

    ISBN-13: 978-3100381606

  • 8. Traumtexturen. Kleine Anmerkung zu Nabokov (1996)


    Vladimir Nabokov ist vielen ein Begriff, eventuell aber auch zu sehr oder allein für manche mit dem « Skandalroman » Lolita verbunden. Wovon Sebald hier bei seinem Reden über Nabokov (von dem im BT schon mehrere Bücher besprochen wurden, siehe hier : https://www.buechertreff.de/se…969187/?highlight=nabokov) aber schreibt bezieht sich eher auf andere Bücher und Quellen.
    Zunächst mal die autobiographischen Aufzeichnungen aus « Erinnerung, sprich » (Verlinkung siehe auch unten), dann auch der « Pnin »
    und « Das wahre Leben des Sebastian Knight ».


    Sebald stellt heraus, dass da wie ein großer Schrecken festzustellen ist bei N. als dieser bei Betrachten von Familienphotos sieht, dass
    es eine Zeit VOR seiner Geburt gab. Wo aber war da die eigene Person ? Manche bleiben allein im Fragen hängen, was aus ihr wird NACH diesem Leben… ?! Diese Fragen haben ihn – so Sebald – mehr als alles umgetrieben. Und es wäre bekannt, dass N. sich der « Geisterkunde » verschrieben hätte. Sind diese « Geister » Grenzgänger, derer man einige in seinen Romanen findet : Menschen, die sich fast auflösen, schweben, ihre Kontur verlieren… In diesem Zusammenhang sieht Sebald dann auch das Schreiben des russischen Exilautors, das so geprägt gewesen sei vom Verlust der alten Umgebung. Mehr als von der Gewöhnung (bzw eben auch gerade nicht!) an das neue Umfeld. Immer wieder finden wir in seinem Werk die Präsenz der « Verschwundenen » : Platz für eine enorme Erinnerungsarbeit.


    Nabokov schrieb die Fassung seiner Lebenserinnerung zwischen 1943 und 1951 in den Vereinigten Staaten. Sie umfassen die Jahre 1899 bis 1940, die Kindheit in Russland und die Exiljahre in Europa. Er gab ihr den Titel "Conclusive Evidence" ("...schlüssige Beweise dafür, dass es mich wirklich gegeben hat..."). 1964 wurde dann eine zweite, wesentlich erweiterte Fassung in den USA publiziert, die 1984 in Deutschland unter dem Titel "Sprich, Erinnerung, sprich" herauskam. Es war nicht Nabokovs Ziel eine Chronik der Erinnerung zu schreiben. "Ich gestehe, dass ich nicht an die Zeit glaube", sagte er einmal. Ihn interessierte es, "die thematischen Muster das Leben hindurch zu verfolgen. So erzählen die fünfzehn Kapitel die ersten Jahre der Kindheit zwar chronologisch, greifen aber dann zuweilen vor: die Erinnerung führt aus den Wäldern um Wyra, dem Landsitz der Familie, über die französische Atlantikküste aus die Berghänge von Telluride, Colorado, aber immer wieder greift sie zurück auf das verlorene Paradies der Kindheit. "Vor der völligen Auslöschung konnte er das Verlorene nur auf eine Weise bewahren: indem er es in einer extravaganten Anspannung des Gedächtnisses genau und farbig rekonstruierte." (Dieter E. Zimmer)

    (Quelle: amazo Produktbeschreibung)


    Taschenbuch: 576 Seiten

    Verlag: Rowohlt Taschenbuch; Auflage: 6. Auflage, Neuausgabe (1.
    April 1999)

    Sprache: Deutsch

    ISBN-10: 9783499225475

    ISBN-13: 978-3499225475

    ASIN: 3499225476

  • Nun starte ich diesen Ausflug nach Korsika ein paar Tage nach Dir, und ergänze gerne meine Eindrücke zu den einzelnen Kapiteln...

    Zunächst einmal erfreue ich mich am Erzählstil Sebalds, der mir bereits von drei anderen Büchern von ihm vertraut ist. Seine langen Sätze wie er bspw schon auf der ersten Seite den Spaziergang vom Hafen ins Städtchen beschreibt, durch Gassen schlendernd, die Hauseingänge betrachtend und die Namensschilder an Briefkästen lesend, träumend, wie es doch wäre hier zu leben. Alles in einem Satz, der tatsächlich dazu führt, dass man das Gefühl hat neben ihm zu laufen, den Spaziergang gemeinsam zu machen. Ausserdem lese ich bei Sebald auch immer wieder Wörter, die mir unbekannt sind. Diesmal musste ich den Begriff „ekklesiastische Karriere“ googeln. Schön, wenn ich meinen Wortschatz noch etwas ausbauen kann, auch wenn ich den Begriff vermutlich niemals selbst anwenden werde.

    Gemälde interessieren mich auch immer wieder, diesmal betrachte ich mit dem Ich-Erzähler das „Porträt der Frau mit einem kleinen Mädchen“ von Pietro Paolini.

    Korsika wäre sicherlich auch mal eine Reise wert...

  • Nun starte ich diesen Ausflug nach Korsika ein paar Tage nach Dir, und ergänze gerne meine Eindrücke zu den einzelnen Kapiteln...

    Prima! Das kann nur bereichernd sein für uns alle! Und ich freue mich schon, eventuell andere Sichtweisen und Eindrücke von Dir zu hören. Sicherlich habe ich auch "verkürzt" aus meinen eigenen Vorlieben heraus. Aber auch, weil das Schreiben Sebalds zwar luftig und flüßig ist (mE nach), aber auch sehr dicht.

  • Wie Sebald in seinen Ausführungen vorgeht ist schon bemerkenswert : er gleitet von einem Punkt zum nächsten, bleibt zwar beim Thema, doch betrachtet es wie unter neuen Blickwinkeln. Bewegt sich und hüpft quasi spielerisch voran. Und ist doch dabei bei ernsten Themen.


    9. Kafka im Kino (1997)

    An so manche Filme denkt man noch nach vielen Jahren. So Sebald an den zwanzig Jahren vorher gesehenen Film von Wim Wenders « Im Laufe der Zeit » (Empfehlung!). Dort geht es um einen jungen Filmvorführer, Bruno Winter,der noch von Dorf zu Dorf fährt und in leeren Häusern auf alte Weise Filme zeigt. Er wird Zeuge, wie ein Robert Lander (sic!) mit seinem Käfer in rasender Fahrt – und wohl mit Absicht – in einen Fluß fährt (siehe auch : https://www.youtube.com/watch?v=9zq-EBhErEI ). Dieser wird gespielt von Hanns Zischler, der nun auch einigen BT’lern sicher bekannt sein müßte, da er auch schriftstellerisch tätig wurde (siehe auch : https://www.buechertreff.de/se…70964/?highlight=zischler ). Und darauf wollte Sebald hinaus ! Denn, siehe Themaangabe, Zischler hat ein ihn begeisterndes Werk über Kafkas Verhältnis zum damals noch jungen Kino herausgearbeitet (Verlinkung siehe unten) :


    Hanns Zischlers profunder Klassiker über den begeisterten Kinogänger Franz Kafka – mit sensationellen neuen Entdeckungen. Und inklusive einer DVD mit den Filmen, die Kafka damals sah.


    Franz Kafka war ein leidenschaftlicher Kinogänger – das scheint in seinen Tagebüchern immer wieder durch. Vieles in seinen Romanen und Erzählungen deutet darauf hin, dass Kafka sich durch das neue Medium inspiriert fühlte, eine ähnliche Erzählweise in der Literatur auszuprobieren.


    Hanns Zischler, bekannt für seine Lust, in unbekanntes Terrain vorzudringen und dem Detail seine ganze Aufmerksamkeit zu widmen, ging über Jahrzehnte anhand der Texte Kafkas der Frage nach, welche Kinos dieser wohl besuchte, welche Filme, Szenen und Schauspieler ihn nachhaltig beschäftigten. Zischler sammelte Fotos, Programmzettel, Plakate, durchblätterte in Bibliotheken die damalige Tagespresse nach Filmkritiken und -titeln, er stöberte in Archiven nach den alten, längst vergessenen Filmrollen.


    Herausgekommen ist dabei ein fundamentaler Baustein der Kafka-Forschung – Zischlers kenntnisreiche Arbeit ist hier längst ein Klassiker. Zugleich ist das Buch ein magischer Streifzug durch das frühe Kino mit seinen Stummfilmen und fantasievoll-dramatischen Sprechern. Als das Buch vor 20 Jahren erschien, sorgte es für großes Aufsehen – niemand hatte je zuvor darüber nachgedacht, dass der Intellektuelle Kafka den zu seiner Zeit so gering geschätzten »Kintop« so sehr liebte.


    Hanns Zischler blieb allerdings auch nach der Veröffentlichung Kafkas Kinoleidenschaft auf der Spur. Und so erscheint jetzt eine neue Ausgabe von Kafka geht ins Kino mit einer Vielzahl neuer Funde. Und – dank der Zusammenarbeit mit dem Filmmuseum München und der Förderung durch die Kulturstiftung des Bundes – zusätzlich ausgestattet mit einer DVD, die die Filme zeigt, die Franz Kafka damals sah.


    Dieses Buch sei, laut Sebald, vorbildlich sachlich, ohne erklärerisch werden zu wollen mit etwa dem Aufbau aller möglichen Theorien. Welch Faszination mag wohl diese neue Welt der bewegten Bilder ausgeübt haben. Da wird das Schauen-an-sich fast zur Obsession. Angesichts der Thematiken vieler erster Filme, aber auch dem Medium Film, stand im Raum ein fast spukhaftes Doppelgängertum von Protagonisten, die potentielle Vervielfältigung des Bildes an sich. Die Anfrage, ob denn nicht die Kopie gar das Original anfeindet und vernichtet ? So in Filmen wie « Der Andere » von Bassermann (siehe : https://www.youtube.com/watch?v=eJ919AY6FHI ) oder « Der Student von Prag » (siehe : https://www.youtube.com/watch?v=nNCRTR0VJL4 ). Diese wurden nachweislich in Kafkas Prager Jahren dort gezeigt. Und der Schriftsteller war leidenschaftlicher Kinogeher. Diese Filme und Themen spielen mit Wirklichkeit und Imagination, Realität und Fiktion. Wie müssen diese Umsetzungen Kafka angesprochen haben, er, der sich selbst wie ein halbes Gespenst unter dem Menschen fühlte, und jederzeit bereit war, abzugleiten ins Phantastische?


    Sicher ist auch, dass er einen Dokumentarfilm über die Zionsbewegung, die Rückkehr der Juden nach Palästina gesehen hätte : « Schiwat Zion ». Dieser Film rief Begeisterungsstürme hervor. Von den dort enthaltenen « sportlichen Aktivitäten » und auch aus Assoziation, schlägt Sebald einen Bogen zu den Propagandafilmen zB Leni Riefenstahls, gut zwanzig Jahre später. Wie gut, dass Kafka dies alles, und das schreckliche Desaster, der Untergang der Juden erspart geblieben wäre...


    Gebundene Ausgabe: 216 Seiten

    Verlag: Galiani-Berlin; Auflage: 2 (9. März 2017)

    Sprache: Deutsch

    ISBN-10: 3869711051

    ISBN-13: 978-3869711058

  • 10. Scomber scombus oder die gemeine Makrele. Zu Bildern von Jan Peter Tripp (2000)


    Hier assoziiert, erzählt Sebald in seiner typischen Art über die Makrele, anläßlich einer Ausstellung seines Freundes Jan Peter Tripp in der Galerie Brandstetter in Öhningen am Bodensee im Jahre 2000 (also relativ kurz vor seinem Tod…). Ein gemeinsames Buch der beiden habe ich hier besprochen : W.G. Sebald, Jan Peter Tripp - Unerzählt und wenn ich damals von den dortigen hyperrealistischen Bildern sprach, so mag das hier auch gelten. Die zwei abgebildeten Werke gehen als Photos durch. Sind sie es, frage ich mich erneut verdattert ? Nun, sie haben die « Makrele » als Thema (siehe auch https://de.wikipedia.org/wiki/Makrele ).


    Und Sebald fängt spielerisch an : ein Boots- und Angelausflug wohl in privatem Umfeld an den Kreidefelsen (ich nehme mal an, eher die englischen als die deutschen?) mit dem Versuch, Makrelen zu fangen. Und sie sehen sie ! Und dann folgen kleinere informative und erzählerische Ausflüge um über diesen Fisch zu reden. Was der Ernst Ehrenbaum dazu gesagt hätte in seinem Buch Naturgeschichte und wirtschaftliche Bedeutung der Seefische Nordeuropas.


    Die Gefräßigkeit des Fisches, sein rätselhaftes Auftauchen und Verschwinden in Riesenschwärmen, er, der Nomade unter den Fischen… Der im Wasser so schillernde wäre, einmal draußen und an der frischen Luft, schnell verloschen. Er erschiene hier und da mal als Todes-, mal als Fruchtbarkeitssymbol.


    Wir finden bei Sebald solch etwas außergewöhnliche thematische Bearbeitungen auch in anderen Büchern. So gibt es in W.G. Sebald - Die Ringe des Saturn zB einen langen beschreibenden Part über den Heringsfang ! Das eine erinnert ein wenig an das andere.


    Naturgeschichte und wirtschaftliche Bedeutung der Seefische Nordeuropas – Ernst Ehrenbaum

    … erscheint hier nebenbei als Buch, das Sebald wohl gelesen haben muß ! Tja, was den nicht alles so interessierte !


    Siehe auch hier:

    https://books.google.fr/books?…ropas%20ehrenbaum&f=false


    Taschenbuch: 408 Seiten

    Verlag: Salzwasser-Verlag GmbH (14. Mai 2013)

    Sprache: Deutsch

    ISBN-10: 3846035955

    ISBN-13: 978-3846035955

  • 11.Das Geheimnis des rotbraunen Fells. Annäherung an Bruce Chatwin (2000)


    Vielen von uns wahrscheinlich vom Namen her bekannt war Chatwin ein beeindruckter und beeindruckender Schriftsteller (siehe auch hier im BT vorgestellte Bücher : https://www.buechertreff.de/se…/?highlight=bruce+chatwin ). Und im Laufe dieses Essays über ihn wird mir klarer, warum Sebald ihn wohl besonders schätzt : Vielleicht eine ähnlicher Umgang mit Elementen zwischen Traum und Realität, realistischen Fakten und Phantasie ?! Chatwin war ein Wanderer, auf allen Erdteilen unterwegs. Wie Sebalds Prosa oder Reiseberichte ist er schwer klassifizerbar zwiachen Wirklichkeit und Phantasie. Welche biographischen Elemente aber förderten ihn im Schiftstellerwerdegang ? Laut Sebald - ci liebe in diesem Zusammenhang das Wörtchen "Annäherung" des Titels - seine Beredtheit und Kraft der Imagination, sein immenses Wissensbedürfnis. Die Leidenschaft als Schauspieler in jungen Jahren weckte Einfühlungsvermögen und die Kunst der Verwandlung. Den Marktwert der Kunst (sie auch seinen Roman Utz) lernte er schnell als Lehrling bei Sotheby’s in London kennen. Das Wichtigste ? Eine Faszinierungsfähikeit ! Die Sehnsucht, ja Manie, des Sammelns und Auflesens zeichnete ihn aus.


    Mehr zu ihm, siehe hier ein Auszug aus dem wikipedia-Artikel :

    Charles Bruce Chatwin (* 13. Mai 1940 in Sheffield; † 18. Januar 1989 in Nizza) war ein britischer Schriftsteller. Er wurde 1940 in Sheffield, im heutigen South Yorkshire im Norden von England geboren. In den Kriegsjahren reiste seine Mutter mit ihm durch England, um bei Freunden und Verwandten vor den deutschen Luftangriffen Unterschlupf zu finden. Statt das geplante Architekturstudium zu beginnen, arbeitete er mit 18 Jahren als Botenjunge für das Auktionshaus Sotheby’s. Vier Jahre später war er bereits Direktor der Abteilung für impressionistische Kunst. Vorgeblich wegen eines Augenleidens gab er diese Stelle auf und reiste in den Sudan. Danach studierte er in Edinburgh ein Jahr lang Archäologie, brach das Studium jedoch ab. 1973 wurde er Mitarbeiter der Sunday Times, zunächst als Berater für Kunst. Bald darauf widmete er sich vielfältigen Themen, reiste für Interviews und Berichte durch die Welt. Im Dezember 1974 kündigte er dort, angeblich mit dem Telegramm an die Redaktion: „Für vier Monate fort nach Patagonien“.

    Eine Begegnung mit der Architektin und Designerin Eileen Gray gab den entscheidenden Anstoß zu einer halbjährigen Reise nach Patagonien, um Überreste des Brontosaurus zu suchen. Hier wurde ihm klar, dass das Erzählen und Schreiben die für ihn angemessene Beschäftigung sei. Er bereiste neben zahlreichen anderen Ländern Australien und setzte sich mit der Kultur der Aborigines auseinander.

    Chatwin war seit 1964 mit der Amerikanerin Elizabeth Chanler verheiratet, die er von Sotheby’s kannte. Er war bisexuell und hatte wechselnde Affären mit teils prominenten Liebhabern. 1986 erkrankte Bruce Chatwin an AIDS, infolgedessen er 1989 in Südfrankreich verstarb. Ein angestrebter Eintritt in die griechisch-orthodoxe Kirche, den Chatwin aufgrund eines Besuches auf dem Berg Athos in Erwägung zog, kam aufgrund seines Gesundheitszustandes nicht zustande. Seine Asche wurde im Beisein seines Freundes Patrick Leigh Fermor neben einer kleinen Kirche in Kardamili auf der griechischen Halbinsel Peloponnes beigesetzt.


    Sebald bezieht sich in seinem Essay auch auf das Buch von Nicholas Butler, der zehn Jahre auf den Spuren Chatwins unterwegs war und Zeugen befragte, Orte besuchte. Ich verlinke die deutsche Ausgabe, und kopiere die englische Produktbeschreibung :


    Bruce Chatwin - Eine Biographie


    Bruce Chatwin's death in 1989 brought a meteoric career to an abrupt end, since he burst onto the literary scene in 1977 with his first book, In Patagonia.

    Chatwin himself was different things to different people: a journalist, a photographer, an art collector, a restless traveller and a bestselling author; he was also a married man, an active homosexual, a socialite who loved to mix with the rich and famous, and a single-minded loner who explored the limits of extreme solitude.

    From unrestricted access to Chatwin's private notebooks, diaries and letters, Nicholas Shakespeare has compiled the definitive biography of one of the most charismatic and elusive literary figures of our time.



    Taschenbuch: 832 Seiten

    Verlag: Rowohlt Taschenbuch Verlag (1. März 2002)

    Sprache: Deutsch

    ISBN-10: 3499231484

    ISBN-13: 978-3499231483

  • 12. Moments musicaux (2001)


    Vielleicht hätte dieses Kapitel/Essay auch als Teil der vier oben anfangs vorgestellten « Korsika-Fragmente » durchgehen können ? So beginnt er auch auf Korsika, im Laufe einer Promenade, auf der der Autor irgendwo einkehrt. Aus den Lautsprechern hinter der Theke tönt Musik, und plötzlich erinnert ihn diese an die ersten (erinnerten) musikalischen Laute in seiner Kindheit : In seiner Allgäuerheimat sind sie verbunden mit Hackbrettern, Zupfgeigen, Jodlern… Verbunden damit ? Was Schauderhaftes, ja Albtraumartiges ! Etwas « Deutsches », wie es sich in der Form mit anderem verbindet. So verweist hier wieder eins aufs andere in einer Kette von Assoziationen und Gedanken, in denen « es bloße Zufälle eigentlich nicht gibt ». Und die Erinnerung an musikalische Augenblicke sind oft verbunden gewesen mit etwas Gequältem. So auch das erzwungene Erlernen des Zitherspiels, das als Folter empfunden wurde. Es folgen andere Erinnerungen, so an erste Opernaufführungen oder die « Bregenzer Festspiele ». Woher die Neigung so vieler Deutscher, in seiner Zeit, zu einer gewißen Form von Musik, ob dem Nabucco oder leidenschaftlich-wehmütigen Liedern aus der Ferne ? Immer noch ein mitgeschlepptes Nachkriegsselbstmitleid… Erst spät würde zB bei den Nabuccoinszenierungen die Schar der Häftlinge als KZ’ler dargestellt.