Richard Russo - Jenseits der Erwartungen / Chances are

  • Kurzmeinung

    towonder
    Portrait Amerikas gepaart mit einer Art Krimi und Lebensresüme. Lucys Geschichte war mir an manchen Stellen "too much"!
  • Klappentext/Verlagstext

    An einem Spätsommertag auf Martha’s Vineyard treffen sie sich wieder: Lincoln, Teddy und Mickey. Die drei Männer planen, das Wochenende in einem Ferienhaus auf der Insel zu verbringen – um der alten Zeiten willen. Seit dem Studium zu Vietnamkriegszeiten sind sie miteinander befreundet. Sie sind sehr unterschiedliche Wege gegangen, doch alle waren sie einst in dasselbe Mädchen verliebt, Jacy Calloway. Kurz nach ihrem Abschluss verschwand Jacy spurlos. Aber keiner von ihnen hat die Freundin vergessen – oder die Frage, wen von ihnen Jacy eigentlich liebte. Schließlich beginnt Lincoln, sich erneut mit den Umständen ihres rätselhaften Verschwindens zu beschäftigen. Was ist damals wirklich passiert?

    Richard Russo erzählt von drei Menschen, die sich fremd geworden sind, und vom Umgang mit der Unsicherheit, ob die eigenen Lebensentscheidungen die richtigen waren. Wie nebenbei ergibt sich daraus das Porträt eines Landes, das sich selbst nicht mehr ganz versteht. Mit ›Jenseits der Erwartungen‹ zeigt Russo seine ganze Könnerschaft – als großer Erzähler und als Menschenkenner.


    Der Autor

    RICHARD RUSSO, geboren 1949 in Johnstown, New York, studierte Philosophie und Creative Writing und lehrte an verschiedenen amerikanischen Universitäten. Für ›Diese gottverdammten Träume‹ (2016) erhielt er 2002 den Pulitzer-Preis. Bei DuMont erschienen außerdem ›Diese alte Sehnsucht‹ (2010), ›Ein grundzufriedener Mann‹ und ›Ein Mann der Tat‹ (beide 2017) sowie der Erzählband ›Immergleiche Wege‹ (2018).


    Inhalt

    Die drei Freunde Lincoln, Teddy und Mickey sind 66 Jahre alt und treffen sich vermutlich ein letztes Mal in Lincolns Ferienhaus auf Martha’s Vineyard. Lincoln will das Haus verkaufen, doch noch ist das letzte Wort darüber nicht gesprochen. Die drei Männer studierten gemeinsam, sie waren damals auf ein Stipendium und einen Nebenjob angewiesen und hatten es an kein Elite-College der Ostküste geschafft. Sie mussten sich zur Zeit des Vietnamkriegs zwischen Wehrdienst und Fahnenflucht entscheiden, voller Unsicherheit, ob sie überhaupt ihr Studium abschließen könnten. Allein diese Frage könnte die engsten Freunde entzweien. Als Teddy mit der Fähre auf der Insel ankommt, meint er am Pier Jacy zu sehen. Alle drei waren damals in Jacy/Justine verliebt. Nachdem Jacy 1971 aus dem Ferienhaus verschwand und nicht wieder auftauchte, wurde nie wieder über sie gesprochen. Das Thema Jacy könnte das Wochenende sprengen, egal, ob es angesprochen oder weiter verschwiegen wird. Drei Lebensbilanzen treffen nach 40 Jahren aufeinander, drei Familiengeschichten werden rückblickend erzählt. Verknüpft damit sind Entscheidungen, die damals getroffen werden mussten, ohne dass die Folgen absehbar waren, und mit denen die Männer sich spätestens jetzt abfinden müssen. Lincoln stammt aus einer an sich wohlhabenden Familie, deren Kupfermine durch den Preisverfall bankrottging. Teddy entpuppte sich als Jugendlicher überraschend als elegantes Baseball-Talent und Mickey stammte aus einer kinderreichen irisch-italienischen Arbeiterfamilie. Unerwartet wird Lincoln nun mit dem immensen Wert konfrontiert, den sein Grundstück inzwischen erlangt hat und mit den Plänen, die sein ungeliebter Nachbar mit dem Anwesen hat.


    Jacys Verschwinden gibt dem Roman eine zusätzliche Krimi-Ebene und als Leser lauerte ich darauf, ob die junge Frau die Insel damals verlassen hat oder nicht. Den Ermittler von damals, Joe Coffin, hat der Fall nie losgelassen. Er hat sich in der Seniorenresidenz ein Büro eingerichtet, um weiter an dem Fall zu arbeiten. Das Auftauchen der Besucher zwingt Joe, sich mit seinem damaligen Scheitern auseinanderzusetzen und darüber nachzudenken, welche Welt seine Generation den Enkeln hinterlässt.


    Eine Person, die vermutlich nicht jeder Leser auf dem Schirm hatte, setzt schließlich eine überraschende Wende in Gang.


    Fazit

    Richard Russo zeigt sich hier wieder als wunderbarer Erzähler, der Familien mitsamt ihren Rosenkriegen als verästelte Bäume darzustellen vermag und die Schwächen seiner Figuren wohlwollend entlarvt. Er erzählt nicht, wie eine Person „ist“, sondern lässt sie im Kontakt mit anderen Menschen wirken. Die Rolle des alten Coffin hat mich am stärksten berührt. Russo lästert ungehemmt über den US-amerikanischen akademischen Zirkus, über divenhafte Autoren und die unberechenbare Verlagsbranche und er wirft einen kritischen Blick auf Männerbünde. Ein wichtiges Thema ist der Aufstieg von Jugendlichen aus einfachen Verhältnissen und wie ihre Herkunft sie prägen wird. Außer Einblicken in die vom Vietnamkrieg geprägten 60er Jahre zeigt der Roman zahlreiche Wendepunkte in deren Leben und blickt damit tiefer als es ein reiner Kriminalroman tun würde. Nachdem alle Fäden entwirrt sind, habe ich aus dem Schicksal der ehemaligen Clique gelernt, das Leben wie durch die unterschiedlichen Seiten eines Fernglases zu betrachten – je nach Richtung kann es winzig oder prachtvoll wirken.


    :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5:

    :study: -- Damasio - Gegenwind

    :study: -- Naylor - Die Stimme der Kraken

    :musik: --


    "The three most important documents a free society gives are a birth certificate, a passport, and a library card!" E. L. Doctorow