The Grace Year (Ihr Widerstand ist die Liebe) - Kim Liggett
Dressler
416 Seiten
Dystopie
Einzelband
24. Februar 2020
Inhalt:
„Niemand spricht über das Gnadenjahr. Es ist verboten.“
In Garner County heißt es, dass junge Frauen die Macht besitzen, Ehemänner aus ihren Betten zu locken und Jungen in den Wahnsinn zu treiben.
Um diese Kräfte zu verlieren, werden sie für ein Jahr in die Wildnis verbannt.
Wer zurückkommt, wird verheiratet oder ins Arbeitshaus geschickt.
Aber es kommen nie alle lebend zurück.
Nur in ihren Träumen ist Tierney James frei, umgeben von Rebellinnen.
Doch als ihr Gnadenjahr beginnt, spürt sie erst, wie tief verwurzelt der Hass ist. Denn nicht die Natur oder die tödlichen Wilderer, die ihnen auflauern, sind die größte Gefahr. Es sind die Mädchen selbst.
Meinung:
Der Ton macht die Musik.
Und der von „The Grace Year“ ist nüchtern.
Emotionslos. Ein wenig berechnend.
So, als wäre jeder Funken Hoffnung gestorben. Er ist wie Eis, das erst langsam von einer aufgehenden Sonne angetaut wird. So verhielt es sich auch mit meinen Gefühlen in Bezug auf diese Geschichte. Ja, sie ist schockierend.
Ja, sie erinnert ein wenig an den Widerstand von Panem. Es ist eine Rebellion.
Aber wie bei jeder Rebellion muss erst ein Samen anfangen zu keimen, bis er den Boden durchbrechen kann. Dementsprechend bin ich auch nur langsam mit der Story warm geworden. Aber dann... dann ist sie über mich hereingebrochen wie die Flutwelle, die sie auszulösen versucht.
Tierney James ist ein Gnadenjahrmädchen.
Auf einer Insel inmitten eines großen Sees verbringen junge Frauen ein Jahr in Angst, Schrecken und Gefangenschaft.
Ohne Hilfe. Ohne Mitgefühl.
Nur um ihren Willen, ihre männerbezirzende Magie zu brechen.
Es ist ein Kampf ums Überleben. Tag für Tag, Monat für Monat.
Gegen das Wetter. Gegen die Wilderer. Gegen die Mädchen und gegen sich selbst.
Und obwohl das Ganze, rückblickend betrachtet, enorm viel Kraft und Stärke besitzt, obwohl so viel Leidenschaft zwischen den Seiten steckt, war ich nicht gleich am Anfang mit dem Herzen dabei.
Tierney ist eine ungewöhnliche junge Frau in einem absolut verachtenswerten System.
Die Frauen von Garner County sind im Grunde Ware, die auf einem Marktplatz feilgeboten wird.
Sobald sie ins heiratsfähige Alter kommen, werden sie auf diverse Weise markiert und gedemütigt.
Was an sich schon schlimm genug ist. Freiheit. Liebe. Mitgefühl. Zusammenhalt... Gnade... all diese Emotionen kennen Mädchen und Frauen nur von ihrer Familie.
Das System selbst vergisst und vergibt nichts.
Und die Autorin hat das ab circa der Hälfte des Buches gnadenlos in mein Herz geprügelt.
Doch bis dahin konnte mich die Gefühlswelt von Tierney, trotz dessen, dass die Geschichte in der Ich-Perspektive verfasst ist, nicht ganz mitreißen, obwohl ich es mir gewünscht hätte.
Gerade zu Beginn wäre das so wichtig gewesen. Aber ich saß vor dem Buch und dachte mir nur: „Okay. Wo genau sind die Emotionen?“ Ich habe Wut vermisst. Hass auf die Welt in der Tierney aufgewachsen ist.
Bekommen habe ich mehr oder weniger Resignation. Akzeptanz. Angst vor dem Unbekannten.
Dem Gnadenjahr. Dabei ist der Schreibstil wirklich gut. Einfach zu lesen und dennoch plastisch.
Greifbar. Fesselnd. Aber irgendwie... ich weiß auch nicht.
Es fiel mir schwer Tierney als etwas Anderes zu sehen, als das Mädchen, das aufgegeben hat, wo ich mir doch schon anderes erwartet hatte.
Doch als das Gnadenjahr begann... änderte sich alles.
Das war wie der Startschuss für eine geballte Ladung Verzweiflung, Hoffnung, Hass, Erkenntnis, Überlebensinstinkt. Manchmal wusste ich nicht genau:
Ist das jetzt Traum oder Wirklichkeit, aber genau diese Mischung hat mich gepackt und mitgerissen, wenn auch die Emotionen definitiv ausbaufähig waren. Beim Gnadenjahr gibt es keine Regeln.
Nur Flucht und Jagd, Glaube und Gewalt, Bedeutungslosigkeit und Machtmissbrauch.
Die Atmosphäre schwankt zwischen dunkel, düster, fassungslos, verwirrt und hoffnungsfroh, naturverbunden - mit starken weiblichen Charakteren - hin und her. Die Spannung und Neugier sind ab der zweiten Hälfte kaum auszuhalten.
Hinter jeder Seite, so kam es mir vor, lauerte entweder ein Geheimnis oder die Autorin hielt eine atemberaubende Wendung bereit.
Allerdings...
Die Liebesgeschichte, die essentiell für den Verlauf der Handlung ist, kam zwar glaubwürdig rüber, war aber zeitgleich auch nur so daher erzählt. Da wurde nichts vertieft, nichts intensiviert, die Verbindung zwischen mir als Leser und den Protagonisten war einfach zu schwach für Highlight-Jubelrufe.
Und auch die Zeitsprünge, die innerhalb der Story gemacht werden, haben mir ein wenig zu schaffen gemacht.
Ich mag klare Strukturen, was das angeht.
Die Autorin hat es zwar ermöglicht, dass es den Lesefluss nicht stört, aber dadurch verschwimmt die Handlung ein wenig zu einem farbigen Daumenkinostreifen, der zu schnell überblättert wird.
Nichtsdestotrotz hat es „The Grace Year“ in sich.
Fazit:
Obwohl mich „The Grace Year“ nicht von Anfang an mitreißen konnte, ist es doch ein Buch, das nachhallen wird.
Es ist ausdrucksstark und herzergreifend, selbst wenn die Emotionen einen nicht direkt anspringen.
Allein das Thema und die starke Umsetzung, die vor allem in der zweiten Buchhälfte viele Überraschungen bereithält, lässt die Geschichte hervorstechen.
Die dystopisch angehauchte Handlung überzeugt mit physischen Gefahren, Wendungen, bei denen man nach Luft schnappt und der metaphorischen Brechstange, die bei Moral und Gewissen ansetzt.
Tierney James Gnadenjahr verändert alles. Erlebt es selbst.
Bewertung:
⭐️⭐️⭐️⭐️💫 (4,5/5)