Corrie ten Boom - Die Zuflucht / De schuilplaats

  • Klappentext:


    Was machte man in Amsterdam während des Zweiten Weltkriegs, wenn ein Jude vor der Tür stand, der sich verstecken musste? Man ließ ihn herein, telefonierte und versuchte mit Code-Worten, ihn auf dem Land unterzubringen. Man hatte einen geheimen Raum im Haus, der bei Razzien übersehen wurde. Man übte, nachts aus dem Schlaf gerissen zu sagen: Man wisse von nichts. Corrie ten Boom (1892–1983) erzählt, wie sie mit ihrer ganzen Familie Verfolgten Schutz bietet, selbst zur Verfolgten wird und schließlich 1944 im KZ Ravensbrück inhaftiert wird. Anders als ihre Schwester überlebt sie die Qualen und kommt 1945 frei. Trotz alledem ist sie nach dem Krieg weltweit als Botschafterin der Versöhnung unterwegs. Für ihren Einsatz wurde sie mehrfach ausgezeichnet. Von der Holocaustgedenkstätte Yad Vashem erhielt sie den Ehrentitel „Gerechte unter den Völkern“, und die niederländische Königin verlieh ihr den „Orden von Oranien-Nassau“.

    (Quelle: amazon.de)



    Meine Meinung:


    Mit diesem Buch über Corrie ten Booms Leben und Wirken war ich erstmals vor vielen Jahren als Jugendliche in Berührung gekommen und konnte mich noch diffus an ein Gefühl von tiefem Respekt für diese Frau erinnern, die unter größter Gefahr für sich selbst ein umfangreiches Untergrund-Netzwerk beherbergte und koordinierte (in Haarlem, nicht in Amsterdam, wie der Klappentext behauptet), was sich über viele Kapitel mindestens so spannend liest wie ein Krimi, aber bitterer Ernst war. Und auch dreißig Jahre später kann ich mich vor dieser außergewöhnlichen Frau nur verneigen - was sie sich dringend verbeten hätte. :lol: Dazu später mehr.


    Die Wahl der Lektüre war kein Zufall. (Teilweise zitiere ich hier meine Beiträge aus diesem Thread.) Ich hatte meinen ersten ernsthaften Corona-Blues und wollte etwas über Menschen lesen, die in schwierigen Situationen nicht aufgegeben haben, sondern über sich selbst hinausgewachsen sind. Corrie ten Boom, hierzulande vielleicht nicht so bekannt wie beispielsweise Miep Gies, hat zu den Menschen gehört, die während der NS-Zeit jüdische Flüchtlinge versteckt und versorgt haben. Mich haben viele Teile des Buches sehr traurig gestimmt, manchmal auch zu Tränen gerührt. Gleichzeitig tat es mir sehr gut, mich damit zu befassen, wie Leute sich und ihrem Umfeld unter weit schlimmeren Umständen die Würde, Hilfsbereitschaft und Menschlichkeit bewahrt haben. Wir haben in der Corona-Krise immer noch Telefon, Internet, dürfen weitgehend auch spazierengehen oder wenigstens für Einkäufe das Haus verlassen - damals haben die Leute teils Jahre in ihren Verstecken gesessen, hatten aus Sicherheitsgründen nur zu ihren HelferInnen Kontakt und mussten dabei auch noch mucksmäuschenstill sein. Wenn wir dieser Tage ein bestimmtes Produkt nicht bekommen, können wir es, falls wir Zeit haben, in einem anderen Supermarkt oder am nächsten Tag versuchen - damals gab es vieles nur auf Lebensmittelkarten, und wenn man dann versteckte Menschen mitversorgen musste, wurde es schnell richtig knapp. Wir werden beim Miteinkaufen für ältere Nachbarn schlimmstenfalls blöd angeguckt oder angesprochen, weil wir der Hamsterkäufe verdächtigt werden - wenn man damals mehr eingekauft hat, musste man damit rechnen, denunziert zu werden und im Konzentrationslager zu landen... So erging es am Ende auch Corrie und ihrer Schwester Betsie. Und selbst dort haben sie sich nicht brechen lassen, sondern haben noch inmitten des unbeschreiblichen Elends im Ravensbrücker Lager mit den anderen Frauen geteilt, was auch immer sie hatten, haben versucht, Hoffnung zu verbreiten, und haben gemeinsam Visionen entwickelt, wie sie nach dem Krieg Heime für traumatisierte Menschen einrichten würden, in denen diese sich von den erlebten Gräueln würden erholen können.


    An dieser Stelle kommt die tiefe Religiosität der gesamten Familie ten Boom ins Spiel. Einerseits war ihre Auslegung des Christentums von einer großen Liebe zu den alttestamentlichen Schriften geprägt; Corries theologisch interessierter Vater kannte kein größeres Glück, als mit einigen seiner jüdischen Uhrmacherkollegen stundenlange theologische Dispute zu führen, und wurde von Haarlems Rabbi kurz vor dessen Verschwinden / Deportation mit der Aufbewahrung seiner theologischen Bücher betraut. Sowohl Corries Vater als auch ihr Bruder, der Pfarrer wurde, hatten keinerlei Interesse daran, Menschen entsprechend ihrer Religion oder Konfession unterschiedlich zu behandeln, sondern waren im Gegenteil von einem friedlichen, respektvollen Miteinander der Religionen überzeugt - eine Einstellung, die die anderen Geschwister teilten. Gleichzeitig bildete ein von täglichem Bibellesen, Beten und zahlreichen guten Werken geprägtes calvinistisches Lebensmodell den Hintergrund für Corries und Betsies immense innere Stärke, auch wenn sie diese Stärke nie für sich selbst in Anspruch genommen, sondern stets auf Gott / Jesus verwiesen hätten.

    Diese Form der Frömmigkeit, bei der man in jeder Kleinigkeit Gottes Plan vermutet, ist mir, auch wenn ich mich als religiösen Menschen betrachte, in diesem Ausmaß doch fremd. Im Buch ist dieser Aspekt stets mindestens im Hintergrund präsent, wird aber auch öfter ganz explizit hervorgehoben. Mit diesen Passagen hatte ich zunächst Mühe. Doch irgendwann konnte ich mich davon freimachen und den Glauben der beiden Schwestern als das stehenlassen, was sie durch diese unsäglichen Zeiten getragen hat. Wer bin ich, heute vom weichen Sofa aus jemandem sagen zu wollen, wie intensiv er oder sie sich in dieses allumfassende Gottvertrauen hineingeben soll. Es waren andere Zeiten und Umstände - da hat man seinen Glauben wahrscheinlich entweder intensiver gelebt, als viele Menschen das heute tun, oder aber komplett verloren. :| Corrie ten Boom und ihrer Familie hat dieser Glaube den Mut und das Durchhaltevermögen geschenkt, um trotz unerträglicher Umstände den aufrechten Gang und die Mitmenschlichkeit nicht zu verlernen.


    Über diese Menschen zu lesen und an sie zu denken, hat mir ein wenig Hoffnung gemacht, dass wir das heutzutage unter längst nicht so schlimmen Umständen auch halbwegs hinbekommen können, wenn genügend Leute einen klaren Kopf behalten und nicht nur an sich selbst denken.

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  • Hier eine der niederländischen Originalausgaben:

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  • Vielen Dank für diese hervorragende Rezension, Sarange. :thumleft: Es hat mir richtig Freude gemacht diese zu lesen. Sehr informativ und auch nachdenklich stimmend. Danke!

    2024: Bücher: 91/Seiten: 40 202

    2023: Bücher: 189/Seiten: 73 404

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    Lese gerade:

    Saunter, Mick - Im Angesicht des Zorns

    Naam, Ramez - Nexus

  • Emili Ich glaube, man merkt schon ein bisschen, wie wichtig das Buch für mich gerade jetzt in dieser seltsamen Zeit war. :D

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  • Ein sehr berührendes Werk!


    Es war interessant zu lesen wie sich die Dinge entwickelten.

    Wie kam es dazu, dass die Familie Juden versteckte. Wie wurde das Ganze organisiert. Ich war überrascht wie sich untereinander geholfen wurde. Selbst unter den Polizisten in Haarlem waren Symphatisanten und Unterstützer.

    Die Familie war mir mit ihren Freunden sehr symphatisch.


    Zum Schluss fand ich den Glauben an Gott zu viel, zu vordergründig, zu aufgetragen. Ich möchte nicht abstreiten das die Familie den Glauben so empfunden und gelebt hat. Es war für mich nur zu vordergründig.


    Nicht sehr glaubhaft fand ich am Ende, in Ravensbrück, die Szene wo Corrie es schaffte die Bibel und den Pullover an den Aufsehern vorbei zuschmuggeln. Auch hier ziehe ich es durchaus in Erwägung das es so passiert sein könnte.


    Insgesamt fand ich das Buch sehr gut geschrieben, sehr aufwühlend und traurig.

  • Zum Schluss fand ich den Glauben an Gott zu viel, zu vordergründig, zu aufgetragen. Ich möchte nicht abstreiten das die Familie den Glauben so empfunden und gelebt hat. Es war für mich nur zu vordergründig.

    Mich würde interessieren, ob du ein missionarisches Anliegen dahinter wahrgenommen hast oder ob für dich, auch wenn du es persönlich zu vordergründig fandest, klar war, dass Corrie ten Boom da bei sich selbst und ihrem persönlichen Glauben und dem ihrer Schwester blieb.

    Ich hatte dem Buch vor der Lektüre schon ein wenig ersteres unterstellt und dann beim Lesen die ganze Zeit auf die "missionarische Keule" gewartet, die aber meinem Empfinden nach nie kam. Für mich war immer deutlich, dass sie in ihren Schilderungen bei sich blieb, und ich hatte nicht das Gefühl, dass den Lesenden etwas übergestülpt werden sollte. Wie ging dir das?


    Beeindruckend finde ich nach wie vor den Mut und den klaren Blick, mit dem der Glaube bei der Familie ten Boom dazu geführt hat, nicht den Kopf in den Sand zu stecken und in der eigenen religiösen Blase zu leben, sondern aus diesem Glauben heraus politisch aktiv zu sein, auch wenn das für sie unbequem und gefährlich war. Diese Haltung scheint in der Familie schon eine längere Tradition gehabt zu haben, wie in diesem Buch verdeutlicht wird, das ich irgendwann auch einmal lesen möchte:


    (...) In "Kleines Haus mit offenen Türen" erzählt Corrie ten Boom von ihrer Kindheit und Jugend, von der prägenden Bedeutung ihres Vaters und dem geistlichen Erbe ihrer Familie, die schon zu Napoleons Zeiten den Mächtigen der Welt die Wahrheit sagte.

    Quelle: amazon.de

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  • Sarange

    Ich hatte nicht das Gefühl, das mir als Leser der Glaube übergestülpt werden sollte.

    Für mich war der Glaube die ganze Zeit "echt", im Sinne von "die Familie hat diesen tiefen Glauben".


    Mich hat der Mut und die Selbstverständlichkeit anderen zu helfen, unter Bedrohung des eigenen Lebens, sehr beeindruckt.

    Auch am Anfang als der Vater erklärt, der "Koffer" sei für das Kind zu schwer darum trage er ihn. Das fand ich berührend.


    In meiner Ausgabe sind hinten zwei weitere Bücher vorgeschlagen die für mich zu missionarisch klingen, daher werde ich diese nicht lesen.

    Eines habe ich mal angehängt.


    Das von dir angehängte klingt wieder interessanter, es wandert erst mal auf meine Wunschliste. :wink:

  • Ich sehe leider kein angehängtes Buch. :-k

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  • Jetzt aber :uups:

    Ja. Ach du meine Güte. 8-[ So etwas würde ich auch nicht lesen wollen und staune gerade sehr darüber, dass Corrie ten Boom offenbar so dermaßen unterschiedliche Bücher geschrieben hat. :-k

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