Jeff Lemire - The Nobody

  • Kurzmeinung

    Kapo
    Etwas vorhersehbar, ansonsten geht dieses Außenseiter-Drama in Ordnung.
  • The Nobody


    Text und Zeichnungen: Jeff Lemire



    Inhalt: Die geordnete Welt von Large Mouth, eine Kleinstadt irgendwo in den Vereinigten Staaten, wird vollkommen auf den Kopf gestellt, als ein Zimmer im örtlichen Motel von einem seltsamen Gast bezogen wird: ein vollkommen in Mullbinden eingewickelter Mann. Trotz Misstrauens der Dorfbewohner scheint die heranwachsende Vicki ein gewisses Vertrauen zu dem Neuankömmling gefunden zu haben. Nachdem eine Frau spurlos verschwindet, haben die Bewohner in dem Unbekannten den Verdächtigen schnell gefunden. Als die Ereignisse sich daraufhin überschlagen, entdeckt Vicki sein schreckliches Geheimnis.


    Meinung: Large Mouth ist eine der Kleinstädte in den Weiten der Vereinigten Staaten, die uns immer wieder in Filmen, Büchern oder Comics begegnen: Dogville, American Gods, Freaks of the Heartland sind einige Storys, die mir dazu einfallen. Hier herrscht die heile Welt, jeder kennt jeden, die Kinder sind wohlerzogen und am Abend sitzen die Männer in der Dorfkneipe zum Bier zusammen. Die größte Attraktion von Large Mouth ist ein riesiger Barsch, der vor vielen Jahren einmal gefangen worden ist. Ansonsten ist außer ein paar Angelurlaubern hier nicht viel los.


    Jeff Lemire hat sich diesen zwar nicht neuen, aber interessanten Hintergrund ausgesucht und lässt eine Figur, die stark an H.G. Wells „Der Unsichtbare“ erinnert, in diesen, in sich abgeschlossenen Mikrokosmos als Fremdkörper eindringen. Dabei entsteht ein Kette von folgenschweren Ereignissen, die das Misstrauen der Menschen in extreme Hassgefühle wandeln lassen. Jeder Bewohner sieht sich plötzlich als eine Art Rächer, der verfolgen und bestrafen will und sich dabei im moralischen Recht wähnt. Gewissen und Empathie für das Opfer werden ausgeblendet. Vicki, die im Gegensatz zu den anderen als einzige ein Vertrauen zu dem unbekannten Mann gefunden hat, ist hilflos und am Ende erkennt sie, wie nichtig die Dinge sind, mit denen sich die Menschen hier zuvor befasst haben.


    Schon beim ersten Durchblättern des Werkes wird man sofort mit Lemires ungewöhnlichen Zeichnungen konfrontiert. Dekore, Requisiten und Hintergründe werden nur sehr spartanisch eingesetzt. Dieser Kunstgriff verstärkt die Illusion der Einsamkeit, die durch die kühle Farbgebung blau-schwarz-weiß eine gefühlsarme Note bekommt. Schnell bekommt man Mitleid mit den fragilen, dargestellten Figuren in dieser erdrückenden Kühle der Umgebung. Der Gebrauch dieses zeichnerischen Minimalismus kann schon fast als Integrationsversuch verstanden werden, um den Leser eine mentale Trennung vom Geschehen unmöglich zu machen.


    Fazit: Diese ungewöhnliche Story zeigt nicht nur die Verhaltensmerkmale einer nach Konventionen handelnden Dorfbevölkerung einer amerikanischen Kleinstadt auf. Sie lässt auch den Menschen, und damit auch dem interessierten Leser, in einen Spiegel sehen, in dem man falsch verstandene individuelle Freiheit und Eigenverantwortung erkennt, die sich in der Reaktion der Bevölkerung, aber auch im Scheitern des Unbekannten zeigt.

    Das Amt des Dichters ist nicht das Zeigen der Wege, sondern vor allem das Wecken der Sehnsucht.



    H.H.