Benjamin Myers – Offene See / The Offing

  • Kurzmeinung

    mofre
    Banale, nichtssagende Wohlfühlgeschichte
  • Kurzmeinung

    Emili
    Nature Writing, schöne, poetische, bildhafte Sprache. Wer das mag, wird mit dem Roman zufrieden sein.
  • Erscheinungstermin vorgezogen


    Klappentext/Verlagstext

    Der junge Robert weiß schon früh, dass er wie alle Männer seiner Familie Bergarbeiter sein wird. Dabei ist ihm Enge ein Graus. Er liebt Natur und Bewegung, sehnt sich nach der Weite des Meeres. Daher beschließt er kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, sich zum Ort seiner Sehnsucht, der offenen See, aufzumachen. Fast am Ziel angekommen, lernt er eine ältere Frau kennen, die ihn auf eine Tasse Tee in ihr leicht heruntergekommenes Cottage einlädt. Eine Frau wie Dulcie hat er noch nie getroffen: unverheiratet, allein lebend, unkonventionell, mit sehr klaren und für ihn unerhörten Ansichten zu Ehe, Familie und Religion. Aus dem Nachmittag wird ein längerer Aufenthalt, und Robert lernt eine ihm vollkommen unbekannte Welt kennen. In den Gesprächen mit Dulcie wandelt sich sein von den Eltern geprägter Blick auf das Leben. Als Dank für ihre Großzügigkeit bietet er ihr seine Hilfe rund um das Cottage an. Doch als er eine wild wuchernde Hecke stutzen will, um den Blick auf das Meer freizulegen, verbietet sie das barsch. Ebenso ablehnend reagiert sie auf ein Manuskript mit Gedichten, das Robert findet. Gedichte, die Dulcie gewidmet sind, die sie aber auf keinen Fall lesen will.


    Der Autor

    Benjamin Myers, geboren 1976, ist Journalist und Schriftsteller. Myers hat nicht nur Romane, sondern auch Sachbücher und Lyrik geschrieben. Für seine Romane hat er mehrere Preise erhalten. Er lebt mit seiner Frau in Nordengland.


    Inhalt

    Robert Appleyards Lebensweg schien vorgezeichnet. Wie alle Männer in seinem nordenglischen Heimatort würde er nach der Schule im Bergwerk arbeiten. Doch der Zweite Weltkrieg weckt Roberts Fernweh und seine Abenteuerlust: 1946 will er endlich zur See fahren. Er macht sich zu Fuß mit dem Rucksack auf den Weg Richtung Süden, entlang Englands Ostküste. Der Icherzähler, der sich an das erste Nachkriegsjahr erinnert, steht offensichtlich am Ende seines Lebens, seine Pflichten sind ihm zur Last geworden.


    Schon als Jugendlichen drängte es Robert aus den Grenzen seines Bergarbeiterdorfs hinaus. Nach Kriegsende war er ständig hungrig, wie viele Menschen zu der Zeit, auch hungrig auf das Leben. Als Birder, der Vögel beobachtet und zeichnet, fand Robert die Ahnung seines wahren Ichs schon als Kind nur in der Natur. Weil viele Männer gar nicht oder versehrt aus dem Krieg zurückkehrten, findet er auf seinem Weg problemlos Arbeit. Robert trifft unterwegs Tagelöhner und Kesselflicker, er lernt die Kunst des Smalltalks, etwas, das bisher niemand von ihm erwartet hatte. Als Robert auf Dulcie trifft, hat er seine Zukunft unter Tage bereits abgelegt, die wie ein dunkles Tuch auf ihm gelastet hatte. Dulcie lebt allein auf einem imposanten wie idyllischen Grundstück, auf dem einiges zu reparieren ist. Dulcies Verhalten wirkt auf Robert unerhört, sie trägt eine Hose, spricht selbstbewusst über Dinge von denen er noch nie gehört hat – und sie scheint die Deutschen nicht zu hassen. Robert und Dulcie wirken wie füreinander geschaffen; Robert kann nahezu alles reparieren, Dulcies Lebensmittelvorräte scheinen so unerschöpflich wie ihr Wissen. Zwischen kritischer Mentorin und lernbegierigem Schüler entwickelt sich ein enges, stets platonisches Verhältnis. Immer wieder schnürt Robert seinen Rucksack und immer wieder hält ihn etwas bei Dulcie zurück. Er muss in der Auseinandersetzung mit ihr sein Weltbild neu ordnen, Religion, Krieg, die Rolle der Frau in der Nachkriegszeit, die englische Klassengesellschaft, in der „Leute wie er nicht studieren“. Als Robert ein kleines Cottages auf Dulcies Grund zu renovieren beginnt, nimmt sein Leben eine erstaunliche Wende.


    Zu lesen ist über die ungewöhnliche Beziehung durch die Erzählstimme eines Menschen, der in seiner Erinnerung noch jung ist. Sehr früh habe ich mich gefragt, wie ein Bergarbeiterjunge, geboren um 1930, zu einem so sensiblen Blick auf die Welt und zu dieser ungewöhnlichen Ausdrucksfähigkeit kommt. Robert schien mir ein wenig zu reif und zu intelligent für jemanden, der gerade aus dem Ei geschlüpft war. Das Geheimnis um das überwucherte Cottage und Dulcies zugewachsenen Blick aufs Meer steigert die Spannung, wie sich das Verhältnis zwischen der lebenserfahrenen Frau und dem 16-jährigen Robert entwickeln wird.


    Fazit

    Die Kombination aus Bildungs- und Entwicklungsroman, Nature-Writing und Auseinandersetzung mit dem Zweiten Weltkrieg scheint beinahe zu viele Themen zu verarbeiten. In der Summe wird dieser stilistisch beeindruckende Roman jedoch getragen von der sensibel beobachteten Gemütslage eines 16-Jährigen nach einem Krieg. Ein Roman, aus dem ich am liebsten jeden Absatz vorlesen würde …


    :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5:

    :study: -- Damasio - Gegenwind

    :study: -- Ravik Strubel - Blaue Frau

    :musik: -- Catton - Gestirne; Rehear


    "The three most important documents a free society gives are a birth certificate, a passport, and a library card!" E. L. Doctorow

  • Das hört sich (mal wieder ;) ) wunderschön an und ist direkt auf meinen Wunschzettel gewandert. Es hat viele "Zutaten", die ich mag: England, Nachkriegszeit, ungewöhnliche Lebenswege, Überwinden von Klassenunterschieden, Bildungshunger und Neugier und das Meer.

  • Heimatliebe

    Benjamin Myers reiht sich ein in die breite literarische Tradition, die englische Autoren ihrer tiefen Verbundenheit mit der Heimat Ausdruck verleihen lässt. ‚Cider with Rosie‘ von Laurie Lee oder Carrs erst vor kurzem wiederentdecktes ‚A Month in the Country‘ bieten literarische Beispiele, an denen sich diese Neuerscheinung zweifellos orientiert.
    Die Liebe zu der Natur Nordenglands, das nagende Trauma des gerade erst beendeten Krieges, die faszinierte Erkundung aller Möglichkeiten, die Sprache eröffnet - das sind die Bestandteile, aus denen der Autor die polyphone Sinfonie seines Romans komponiert. Sprachmächtig, bildmächtig, aber von einem unbestimmten Grauen vorwärtsgetrieben, hören wir seinem Singen und Sagen zu: die Folgen eines inhumanes Krieges immer noch vor Augen, die Furcht vor dem scheinbar vorgezeichnetem Leben im Bergwerk im Herzen, der Triumph, vermittels der Sprache Erlebtes und Erdachtes für sich und andere erlebbar, ergreifbar zu machen: das sind die Komponenten, die dem Leser ein außergewöhnliches Lektüreerlebnis versprechen.
    Allerdings darf nicht verschwiegen werden, dass der Autor gelegentlich über das Ziel hinausschießt. Allzu gewollt poetisch gestaltet er seine Diktion, etwas stereotyp verbalisiert er wieder und wieder seinen Abscheu gegenüber dem gerade erst beendeten Weltkrieg. Übermäßig pointiert fällt das Porträt der zum Dozieren neigenden Dulcie aus. Auch Anachronismen unterlaufen dem Autor gelegentlich: das moderne Wort ‚Genpool‘ KANN nicht im Wortschatz eines Bergarbeitersohns im Jahr 1946 enthalten sein.
    Trotzdem soll dieser neue Roman dem deutschen Leser empfohlen sein, der eine Vorstellung vom Rauchen Charme der Landschaft von Yorkshire gewinnen möchte.

    Mein Urteil: 4 Sterne

  • Die Enge des Elternhauses veranlasst den 16-jährigen Robert sich auf den Weg zur Küste zu machen. Er verspürt eine Sehnsucht nach dem Meer und möchte einmal die offene See erleben. Es ist das Jahr 1946 und nach seiner Wanderung durch das sommerliche England soll er, wie seine Vorväter, im Bergwerk unter Tage seine Arbeit aufnehmen. Unterwegs lernt Robert dann Dulcie kennen, eine Frau, die ein Leben lebt, wie er es nie kennengelernt hat. Durch sie eröffnet sich eine ganz neue Welt für Robert.


    Die Daily Mail schreibt "Ein bewegend poetischer Lobgesang auf das Land - tief empfunden und aufmerksam beobachtet". Dem kann ich nur zustimmen. Eine wunderbare Geschichte, die der Autor Benjamin Myers hier über menschliche Beziehungen erzählt. Wunderbar lebendig und gefühlvoll geschrieben, man sieht die Protagonisten Robert und Dulcie bildlich vor sich. Einfach herrlich zu lesen und ein sehr empfehlenswertes Buch.

  • Die Geschichte spielt kurz nach dem Zweiten Weltkrieg und nach all den Schrecken freuen sich die Menschen darüber, dass es langsam bergauf geht. Das Leben des sechszehnjährigen Robert ist vorbestimmt, er soll Bergarbeiter werden, wie alle Männer in seiner Familie. Doch er will ein Stück Freiheit haben und die Weite des Meeres erleben. So macht er sich auf die Wanderschaft und erhält Verpflegung und Unterkunft gegen Gelegenheitsjobs. Dann lernt er Ducie kennen. Sie lebt alleine und sehr unkonventionell. Aber sie hat auch ihre Vorstellungen. Die wuchernde Hecke, die den Blick zum Meer versperrt, darf nicht gestutzt werden, und das ihr gewidmete Manuskript, welches Robert findet, will sie nicht lesen.


    Der Schreibstil des Autors Benjamin Myers hat mich begeistert, er ist wundervoll bildhaft und poetisch.


    Dulcie ist eine ungewöhnliche Frau, eine Frau, wie sie Robert noch nie getroffen hat. Sie ist unabhängig und hat alles, was sie braucht. Robert ist beeindruckt. Sie stellt alles, was er vom Leben erwartet, in Frage. Die Gespräche der beiden verändern ihn und er bleibt länger bei Dulcie, als er es vorhatte. War Dulcie anfangs noch recht barsch, so öffnet sie sich mit der Zeit und es entsteht eine wunderbare Freundschaft.


    Es geschieht nicht sehr viel in dieser Geschichte, die Robert rückblickend erzählt, und doch hat sie mich von Anfang an gepackt.


    Ich kann dieses Buch nur empfehlen.

  • Frühjahr 1946. Dem sechzehnjährigen Robert ist seine Welt in einer kleinen Bergarbeiterstadt im Norden Englands zu eng geworden. Die Erwartung, wie all seine männlichen Vorfahren unter Tage zu arbeiten, kann er noch nicht erfüllen. Um endlich einmal Freiheit zu spüren, begibt er sich auf Wanderschaft durch seine vom Krieg noch stark mitgenommene Heimat. Sein Weg führt ihn schließlich zum kleinen Cottage von Dulcie Piper - eine ältere Dame, die sein Leben für immer verändern soll.


    Mit "Offene See" ist Benjamin Myers ein großartiger Coming of Age-Roman gelungen, der so viel mehr als dieses eine Label zu bieten an. Die Sprache ist von unglaublicher Poesie und fängt die Küstenlandschaft und ihre Bewohner perfekt ein. Robert ist ein stiller Junge, der seinen Weg im Leben erst noch finden muss. Der Krieg hat auch ihn geprägt und seine Wut auf die Deutschen geschürt. Das Aufeinandertreffen mit Dulcie verändert jedoch etwas in ihm. Im Gegensatz zum klassischen Frauenbild der Zeit nimmt sie kein Blatt vor den Mund, lebt, wie sie es für richtig hält und hat auch zum Kriegsgeschehen eine klare Meinung: Niemand gewinnt einen Krieg wirklich, im Grund gibt es nur Verlierer und auf beiden Seiten stehen menschliche Wesen. Eine wichtige Botschaft, auch und gerade in der heutigen Zeit.


    Nach und nach begreift Robert, dass Dulcies Leben ein Geheimnis birgt, eine Wunde, die immerzu schmerzt und nicht heilen will. Bei gemeinsamen Essen und langen Gesprächen kommen die beiden sich näher und öffnen sich einander. Dabei ist es schön zu spüren, dass Dulcie als die Ältere sich nie überlegen gibt, sondern auch die Chance nutzt, etwas von Robert zu lernen. Der hingegen erhält durch Dulcie einen völlig neuen Blickwinkel auf sein Leben und was er damit anzufangen gedenkt. Ein fabelhafter Roman, der auf jeden Fall zu meinen Highlights in 2020 gehört! :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5:

  • Mir hat die Idee eines Bergbau-Jungen, der von dem Meer fasziniert ist unglaublich gut gefallen. Nichts könnte so weit von allem maritimen entfernt sein wie der Bergbau. Robert ist mutig genug, sich von dem Grau der Kohle zu befreien, um sich auf den Weg zur ewigen blauen Weite zu machen. Das habe ich zumindest erwartet. Ich wollte diese Faszination Meer, den Zauber, in Worte gefasst sehen.

    Bekommen habe ich das leider nicht und das hat eine Weile gebraucht zu verstehen und zu akzeptieren. Nach der Hälfte habe ich mich auf die wirkliche Geschichte einlassen können: ein Junge, der sich in seinen letzten Sommerferien auf den Weg hinaus in die Welt macht und nur ein grobes Ziel hat: das Meer. Dabei trifft er auf die eigenwillige Dulcie. Daraus entsteht eine ganz eigene Freundschaft zwischen Jung und Alt, Tradition und Umdenken. Mit der Zeit schließt man die beiden sehr in sein Herz und genießt einfach dieses sommerliche ''in den Tag hinein leben''-Gefühl.


    Meine falsche Erwartungshaltung hat dafür gesorgt, dass ich zur Hälfte enttäuscht bin. Das Ende hat mich aber so berührt, dass ich richtig wütend auf mich wurde, dass ich das Buch nicht so genießen konnte, wie es ist. Deswegen werde ich Robert und Dulcie im Sommer auf jeden Fall eine zweite Chance geben, denn die haben sich die beiden auf jeden Fall verdient! Die 4,35 ⭐ (Stand: 10.06.2020) auf Goodreads sind nicht unberechtigt, aber sorgen für eine zu hohe Erwartungshaltung.


    Meine Bewertung: ⭐⭐⭐

  • Dulcies Lebensmittelvorräte scheinen so unerschöpflich wie ihr Wissen.

    Deine Rezension trifft genau, finde ich. Ich habe diesen langsamen und stillen Roman sehr genossen.

    Die Quelle der wirklich unerschöpflichen Lebensmittelvorräte, vieles aus Deutschland, wird leider nicht genannt - ist aber nicht so wichtig.

    Mir gingen allerdings die ständigen Belehrungen Dulcies im Fortgang des Buches zunehmend auf die Nerven, ich fand sie etwas besserwisserisch.


    Trotzdem:

    In diesem Fall war das Etikett "SPIEGEL Bestseller" keine Warnung. Ein wunderbares Buch.

    :study: Percival Everett, James.

    :musik: Agatha Christie, Mord im Pfarrhaus.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Wenn dir das Fabulieren Spaß macht, was Dulcie im Krieg für Geschäfte betrieben haben könnte, von denen sie heute noch zehrt, empfehle ich dir


    Nach Kriegsende werden der vierzehnjährige Nathaniel und seine Schwester von den Eltern in London zurückgelassen. Der geheimnisvolle »Falter« und dessen zwielichtige Freunde kümmern sich fortan fürsorglich um sie. Wer aber sind diese Menschen wirklich? Als die Mutter wie aus dem Nichts wieder zurückkehrt, sagt sie nur: »Meine Sünden sind vielfältig.« Mehr gibt sie nicht preis. Als er erwachsen ist, beginnt Nathaniel die geheime Vergangenheit seiner Mutter Rose alias Violet aufzuspüren – einer Spionin im Kalten Krieg.


    [edit:] Du kennst es!

    :study: -- Damasio - Gegenwind

    :study: -- Ravik Strubel - Blaue Frau

    :musik: -- Catton - Gestirne; Rehear


    "The three most important documents a free society gives are a birth certificate, a passport, and a library card!" E. L. Doctorow

  • Du kennst es!

    Richtig. Ich sehe, dass Dir das Buch auch sehr gut gefallen hat!

    Ja - Du magst recht haben mit Deiner Vermutung, Dulcies Lebensmittelvorräte betreffend, aber irgendwie macht die Geschichte dann dort einen Knick. Wie kann sie für ein Land spionieren, das ihre Geliebte in den Freitod treibt?


    Wie gesagt: solche Leerstellen stören mich nicht so sehr.

    Dulcies Besserwisserei schon eher.

    Ist vielleicht bei alten Damen so.

    :study: Percival Everett, James.

    :musik: Agatha Christie, Mord im Pfarrhaus.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Doch, hab's auch gelesen. Aber sooooo begeistert wa ich nicht.


    Beobachtungen


    Da ist ein Ich-Erzähler, der sich an seine Jugend erinnert. Er innert sich mit einem coming-of-age-Roman, spielt anno 1946, in England. Der 16jährige Robert aus einer Bergmannsfamilie unternimmt eine Wanderung an der Küste, eine persönliche Bildungswanderung, hieße das anderswo. Er läuft dabei einer Außenseiterin ins Cottage, die dort ihren luxeriösen Ruhestand verbringt. Bei ihr beginnt für ihn die "Éducation sentimentale", die Schule der Empfindsamkeit. Neigung dazu allerdings bringt er schon mit, zum Beispiel seine intensive Naturwahrnehmung und die Lust, sein wahres Ich zu finden. Dulcie, "die Süße", ermuntert ihn, seine Lebensneugier auch auf leibliche Genüsse auszudehnen, Brandy inklusive, und des Lebens leichte Seiten zu pflegen. Kurze Zeit hegte ich die Idee, dass Dulcie am Ende den kleinen Robert auch mit ins Bett nehmen würde. Doch es bleibt dabei, dass sie anregend über Erotik spricht, machen muss er's anderswo. Er ist nicht doof, geht auch mal zum Strand, sieht die Mädchen, hat so seine Empfindungen. Bevor er in Dulcies Arme, pardon Obhut, geriet, hatte er auch schon mal flüchtig eine Theresa vorsichtig geküsst. Mehr Fähigkeiten bringt er schon mit fürs Renovieren von englischen Cottages und Gartenpflege, erstaunlich dieser 16Jährige. Ein rechts gutes Wissen übers Meer hat er auch schon, obwohl aus einem Bergarbeiterstädtchen. Autofahren wiederum kann er nicht und darf er nicht, Dulcie aber kriegt ihn dafür ran. Gut, irgendwie bleiben sie zusammen und der Junge wächst über seine Jahre und Herkunft hinaus. Aber irgendwie muss der Roman ja einen Höhepunkt herkriegen. Zum Glück ist da noch Dulcies Geheimnis, der Freitod ihrer deutschen Dichterfreundin, die die Kriegszeiten nicht ertragen konnte. Roberts Forscherdrang, in der Hinterlassenschaften der toten Dichterin herumzublättern, bringt ihn auf die Spur eines Manuskriptes mit Gedichten, das verborgen unter den Holzdielen liegt. Es entpuppt sich als Goldgrube, ein Verleger findet sich, ein viel gefragtes Buch geht gut weg an die Leserschaft. (Das waren noch Zeiten, in denen Lyrik so gut wegging, wie Klopapier in der Coronakrise ...) Robert wird am Honorar beteiligt und als literarischer Entdecker im Buch gefeiert.


    Bewertung


    Robert und Dulcie - eine solche Beziehung zu beschreiben ist weder neu noch überraschend. Ein gut beackertes literarisches Feld, sozusagen. Der Autor strengt sich an, seine Geschichte mit einfühlsamen Naturimpressionen und interessanten Metaphern auf einem hohen Level zu halten. Bei den sprachlichen Bildern vergreift er sich gelegentlich, denke ich (Hundeohren sind „wie eine Flanellhose, die auf der Heizung gelegen hat"). Und er setzt sie manchmal ein wie ein "Flächenbombardement", da ducke ich mich richtig weg, wenn die Metaphern fliegen. Weil ich nicht darauf gefasst war, soviel Natureindrücke lesen zu müssen, nervten sie mich zunehmend, denn sie stehen i.d.R. für sich allein, treiben die Handlung nicht voran. Die jedoch wollte ich und überblätterte auch schon mal ein Stück "Natur".- Der 16jährige Robert bliebt nicht sicher genug der 16jährige Robert, die Ebenen kippen bisweilen. Und auch hier kippt's: Ob Mum und Dad 1946 in Ostengland ihren halberwachsenen Sohn gerne auf eine noch unbestimmte Wanderung verabschieden, möchte ich anzweifeln. Im Haus seiner Gönnerin offenbart sich seine poetische Veranlagung, die schon recht weit gereift erscheint. Die männliche Hauptperson hat für mich etwas von einem Überflieger. Es nimmt mich auch nicht wunder, wenn gegen Schluss des Romans dem poetischen Robert eine fette Gans zufällt. Am Anfang winken Mami und Papi, als Sohnemann auf Wanderschaft zieht - und am Schluss bringt er was Anständiges nach Hause, das man "verputzen" kann, nicht etwa bloß Poesie. Soll man jetzt nicht an ein Märchen denken?


    Ja, eine schöne Atmosphäre verbreitet das Buch. Naturliebhaber finden ihre dichterische Nahrung. Auch eine gemütliche Geschichte, die den möglicherweise irritierenden Hintergrund der beiden Figuren gar nicht erst hervorholt. Ich aber suchte eine Geschichte, die mir erklärt, warum Robert und Dulcie das erlebt haben, was der Roman erzählt. Ich glaubte, die "offene See" könnte damit zu tun haben. Zwei Irrtümer meinerseits. Es ist kein schlechtes Buch, ich vergebe drei Punkte. Aber ein Lektor, der hätte viel Gutes tun können.

  • Allerdings darf nicht verschwiegen werden, dass der Autor gelegentlich über das Ziel hinausschießt. Allzu gewollt poetisch gestaltet er seine Diktion, etwas stereotyp verbalisiert er wieder und wieder seinen Abscheu gegenüber dem gerade erst beendeten Weltkrieg

    Das ist mir schon auf den ersten Seiten unangenehm aufgefallen, gewollt wortgewaltig, was sich auch in überbordenen Metaphern niederschlägt.


    "Mein Leben wartete da draußen, bereit, gierig getrunken zu werden. Vertilgt und verschlungen zu werden. Meine Sinne erwacht und unersättlich, und ich schuldete es mir selbst und all den anderen meiner Generation, die nach ihren Müttern schreiend gestorben oder in den Lachen ihres eigenen Blutes ertrunken waren, mich mit dem Leben vollzustopfen". (Nur als ein Beispiel)


    Ich finde den Stil mega-gruselig und bin mir nicht sicher, ob ich das lesen kann, auch wenn es nur 200 S. sind. Und zu der von euch teilweise als nervig empfundenen Dulcie bin ich noch garnicht gekommen :-?.

  • Ich finde den Stil mega-gruselig und bin mir nicht sicher, ob ich das lesen kann, auch wenn es nur 200 S. sind.

    Ich hab das Buch auch vor kurzem gelesen und zwar mit Genuss und Freude - die Geschichte hat mich entführt und mitgenommen. Jetzt hab ich eine ganze Weile überlegt, warum mich in diesem Fall dieser Stil überhaupt nicht gestört hat, obwohl er sonst oft überhaupt nicht meinen Geschmack trifft. Vielleicht liegt es daran, dass ich mir zum Beispiel diese Gefühle aus der von Dir zitierten Textstelle bei einem jungen Mann am Ende des Krieges tatsächlich gut vorstellen kann: diese Gier nach Leben und nach dem Entkommen aus dem vorgeschriebenen Schicksal. Viele Jahre gab es nur Entbehrungen und vermutlich sogar die Angst, selbst noch in den Krieg zu ziehen und dann gibt es diesen einen Sommer als Flucht vor allem, was er bisher kennt, und als Suche nach mehr und Meer.

    Robert schien mir ein wenig zu reif und zu intelligent für jemanden, der gerade aus dem Ei geschlüpft war.

    Ja, so scheint er, aber vielleicht sind viele junge Menschen damals früher gereift als wir. Auch das ist für mich vorstellbar :-k Oder er ist schlicht ein Außenseiter, geboren außerhalb der ihn umgebenden Normen und Vorstellungen, was sich ja schon in seiner Kindheit zeigt. Es schien mir nicht unglaubhaft in dieser Geschichte. Die beiden Charaktere - er und Dulcie - stehen sicher beide am Rand der Gesellschaft, sind in gewisser Art Außenseiter und doch beide damit nicht unglücklich.

    Ich fand die Geschichte um und zwischen Dulcie und Robert einfach schön und bezaubernd, geschickt eingesponnen in ein Land, das gerade erst aus dem Schock des Krieges erwacht. Vermutlich lag es auch zu einem Teil daran, dass ich Ende letzten Jahres genau so eine Geschichte brauchte, die in allem Chaos und aller Not die Hoffnung zeigt, dass es manchmal ganz unvermutete Wege im Leben gibt, die das Leben in vorher unvorstellbare Richtungen dreht. Für mich hat sie funktioniert. :)

    Auch Anachronismen unterlaufen dem Autor gelegentlich: das moderne Wort ‚Genpool‘ KANN nicht im Wortschatz eines Bergarbeitersohns im Jahr 1946 enthalten sein.

    Da allerdings gebe ich Dir recht, das hätte dem Lektor unbedingt auffallen müssen.

  • Ich hab das Buch auch vor kurzem gelesen und zwar mit Genuss und Freude - die Geschichte hat mich entführt und mitgenommen. Jetzt hab ich eine ganze Weile überlegt, warum mich in diesem Fall dieser Stil überhaupt nicht gestört hat, obwohl er sonst oft überhaupt nicht meinen Geschmack trifft. Vielleicht liegt es daran, dass ich mir zum Beispiel diese Gefühle aus der von Dir zitierten Textstelle bei einem jungen Mann am Ende des Krieges tatsächlich gut vorstellen kann: diese Gier nach Leben und nach dem Entkommen aus dem vorgeschriebenen Schicksal. Viele Jahre gab es nur Entbehrungen und vermutlich sogar die Angst, selbst noch in den Krieg zu ziehen und dann gibt es diesen einen Sommer als Flucht vor allem, was er bisher kennt, und als Suche nach mehr und Meer.

    Robert schien mir ein wenig zu reif und zu intelligent für jemanden, der gerade aus dem Ei geschlüpft war.

    Ja, so scheint er, aber vielleicht sind viele junge Menschen damals früher gereift als wir. Auch das ist für mich vorstellbar :-k Oder er ist schlicht ein Außenseiter, geboren außerhalb der ihn umgebenden Normen und Vorstellungen, was sich ja schon in seiner Kindheit zeigt. Es schien mir nicht unglaubhaft in dieser Geschichte. Die beiden Charaktere - er und Dulcie - stehen sicher beide am Rand der Gesellschaft, sind in gewisser Art Außenseiter und doch beide damit nicht unglücklich.

    Ich fand die Geschichte um und zwischen Dulcie und Robert einfach schön und bezaubernd, geschickt eingesponnen in ein Land, das gerade erst aus dem Schock des Krieges erwacht. Vermutlich lag es auch zu einem Teil daran, dass ich Ende letzten Jahres genau so eine Geschichte brauchte, die in allem Chaos und aller Not die Hoffnung zeigt, dass es manchmal ganz unvermutete Wege im Leben gibt, die das Leben in vorher unvorstellbare Richtungen dreht. Für mich hat sie funktioniert. :)

    ...

    Für mich hat die Geschichte auch perfekt funktioniert, weil sie eine ungewöhnliche Zeit symbolisiert. Solche Zeiten bringen erstaunliche Menschen und Geschichten hervor, über die die Enkelgeneration später den Kopf schütteln und ungläubig fragen wird: Ist das wirklich so passiert? Manchmal tauchen Geschichten, die mein Vater aus dem Krieg erzählte, in Romanen auf. Sie sind meist zu schön, um ausgedacht zu sein; denn mein Vater hat sie erlebt ...

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    :musik: -- Catton - Gestirne; Rehear


    "The three most important documents a free society gives are a birth certificate, a passport, and a library card!" E. L. Doctorow

  • Manchmal tauchen Geschichten, die mein Vater aus dem Krieg erzählte, in Romanen auf. Sie sind meist zu schön, um ausgedacht zu sein; denn mein Vater hat sie erlebt ...

    das ist mir zwar noch nicht passiert, aber ich weiß genau, was Du meinst.

  • Ich gebe mir alle Mühe, den Fokus von der für meinen Geschmack nach wie vor für einen 16-Jährigen unpassenden Sprache zu nehmen, so ganz gelingt es mir nicht :geek:, aber ich werde auf jeden Fall noch weiterlesen.

    Irgendwas muss ja dran sein, wenn so viele BTler, auf deren Meinung ich etwas gebe, davon dermaßen angetan sind :ergeben:O:-).

    Inzwischen ist er bei Dulcie angekommen, deren eher geradlinige, burschikose Art sich wohltuend anfühlt.

  • Inzwischen ist er bei Dulcie angekommen, deren eher geradlinige, burschikose Art sich wohltuend anfühlt.

    Vielleicht kommst Du ja jetzt besser in die Geschichte rein. Bin gespannt, was Du am Ende sagst. Und Du weißt doch: wir haben nix gegen Geisterfahrer :wink:

  • Geschafft :).


    Bereits den Einstieg, so voller Pathos und melodramatischer Wortwahl, fand ich wenig einnehmend. Geschrieben aus Sicht des gealterten Robert, der auf diese entscheidende Zeit seiner Jugendjahre zurückblickt, wie mir dann mit etwas Verspätung klar wurde. Wie die Empfindungen, Gedankengänge und Beschreibungen sprachlich gestaltet waren, wollte für mich so gar nicht zu einem 16-Jährigen passen, auch nicht unmittelbar nach dem Krieg, und das hat mich sehr gestört. Doch wenn er die Geschichte erst in fortgeschrittenem Alter erzählt hat, macht es zwar den Stil für mich nicht angenehmer, aber doch sehr viel glaubwürdiger. Zu einem jugendlichen Ich-Erzähler passt die Sprache nicht, wohl aber zu einer altersgeprägten Rückschau auf die damaligen, für sein weiteres Leben so wichtigen Ereignisse. Das erklärt für mich auch die Diskrepanz zwischen Roberts Sprache in den Dialogen und seinen Gedanken, die ich inzwischen den Erinnerungen des „alten“ Robert zuordne. Am Ende hat sich das noch einmal bestätigt und ich weiß auch nicht so recht, warum ich fast 100 Seiten lang den Eindruck hatte, die Empfindungen und Gedanken des 16-jährigen Robert zu lesen. Vermutlich, weil ich auf den ersten Seiten öfter pausiert habe – vielleicht um durchzuatmen nach den mich schier erschlagenden Metaphern :geek:.


    Krieg ist furchtbar, immer und in jeder Hinsicht, und ich verstehe, was der Autor mir nahe bringen möchte, wenn er schreibt „Er lebte in ihren Augen weiter oder hing ihnen schwer um die Schultern wie ein blutgetränkter Umhang. Und er blühte in ihren Herzen, eine schwarze Blume, die dort Wurzeln geschlagen hatte und nie mehr ausgerissen werden konnte. Die Samen waren so toxisch, so tief gesät, dass die Erinnerungen nichts anderes sein konnten als für alle Zeiten giftig“ – , doch eine solche Wortwahl ist für mich einfach schwer erträglich.


    Während ich einem Satz wie diesen: „Denn niemand gewinnt einen Krieg wirklich; manche verlieren bloß ein bisschen weniger als andere“, in seiner knappen Schlichtheit deutlich mehr abgewinnen kann.


    Ein weiteres Beispiel: „Kunst war der Versuch, den Moment in Bernstein zu gießen“ – was will mir der Autor damit sagen? Soweit ich mich erinnere, geht es da keineswegs um Bernstein, das wirft er mir einfach so hin. Wahrscheinlich bin ich ein Banause, der solchen sprachlichen Perlen einfach nichts abgewinnen kann. Kunstvolle Formulierungen, zweifellos, aber für mich eben genau das, ein Kunstprodukt, in dem ich keinen tieferen Sinn erkennen kann und das sich für mich nicht echt anfühlt.


    Mit dem zweiten Teil kam ich dann etwas besser zurecht, aber insgesamt bleibt es dabei, dass der Autor bei mir keine Saite zum Klingen gebracht hat. Ein bisschen schade, denn im Kern ist es auch für mich eine gute Geschichte, wie die Weichen im Leben des jungen Robert durch die Begegnung mit Dulcie so ganz anders gestellt werden. Doch die sprachlich-erzählerische Ausgestaltung war nicht nach meinem Geschmack, zu kunstvoll, zu viele Metaphern, zu viel Pathos und sogar trotz der wenigen Seiten ein paar kleine Längen.


    2,5 Sterne, aufgerundet auf 3, wegen der schönen Grundidee:ergeben:.

  • Ich bin ja nach wie vor sehr gespannt auf das Buch und könnte mir vorstellen, dass die metaphernreiche Sprache im Original viel besser funktioniert als in der Übersetzung ... wenn's irgendwann so weit ist, werde ich berichten.