Manche Geheimnisse sind unausgesprochen. Andere sind unaussprechlich.
Mit "Die stummen Wächter von Lockwood Manor" hat Jane Healey einen interessanten Roman vorgelegt, der im Jahr 1939, kurz nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs spielt. Hetty Cartwright muss eine Sammlung des Londoner Natural History Museum vor dem heraufziehenden Krieg in Sicherheit bringen – ins verfallene Herrenhaus Lockwood Manor. Doch das Haus wirkt auf Hetty wie verflucht: Ihre geliebten Exponate, der ausgestopfte Panther, die Kolibris und der Eisbär, verschwinden, werden zerstört und scheinen nachts umherzuwandern. Zusammen mit der Tochter des tyrannischen Hausherrn, Lucy Lockwood, versucht Hetty, die nächtlichen Geschehnisse zu ergründen, und bringt ein tragisches Geheimnis ans Licht. Eine fesselnde und betörende Geschichte über eine große Liebe und den Wahnsinn einer Familie, ihre lang vergrabenen Geheimnisse und versteckten Sehnsüchte.
Das aufwendig gestaltete Cover erinnert an eine feine Stickerei und wirkt wie ien Relikt aus einer längst vergangenen Epoche. Zwei exotische Tiere sind in den zarten Reigen aus Rosen und Früchten integriert worden. Ein Kolibri, dessen Gefieder in allen Farben des Regenbogens schillert, und ein schwarzer Panther, der gleichermaßen majestätisch wie einschüchternd wirkt. Auf diese Weise wird eine Brücke zu den ausgelagerten Exponaten des Natural History Museums in London geschlagen, die in Lockwood Manor vor den Schrecken des Zweiten Weltkriegs geschützt werden sollen..
Das Setting in einem halb verfallenen Herrenhaus ist gut gewählt. Ebenso wie die schadhaften Ausstellungsstücke ist Lockwood Manor sichtbar angeschlagen. Seine ruhmreiche Vergangenheit liegt lange zurück; nun bröckelt die glanzvolle Fassade und viele streng gehütete Geheimnisse kommen nach und nach ans Tageslicht.
Der Roman spielt 1939, zu Beginn des Zweiten Weltkriegs. Das Geschehen wird von zwei verschiedenen Personen, jeweils aus der Ich-Perspektive, erzählt. Bei der ersten Ich-Erzählerin handelt es sich um Hetty Cartwright, welche als Direktorin der Sammlung die Verantwortung für alle ausgelagerten Ausstellungsstücke trägt, die von ihrem Standort in der Metropole London evakuiert und aufs Land in Sicherheit gebracht werden sollen, um sie vor einer möglichen Zerstörung durch die Bomben der deutschen Luftwaffe zu schützen. Als Waise hat Hetty niemals die Stabilität einer intakten Familie erfahren; sie ist zwar von einer gutbürgerlichen Familie adoptiert worden, konnte aber nicht die Leerstelle füllen, die der Tod der leiblichen Kinder ihrer Adoptiveltern hinterlassen hatte.
Die zweite Ich-Erzählerin ist Lucy Lockwood, die einzige Tochter des Hausherrn, die vor wenigen Monaten ihre Mutter und ihre Großmutter durch einen tragischen Auto-Unfall verloren hat. Sie ist eine attraktive junge Frau, die ihr Elternhaus bis auf einen kurzen Aufenthalt in einem Internat nie verlassen hat und einen psychisch labilen Eindruck vermittelt. Ihr Elternhaus war zerrüttet, ihr sensible Mutter litt an Wahnvorstellungen, während ihr cholerischer Vater ein chronischer Fremdgänger ist. Ihre in kursiver Schrift gestalteten Erinnerungen reichen weit in die Vergangenheit zurück und spiegeln ihre tief in ihrer Kindheit verwurzelten Ängste.
Hetty und Lucy stammen aus unterschiedlichen sozialen Schichten, sind in dysfunktionalen Familien aufgewachsen und werden von ihren Mitmenschen aus verschiedenen Gründen ausgegrenzt. Dennoch entwickelt sich zwischen den zwei Außenseiterinnen eine enge Bindung, die von einer losen Freundschaft zu einer intimen Beziehung (Queer-Love) führt.
Während ihres Aufenthaltes auf Lockwood Manor häufen sich unerklärliche Ereignisse, die Hetty und Lucy an ihrem Verstand zweifeln lassen. Von den Schrecken des Zweiten Weltkrieges ist auf Lockwood Manor wenig zu spüren, das alltägliche Grauen zeigt sich auf einer anderen Ebene. Nach und nach kommen die schrecklichen Geheimnisse von Lockwood Manor ans Tageslicht. Was hinter den dicken Mauern vor sich gegangen ist, lässt sich kaum in Worte fassen. Jane Healey hat einen düsteren, verstörenden Roman geschaffen, der mich tief erschüttert hat. Dieses Buch ist nicht leicht zu lsen, mitunter etwas langatmig und sperrig. Dennoch gibt es eine klare Empfehlung von mir!