W.G.Sebald – Campo Santo

  • Da das Buch verschiedene Genres beinhaltet stelle ich es unter Sonstiges ein.


    Original : Deutsch, herausgegeben : 2003


    Das Vermächtnis eines großen Erzählers: Im Mittelpunkt stehen Teile von W. G. Sebalds unvollendetem Prosawerk, an dem er in den letzten Monaten seines Lebens vor seinem Autounfall arbeitete. Außerdem enthält der Band eine Zusammenstellung von Essays zur Literatur, die noch einmal Sebalds Vorlieben dokumentieren.


    Campo Santo (2003) enthält Prosafragmente, Essays und Reden aus dem Nachlass.


    Ich habe die Absicht, die einzelnen diversen Teile separat zu besprechen im Maße wie ich halt voranschreite in der Lektüre !


    ZUM AUTOR:

    Am 18. Mai 1944 in Wertach, Allgäu, geboren, wuchs Sebald als mittleres von drei Kindern aus. Der Vater Georg, Sohn eines Eisenbahners, stammte aus dem Bayerischen Wald, lernte Schlosser und trat 1929 in die Reichswehr ein. Er blieb auch in der Wehrmacht Soldat und stieg bis zum Hauptmann auf. Bis 1947 war er in französischer Kriegsgefangenschaft. Von Mitte der fünfziger Jahre bis 1971 diente er in der Bundeswehr (zuletzt als Oberstleutnant). Die wichtigste männliche Bezugsperson für Sebald war der Großvater mütterlicherseits, ein Dorfgendarm (die Vatersgeschichte hatte wohl einen großen Stellenwert bei Sebald?!). Besuch des Realgymnasiums, dann der Oberrealschule, wo er 1963 das Abitur ablegte. Aus gesundheitlichen Gründen vom Wehrdienst befreit, schaffte er schon nach zwei Jahren Studium der Literaturwissenschaft 1966 an der Universität Fribourg den Studienabschluss mit der Licence ès lettres. Im selben Jahr wanderte er nach England aus, wo er 1967 seine Freundin aus der späten Schulzeit heiratete. 1976 bezog er mit Frau und Tochter ein viktorianisches Pfarrhaus (The Old Rectory). Er wohnte und lehrte als Literaturwissenschaftler (Manchester, ein Jahr Sankt Gallen, Norwich, East Anglia) hauptsächlich in England. Er starb am 14. Dezember 2001 in Norfolk, England, infolge eines Herzinfarktes bei einem Autounfall. Seine Vornamen Winfried und Georg lehnte Sebald ab. Winfried war für ihn ein „richtiger Nazi-Name“; von Familie und Freunden ließ er sich "Max" nennen.


    (Quelle und mehr: http://de.wikipedia.org/wiki/W._G._Sebald Dem Autor gewidmete Homepage: http://www.wgsebald.de/framestart.html )


    Taschenbuch: 272 Seiten

    Verlag: FISCHER Taschenbuch; Auflage: 2 (1. Januar 2006)

    Sprache: Deutsch

    ISBN-10: 9783596165278

    ISBN-13: 978-3596165278

    ASIN: 359616527X

  • Bei den ersten vier Stücken handelt es sich teilweise um zuvor publizierte Teile eines älteren, schon 1996 aufgegebenen Projekts eines Buches über Korsika. Andere Quellen sprechen davon, dass Sebald weiter an diesem Prosawerk arbeitete, und es nur als « unvollendet » zu betrachten ist.


    So spielen alle vier Kapitel aus verschiedenen Entstehungszeiten auf Korsika, während einer dortigen zweiwöchigen Reise. Sie verorten sich mal « am ersten Tag der Reise », mal wannanders. In vielerlei Hinsicht erinnerten sie mich vom Stil und Ton her an die mir bekannten Themen aus den großen Prosawerken des Autors, wie halt W.G.Sebald - Austerlitz , W.G. Sebald - Die Ausgewanderten , W.G. Sebald - Die Ringe des Saturn , W.G.Sebald – Schwindel.Gefühle. . Und wie wir es von ihm kennen, vereint Sebald Ausführungen, persönliche Notizen, Wanderungen in ein kunstvolles Ganzes. Und thematisch finden wir hier, im korsischen Rahmen und in der Blickweise des Autors, die Themen wieder, die ihm liegen und ihm viel bedeuten : Vergänglichkeit, Zeitlichkeit, Vergangenheit, Sterben, Tod, Erinnerung… Das ist (für mich) immer interessant und oft hochinformativ, eine Quelle an Gedankenreichtum. Im Einzelnen :


    1. Kleine Exkursion nach Ajaccio


    Der Ich-Erzähler schildert einen Ausflug nach Ajaccio, und insbesondere die Auseinandersetzung mit Stätten um den « Sohn der Stadt », dh Napoleons. Er besucht das Musée Fesch und die Casa Bonaparte. Er steift dort umher, man sieht förmlich, wie er « die Brille abnimmt », und sich dies und jenes näher betrachtet. Es löst Assoziationen aus, verbunden mit der Familiengeschichte des Franzosenkaisers, mit Objekten, aber auch der seltsamen Ähnlichkeit mit den ihn dort Empfangenden. Und plötzlich, aus heiterem Himmel, wird diese Rückschau zeitlich aktuell gemacht in den letzten Zeilen...


    Auszug :

    Aber was wissen wir schon im voraus vom Verlauf der Geschichte, der sich entwickelt nach irgendeinem, von keiner Logik zu entschlüsselnden Gesetz, bewegt und in seiner Richtung verändert oft im entscheidenden Moment von unwägbaren Winzigkeiten, durch einen kaum spürbaren Luftzug, durch ein zur Erde sinkendes Blatt oder durch einen von einem Auge zum anderen quer durch eine Menschenversammlung gehenden Blick. Nicht einmal in der Rückschau können wir erkennen, wie es wirklich vordem gewesen und zu diesem oder jenem Weltereignis gekommen ist.

  • 2. Campo Santo


    Campo Santo, italienisch für Friedhof, ist titelgebend für das gesamte Buch (einschließlich der Essays und Reden, und als solcher wohl von den Herausgebern ausgewählt. Es hätte sehr gut wohl auch titelgebend für ein mögliches « Korsika-Buch » sein können ? Und ist hier, drittens, also die Kapitelüberschrift des zweiten Abschnitts über die Korsikareise, ein unveröffentlichtes Manuskript aus dem Nachlaß. Trotz dieses Status’ hat mich dieser Teil am meisten fasziniert, und eine Lektüre für diesen Abschnitt allein lohnt sich schon !


    Steht der Friedhof als ein Bezugsort im Schreiben Sebalds ? Zumindest für eine Grundstimmung, bezeichnet hier den zentralen Ort des Kapitels, mit hervorragenden Gedanken und Informationen zu den Gebräuchen in Korsika angesichts des Todes : wie geht man mit ihm um ? Wie präsent ist er ? Welche Bilder begleiten ihn ? Wie gestaltet sich Trauer ? Ich füge an, dass ich dieses Kapitel mitten in der Corona-Krise las (absolut zufällig bei herrlichsten Sonnenschein mich ausruhend an einer Friedhofsmauer!) und äußerst hilfreich fand um zu verstehen, wie sich in gewißem Sinne der Tode verabschiedet hat aus unseren Gesellschaften um dann als immense Angst heute für so viele im Haus zu stehen. Und ignoriert.


    Er beschreibt also einen solchen « campo santo », teils erstaunt über die französisch-kindlich-ignorierende Weise mancher Grabdarstellungen (die typischen « Regrets-Tafeln », die künstlichen Blumen etc - wie ich es hier bei uns auch kenne), dann eher erfreut über das Ungeordnete, Verwahrloste, das sich im Unkraut niederschlägt : diese Gräser strahlen eine Unmenge mehr an schlichter Schönheit aus als dieses andere, manchmal lieblos Geordnete.

    Es folgen immer wieder noch neue Gedankenzüge über das Verhältnis zwischen Isolierung, Alleinsein und Clanzugehörigkeit, Gemeinschaftsauffassungen. Oder wie sich der gesellschaftliche Status in den Grabsteinen und -gestaltungen niederschlägt. Oder wie der Tod, bzw die Toten « früher » omnipräsent waren. Sind sie heute verschwunden ? Wo sind die Trauerrituale ? Und welche gab es früher ?


    Das alles (und mehr) ist überaus interessant !

  • 3. Die Alpen im Meer


    Wurde im Jahre 2001 veröffentlicht. Es geht um den ursprünglichen Riesenwald, der Korsika gänzlichst überzogen hatte, und von dem in Teilen noch etwas bis ans Ende des XIX.Jahrhunderts von damals Reisenden beschrieben wurde. Dort wuchsen zB Weißtannen bis zu 50 Metern Höhe. Eine Vorstellung der Landschaft, wie sie eben « ganz anders » war als wie wir sie heute kennen (ähnlich der dalmatischen Küste, die jedoch schon zu Roms Glanzzeiten (?) abgeholzt wurde. Geht auch hier, wie so oft, der Degradierungsprozeß vom Menschen aus… - sicherlich ein Thema, das Sebald umtrieb. Und das überaus modern ist ? Diese Beschreibung einer untergegangenen Welt sind überaus melancholisch, aber auch beeindruckend und lebendig.

    Weiterführend, damit verbunden, geht es dann noch auf mehreren Seiten über die (blutigen) Jagdrituale, den Stellenwert derselben in dieser Gesellschaft : « die Lust am Töten » ?!


    4. La cour de l’ancienne école (Titel im deutschen Original tatsächlich auf Französisch)


    Diese gerade mal zwei Seiten einschließlich einem Photo wurden 1997 in einem Buch veröffentlicht, in dem Autoren zu einem vorgelegten Bild einfach eine Geschichte erzählen sollten. Sebald vergaß das Photo auf seinem Schreibtisch und – schwupp ! - war es verschwunden. Bis er es eines Tages von einer korsischen Bekannten zurückerhielt, der er es ausversehen mit ins Couvert gesteckt hatte. Und diese Bekannte erkennt das Photo wieder, schildert kurz ihre Assoziationen dazu.


    In anderen Büchern erzählt Sebald ebenfalls mit Photos (Austerlitz etc). Man fragt sich wohl zu Recht, wo hier wohl jeweils Wirklichkeit beschrieben wird oder die Fiktion beginnt.

  • Verschiedene Essays


    Man könnte angesichts der Prosaarbeiten Sebalds eventuell vergessen, dass er zunächst einmal Professor war und sich auch und gerade als Literaturkritiker, bzw Essayist einen Namen machte. So siehe, laut wikipedia :

    (…) arbeitete Sebald zunächst als Lektor an der Universität Manchester; ein Jahr unterrichtete er auch an der privaten Internatsschule Institut auf dem Rosenberg in St. Gallen. Ab 1970 lehrte er an der University of East Anglia in Norwich und promovierte 1973 über Alfred Döblin. 1986 habilitierte sich Sebald an der Universität Hamburg mit Die Beschreibung des Unglücks. 1988 wurde er Professor für Neuere Deutsche Literatur an der University of East Anglia. Seit 1996 war er Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.


    Und dementsprechend gibt es in seinem Werk auch literaturkritische Schriften wie zB das unten verlinkte Buch.


    In diesem unseren besprochenen Buch Campo Santo befinden sich mehr als ein Dutzend Essays über verschiedene Themen literaturwissenschaftlicher Art. Dabei ist es weniger ein Auseinanderpflücken als vielmehr der Versuch (m.E.), das Wesentliche eines Werkes, eines Sachverhaltes zu umschreiben. Das ergibt sehr interessante Stellungnahmen, die natürlich nicht jeden gleichförmig interessieren (müssen).

  • 1. Fremdheit, Integration und Krise – Über Peter Handkes Stück Kaspar Hauser


    1975 von Sebald geschrieben


    Darf ich davon ausgehen, dass das Kasparmotiv, -thema bekannt ist ? Ansonsten siehe auch Näheres hier https://de.wikipedia.org/wiki/Kaspar_Hauser . Es handelt sich um einen « Findling » am Anfang des 19.Jahrhunderts, der zunächst weitgehend stumm eines Tages auftaucht.


    Seine Geschichte und die Vermutungen zu seinem Lebenslauf fanden zahlreiche Verarbeitungen in Geschichte, Pädagogik, Theater, Belletristik, Hörspielen, Musik etc. Was Sebald hier näher betrachtet ist das gleichnamige Stück von Peter Handke (siehe Verlinkung). Er zitiert allerdings auch aus Jakob Wassermanns « Caspar Hauser oder Die Trägheit des Herzens » und aus anderen Referenzen.


    Sebald geht der Frage nach, inwieweit es sich beim Umgang der Gesellschaft mit Kaspar in gewißem Sinne um eine « Domestisierung eines wilden Menschen » geht, oder schlichtweg die « bürgerliche Verbesserung eines unzivilisierten Individuums ». Ist dies eine Anfrage an Kaspar oder nicht eben auch an die ihn scheinbar aufnehmende Gesellschaft ? Ist jene von der « wehrlosen Präsenz » eines solchen Menschen provoziert ? Ist er im Besitz einer paradiesischen Glückseligkeit, die ihn unhistorisch, zeitlos empfinden läßt ? Weckt dies gar letzten Endes Neid ? Fortschritt bestände für diese Umgebung in der Erniedrigung des von ihr Dressierten, in die Einbringung in die gleichförmige Gesellschaft...

  • Hier noch eine Verlinkung zu einem anderen, hier öftr zitierten, erwähnten Text zum Thema. Eine Entdeckung wert?


    Im Jahr 1828 wird in Nürnberg ein junger Mann aufgegriffen. Er kann kaum sprechen und schreiben. Als ein Mordanschlag auf ihn verübt wird, beginnen wilde Spekulationen: Ist Caspar Hauser der letzte Zähringer-Erbprinz aus dem Hause Baden?

  • 2. Zwischen Geschichte und Naturgeschichte. Über die literarische Beschreibung totaler Zerstörung (1982)


    Die totale Zerstörung deutscher Städte durch die Massenbombardierungen der Alliierten war ein wichtiges Thema Sebalds. In diesem Essay schildert er, wie es aber keines, oder kaum eines, der Nachkriegsliteratur war. Dabei hatte dieser Fakt zu einer wahren Veränderung der Lebensform geführt. Die so genannte Trümmerliteratur wäre dabei weniger von der Beschreibung dieses Faktums und der gesellschaftlichen Veränderung ausgegangen, sondern eher von persönlicher Betroffenheit. Anders hätten wenige reagiert. In diesem Zusammenhang spricht Sebald insbesondere von drei Autoren und Büchern. Hermann Kusack mit « Die Stadt hinter dem Strom » und, unten habe ich es verlinkt. « Der Untergang » von Hans Erich Nossack als auch "Unheimlichkeit der Zeit" von Alexander Kluge:


    Im Jahre 1943, drei Monate nach dem - »Untergang Hamburgs«, hat Hans Erich Nossack Rechenschaft abgelegt über eine Katastrophe, deren Zeuge er war. »Das Schicksal hat es mir erspart, eine Einzelrolle dabei zu spielen... Für mich ging die Stadt als ein Ganzes unter, und meine Gefahr bestand darin, schauend und wissend durch Erleiden des Gesamtschicksals überwältigt zu werden.« Was unter dem Zwang des grauenvoll Erlebten niedergeschrieben wurde, ist ein Dokument - das Beweisstück, dennoch überlebt zu haben.


    Wie seltsam, dass die totale Zerstörung in gewißem Sinne persönliche Befreiung bedeutete. War sie nicht auch berechtigte Vergeltung ? In vielen ein Bedürfnis von Sühne. Insbesondere Nossack und Alexander Kluge experimentieren hier, laut Sebald, mit den Grenzen von Berichten, Aufzeichnungen und Untersuchung, historischen und fiktiven Text- bzw Bildmaterial. Dies an sich läßt uns aufhorchen und erinnert an die Vorgehensweise Sebalds selbst in seinen Bücher !? Wir hätten die Aufgabe, Erinnerung wachzuhalten.


    Ausführliche Erwähnung findet dieser Kluge mit seinem vielhundertseitigem, weiter unten verlinktem Werk. Der Halberstädter dokumentiert (als erster?) den Luftangriff auf seine Heimatstadt. Dabei stellt er fest, wie schwierig bei den Betroffenen ein « adäquates Handeln » ist : man hält mitten in der Katastrophe am Rollenverhalten fest, teils auf groteske Art.


    Dabei geht es um eine gegen alle Wahrscheinlichkeitsrechnung zu erarbeitende Zukunft, statt einer reinen Bewahrung einer Vergangenheit. Auf der anderen Seite – siehe die Interviews Kluges mit Befehlshabern der alliierten Luftflotte, gab es eine Kettenlogik der Zerstörung, nach dem Motto,«nu, wenn wir die Bomben schon dabei haben, dann müssen sie auch fallen ». Am Ende des Essay steht ein Zitat Kluges aus einem Text von Andrew Bowie : « History is no longer the past but also the present in which the reader must act. »

  • Hier noch eine Verlinkung zum Buch Kluges :


    Alexander Kluge - Neue Geschichten. Hefte 1 - 18. Unheimlichkeit der Zeit


    Broschiert: 618 Seiten

    Verlag: Suhrkamp (1977)

    Sprache: Deutsch

    ISBN-10: 3518108190

    ISBN-13: 978-3518108192

  • Eine Entdeckung wert?

    Ja. Unbedingt.

    Jakob Wassermann ist es wert.

    Ich hatte es vielleicht nicht ausdrücklich genug gesagt wie reich und anregend ich diese Essays finde ? Was für ein Ideenreichtum, der uns zum Nach- und Mitdenken einlädt ! Und im Hinterkopf notiere ich mir so manche mögliche, weiterführende Lektüre!


    3. Konstruktionen der Trauer. Günter Grass und Wolfgang Hildesheimer (1983)


    Dieser dritte Essay ist in drei Teile (römisch I-III) unterteilt, in denen jeweils ein Buch zum Thema im Vordergrund steht. Dabei streifen wir auch teils das im zweiten Essay Angesprochene, wohl einem Grundthema bei Sebald.


    I. Die Unfähigkeit zu trauern. Defizite in der Nachkriegsliteratur


    In diesem ersten Teil spricht Sebald ausgehend von einem Buch von Alexander und Margarete Mitscherlich aus dem Jahre 1967 « Die Unfähigkeit zu trauern: Grundlagen kollektiven Verhaltens » (siehe unten Verlinkung) von der eingängigen Erklärung zur Gefühlsstarre angesichts der Kriegsgreuel. Diese Unfähigkeit hinterließe in der Nachkriegsgesellschaft « negative Profilierungen » ». Zwar seien Trauer und Gedenken teils staatlich vorgeschrieben (Volkstrauertag, 17.Juni), doch nicht verinnerlich, im Individuum angekommen. Trauer und Melancholie wären verdrängt worden. (Man denke dabei an das Verfassungsdatum des Mitscherlich Buches, 1967, wie auch das des Sebald-Artikels, 1983. Es wäre m.E. eine Untersuchung wert, inwiefern zB die historische Begegnung von Helmut Kohl und François Mitterand, die Teilnahmen an verschiedenen Jubiläen angesichts von Kriegsende oder auch der Landung der Alliierten in der Normandie, oder zB die Weizsäcker-Rede etc. bahnbrechende Veränderungen bedeuteten in diesem Umgang mit Vergangenheit… ?!)


    Bis in die 60iger aber kam es eher weniger zu einer wahren Beschäftigung mit dem Leid anderer als vielmehr einer Form « egozentrischer Larmoyanz ». Ein Ausnahme dabei bildete der schon im Essay aus dem Jahre 1982 (siehe oben) erwähnte Hans Erich Nossack : Er sprach von der Erinnerung als Skandalon, das abgewehrt würde. Hier geht die Kritik Sebalds auch an die unmittelbare Nachkriegsliteratur, auch der von uns so bezeichneten « Trümmerliteratur ». Eine Mehrzahl der Vertreter, einschließlich Richter, Böll und Andersch, wären lange bei einer rein sentimentalen Verarbeitung des Kriegsdesasters geblieben, zB durch unmögliche Liebesgeschichten und ähnliches, ohne aber sich wirklich mit dem Opfer zu identifizieren.


    Erst Anfang der 60iger Jahre hätte es eine langsame Bewußtwerdung von Schuld gegeben, so zB bei Hochhuths "Der Stellvertreter", dann auch durch die « Frankfurter Vorlesungen » von Heinrich Böll oder « Die Ermittlung » von Peter Weiss.


    Taschenbuch: 400 Seiten

    Verlag: Piper Taschenbuch; Auflage: 26. (September 2007)

    Sprache: Deutsch

    ISBN-10: 3492201687

    ISBN-13: 978-3492201681


    (Fortsetzung folgt)

  • Und im Hinterkopf notiere ich mir so manche mögliche, weiterführende Lektüre!

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    Klappentext:

    Von hoher analytischer Kraft sind diese etwa 500 Geschichten, die Alexander Kluge seiner Chronik der Gefühle folgen läßt. Stichworte wie Revolution, Holocaust, Weltkrieg, Tschernobyl, 11. September oder Irakkrise bezeichnen einige der unheimlichsten Komplexe einer undurchdringlich-übermächtigen Wirklichkeit. In acht Kapiteln gehen Kluges Erzählungen diesen und anderen Menetekeln des 20. Jahrhunderts nach, um dann in der großen Coda eines neunten Kapitels noch einmal alle Motive und Themen zu variieren - und zu wenden.

    :study: Edvard Hoem, Der Heumacher.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Ich notiere, ich notiere, drawe !


    II. Günter Grass : « Tagebuch einer Schnecke »


    Sebald arbeitet ausgehend von diesem Buch von Günter Grass:


    Ein Schriftsteller reist 1969 durch die Bundesrepublik - und führt Tagebuch. Längst gehört der Wahlkampf von 1969 der Geschichte an. Viele Schriftsteller und Intellektuelle haben damals Partei ergriffen und Wählerinitiativen angeregt – allen voran Günter Grass. Jahre später hat er seine damaligen Tagebuchnotizen dazu benützt, seinen Kindern das Engagement für die SPD, für seinen Freund, den Emigranten Willy Brandt, und gegen den damaligen Bundeskanzler und ehemaligen Nationalsozialisten Kiesinger zu erklären. Das war nur mit Rückblicken in die Vergangenheit möglich. (Quelle : amazon)


    Laut Sebald war der erreichte ökonomische Erfolg am Ende der 60iger Jahre nicht gleichzusetzen mit der Bewältigung anderer Schulden und Lasten. Man meinte zwar, wieder oben angekommen zu sein, doch vieles blieb ungesagt oder vertuscht. In diese Atmosphäre hinein fällt der 1969iger Wahlkampf, in dem sich einige Intellektuelle intensivst engagierten.


    So Günter Grass. Beim hier kommentierten Buch handelt es sich also um sein Reisetagebuch aus der Kampagne. Jedoch – im Gegensatz zur obigen Kurzzusammenfassung - mischt Grass zu seinen eigenen Beobachtungen aus der Wahlkampagne, Erinnerungsfetzen über den Exodus Danziger Juden als auch fiktive Elemente. Dabei arbeitete er nach eigenen Angaben unter Einfluß eines Berichtes von Erwin Lichtenstein. Die Erwähnungen dieses historischen Auszuges zeigt schon auf, dass Grass das Tagesgeschehen in einen anderen, historischen Zusammenhang stellt ! Dieses Vorgehen billigt Sebald, und wir finden erneut eine Weise, wie wir sie von ihm selber kennen (sucht er nach ähnlich Vorgehenden?).


    Doch in diesem « Tagebuch » sind noch andere, fiktive Gestalten (zB Hermann Ott), die ein wenig für unsere moralische Rechtfertigung herhalten : zum Teil nur Widerstehende oder Aufrechte. Dabei vergißt man die sich real Eingegliedert Habenden! Und die Fiktion dominiert ! Dies aber wäre abträglich für die Schaffung eines wirklichen historischen Gedächtnisses ! Der zentrale Satz wohl hier, dass « die Literatur allein auf sich gestellt, zur Erfindung der Wahrheit nicht mehr taugt ». Nochmals : dies klingt wie eine Rechtfertigung oder Argumentation des Autors für seinen eigenen Umgang mit Dokumenten und Realität.


    Als Beispiel willkürlichen Umgangs mit realen Elementen führt er Grass’ Wunschbild von der Sozialdemokratie an : man nehme von den Ursprüngen das Beste und erzähle nicht das Unrühmliche. Wie aber konnte dieses Land (=Deutschland), das am Ende des XIX. Jahrhunderts die stärkste und koordinierteste sozialistische Bewegung besaß, derart einbrechen und dann also dem Faschismus in die Arme laufen ? Kein Wort dazu…


    Liest man diese teils Grasskritischen Aussagen (geschrieben also vor der Veröffentlichung von dessen teilweisigem Mitläufertum) unter dem Hintergrund des nun uns Bekannten, kann man nur staunen über die Klarsicht Sebalds : War da im Grass’schen Schreiben schon Schuld und Scham verborgen ? Und sei es in Form einer Melancholie ? Dabei sieht Sebald gleichzeitig die von ihm gelobten Ansätze, die in die richtige Richtung gehen würden...


    Taschenbuch: 328 Seiten

    Verlag: dtv Verlagsgesellschaft (1. September 1998)

    Sprache: Deutsch

    ISBN-10: 3423125934

    ISBN-13: 978-3423125932

  • Hier noch eine Verlinkung zu einem anderen, hier öftr zitierten, erwähnten Text zum Thema. Eine Entdeckung wert?

    Jakob Wassermanns Buch über Caspar Hauser ist m. E. nach eines der besten zum Thema. Generell hätte er es verdient, mehr gelesen zu werden. Finde ich.


    Was Sebald betrifft: Die Genauigkeit und Tiefgründigkeit seiner Texte, auch die Verschiedenartigkeit der Themen, die er aufgreift, bringt mich zum Staunen. Bei Essays o. ä. kenne ich mich nicht aus, aber es fällt mir schwer zu glauben, dass diese Qualität und Gründlichkeit heute noch existiert.

    Vielen Dank, dass du so ausführlich darüber schreibst.

    signed/eigenmelody

    Dear Life,

    When I said "Can my day get any worse?" it was a rhetorical question, not a challenge.

    -Anonymous

  • Generell hätte er es verdient, mehr gelesen zu werden.

    tom leo , Du siehst, wir sind schon zu zweit!

    Zu dritt! Mein Lieblings-Sebald (bis jetzt) ist der Reise- bzw. Wanderroman "Die Ringe des Saturn".:love:


    edit.: Ach, ich sehe gerade, Ihr meint nicht Sebald, sondern Jakob Wassermann.:uups::lol: Aber ja, der auch! In der Schule hat er mich gelangweilt ("Das Gold von Caxamalca"), aber während des Studiums habe ich ihn schätzen gelernt. Demnächst möchte ich "Caspar Hauser" lesen.

    :study: Zsuzsa Bánk - Die hellen Tage

    :study: Claire Keegan - Liebe im hohen Gras. Erzählungen

    :study: David Abulafia - Das Mittelmeer
















  • Demnächst möchte ich "Caspar Hauser" lesen.

    "Der Fall Maurizius", "Christoph Columbus", also bei Wassermann gibt es viel zu entdecken, finde ich. Weil ich Novellen gerne lese, haben mir seine Erzählungen auch so gut gefallen, z.- B. "Schläfst Du, Mutter?"

    Ich wünsche Dir viel Vergnügen bei "Caspar Hauser".

    :study: Edvard Hoem, Der Heumacher.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Demnächst möchte ich "Caspar Hauser" lesen.

    ... also bei Wassermann gibt es viel zu entdecken, finde ich. Weil ich Novellen gerne lese, haben mir seine Erzählungen auch so gut gefallen,

    Danke! Bislang von mir ungelesener Autor, auch wenn mir sein Name geläufig war und wir auch schon zwei Bücher im Schrank haben.


    III. Wolfgang Hildesheimer : « Tynset »


    »Tynset« – das ist der magische Pol eines exzessiven Monologs, in dem ein Ich-Erzähler in einer langen schlaflosen Nacht das Inventar seines Lebens und seines Bewußtseins ausbreitet. Wortreiche Bekenntnisse, akribische Selbstbeobachtung, quälende Erinnerungen und auswuchernde Halluzinationen ordnen sich zueinander in einer kunstvollen Komposition. Walter Jens empfiehlt Tynset als ein Buch, »das wir getrost den nach uns Kommenden vorzeigen können, weil es mehr als andere Bücher von unserem Bewußtsein und unserer Einsamkeit, von unseren Zwiesprachen mit der Geschichte, unserer Hoffnung und unserer Todesangst sagt«. (Quelle : amaz.Produktbeschreibung)


    Für Sebald ist dieses Buch entstanden aus dem « Zentrum der Trauer ». Ein von Schlaflosigkeit und Trübsinn geplagter monologisch-er Erzähler, der die Mittäter- und wisserschaft im Lande aufspürt. Er wird, als Klarsehender (?) zum Exil gezwungen. Doch der erschlagene Vater « rät von Rache ab ». Trotzdem : die ehemalige christliche Befreiungsbotschaft bleibt verschlossen. Bleibt : die Melancholie als Vorplatz des Todes ? Wie immer gibt es Querverweise zu anderen literarischen Werken, insbesondere Parallelen zu Shakespeares Hamlet als auch ein Werk von Robert Burton « Anatomy of Melancolia ». Dazu siehe auf Deutsch : Robert Burton: Anatomie der Melancholie. ISBN 3-423-02281-7. Laut wikipedia-Artikel (siehe Quelle und mehr: https://de.wikipedia.org/wiki/Anatomie_der_Melancholie ) handelt es sich dabei um ein 1621 herausgegebene « Zusammenstellung historischer, philosophischer und psychologischer Betrachtungen zum Thema Melancholie (Depression) aus zwei Jahrtausenden ». Ich finde den verlinkten Artikel sehr ansprechend und interessant! In der Produktbeschreibung finde ich folgende Bemerkung zu diesem Buch:

    "Müßig zu fragen, ob das Ganze ein Lehrbuch der alten Medizin sei, ein seelsorgerliches Trostbuch, ein Essay, Satire auf die verkehrte Welt, Vanitas-Litanei oder das Selbstbild eines Sonderlings: es ist dies alles und mehr – ein Buch der Bücher, eine labyrinthische Bibliothek nach Borges´ Herzen, die Metamorphose hellsichtiger Unlust an der Welt in Lust des Lesens."


    Es bleibt in diesem dritten Teil ansonsten eher bei einem inhaltlichen Nachgehen und Nacherzählen. Vielleicht hätte Sebald einiges weiter ausarbeiten können ? Dennoch : er betont diese scheinbar « dumpfere » Reaktion Hildesheimers auf Geschehenes als weitaus angemessener und literarisch ansprechender als so manch anderes.


    Taschenbuch: 269 Seiten

    Verlag: Suhrkamp Verlag; Auflage: 5 (27. Juli 1992)

    Sprache: Deutsch

    ISBN-10: 9783518384688

    ISBN-13: 978-3518384688

    ASIN: 3518384686

  • 4. Die Zerknirschung des Herzens. Über Erinnerung und Grausamkeit im Werk von Peter Weiss (1986)


    Um ehrlich zu sein war mir der Name von Peter Weiss bislang nur von Buchumschlägen her geläufig. Doch viel damit verbinden konnte ich nicht. Sebald geht hier von verschiedenen Aspekten seines Werkes aus, sowohl aus der Malerei, dem Theater als auch den Büchern. Kurz zu seiner Person :


    Peter Ulrich Weiss (Pseudonym: Sinclair; * 8. November 1916 in Nowawes bei Potsdam; † 10. Mai 1982 in Stockholm) war ein deutsch-schwedischer Schriftsteller, Maler, Grafiker und Experimentalfilmer. Er erwarb sich in der deutschen Nachkriegsliteratur gleichermaßen als Vertreter einer avantgardistischen, minutiösen Beschreibungsliteratur, als Verfasser autobiographischer Prosa wie auch als politisch engagierter Dramatiker einen Namen. Internationalen Erfolg erzielte er mit dem Stück Marat/Sade, das mit dem US-Theater- und Musicalpreis „Tony Award“ ausgezeichnet wurde. Das dem dokumentarischen Theater zugerechnete „Auschwitz-Oratorium“ Die Ermittlung führte Mitte der 1960er Jahre zu breiten vergangenheitspolitischen Auseinandersetzungen (der sog. Vergangenheitsbewältigung). Als Weiss’ Haupttext gilt der dreibändige Roman Die Ästhetik des Widerstands, eines der „gewichtigste[n] deutschsprachige[n] Werk[e] der 70er und 80er Jahre“. Weniger bekannt sind Weiss’ frühe, surrealistisch inspirierte Arbeiten als Maler und experimenteller Filmregisseur. (Quelle : https://de.wikipedia.org/wiki/Peter_Weiss ,dort auch reichlich mehr !)


    In Sebalds Augen wäre das Werk Weiss’ ein wahrer « Besuch bei den Toten », ein « auf das eigene Ende ausgerichtete Ausdruck ». Erinnerung sei stets verbunden mit einem Maß von Schmerz. Der Autor beschreibt einige der Bilder von Weiss (siehe auch hier: https://www.ecosia.org/images/…DDE5B9D26827F23506A8D55C1 , wo zumindest drei kommentierte Bilder zu sehen sind) und geht danach insbesondere auf das « Die Ermittlung » ein als auch der « Ästhetik des Widerstandes » als auch Auszügen aus seinen "Notizbüchern". Manchmal bliebe als Reaktion auf die Greuel, dem Faschismus Schweigen und ein Artikulationsmangel. Immer wieder kommen im Schriftsteller – so Sebald – vergessene und verdrängte Leiden und Leidenschaften seiner Kindheit hoch. Und mit der scheinbaren Schuld : internalisierte Strafen. Man denke da an den Struwelpeter als Kindeslektüre, bzw Bilderbuch ! Was für eine Lektion steht denn da dahinter ?! Bliebe denn uns nur etwas im Gedächtnis, was nicht aufhört wehzutun ? Insofern wäre Weiss ein Moralist. In ihm wie eine Schuldneurose. Wie kann man sich erklären, dass er, der jüdischen Ursprungs und dementsprechend potentielles Opfer war/ist, sich trotzdem an die Stelle der Täter oder zumindest : Mitschuldigen setzt ?! Dabei arbeitet Weiss auch mit Bildern aus Dantes « Göttlicher Komödie », insbesondere hier dem ersten Kreis (« Die Hölle ») als auch mit Motiven aus Kafkas Werk (Die Strafkolonie ; Der Prozeß).


    So sind die Grenzen zwischen Opfer und Täter bei Weiss nicht so entgegengesetzt oder leicht unterscheidbar ? Braucht es nicht Mut um die Polarisierungen abzulehnen ?


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    Hier eine Verlinkung zur « Ästhetik des Widerstandes », das entegegn erster Assoziation kein Essayband ist, sondern ein Roman :


    Was erzählt der Roman? Er berichtet von jungen Arbeitern, die 1937 in Berlin ihren Standort umreißen. Über die Tschechoslowakei gelangt der Erzähler nach Spanien und nimmt teil am Bürgerkrieg. Der zweite Teil schildert die Vielschichtigkeit der Erlebnisse im Stockholmer Exil. Der Autor verfolgt die Wege der Personen: Endstation für viele sind die Hinrichtungsstätten des "Dritten Reichs". Dennoch bleibt der Widerstand ihr Vermächtnis.


    Broschiert: 955 Seiten

    Verlag: Suhrkamp Verlag KG (Januar 1984)

    Sprache: Deutsch

    ISBN-10: 9783518044957

    ISBN-13: 978-3518044957

    ASIN: 3518044958