Verena Güntner - Power

  • Klappentext/Verlagstext

    Die selbstbewusste Kerze ist gerade noch ein Kind. Sie lebt in einem kleinen, von Wald und Feldern umgebenen Dorf, das kaum mehr zweihundert Bewohner hat. Die Alten, zu denen die Nachbarin Hitschke gehört, sind in der Überzahl. Kerze verteidigt ihr Dorf gegen den Schwund, sie ist hier fest verwurzelt. Eines Tages geht Power, der Hund der Hitschke, verloren, und Kerze verspricht, ihn zu finden. Eine mitreißende, schonungslose Suche beginnt, der sich immer mehr Kinder anschließen. Als die Kinder schließlich im Wald verschwinden, erklärt die Dorfgemeinschaft den Ausnahmezustand.

    Mit außergewöhnlicher Sprachmacht, Scharfsinn und mit enormem Einfühlungsvermögen erzählt Verena Güntner die Geschichte einer Radikalisierung und davon, was mit einer Gemeinschaft geschieht, die den Kontakt zu ihren Kindern verliert. ›Power‹ führt hinein in den Schmerz derer, die zurückbleiben, und zeigt mit großer Kraft, was es braucht, um durchzuhalten, weiterzumachen und Sinn zu finden in einer haltlos gewordenen Welt.


    Die Autorin

    Verena Güntner, 1978 in Ulm geboren, spielte nach ihrem Schauspielstudium viele Jahre am Theater. Ihr Romandebüt »Es bringen« (2014) wurde für die Bühne adaptiert und mit dem deutschen Hörbuchpreis ausgezeichnet. Verena Güntner erhielt zahlreiche Preise und Stipendien, u. a. den Kelag-Preis beim Bachmann-Wettbewerb und das Berliner Senatsstipendium. Sie lebt in Berlin.


    Inhalt

    Kerze hatte einen eigenen Kopf und hielt immer ihr Wort. Sie heisst so, weil sie in einer düsteren Umgebung für andere Menschen ein Licht sein kann. Erwachsene wussten, woran sie mit ihr waren. Als Hilde Nitschke, die Nachbarin, ihren Hund Power vermisst, beauftragt sie Kerze mit der Suche. Hitschke und Kerze wissen, wie sie sich gegenseitig einzuschätzen haben – und Kerzes Mutter weiß, dass ihre Tochter „Aufträge annimmt“. Normalerweise ging Kerze anderen Menschen keinen Schritt entgegen. Bei „Hitschke“ ist das allerdings anders; denn die Nachbarin ist gehbehindert. Kerze wird Power im Wald suchen, ihrem Revier, in dem sie früher ihre Angst erst überwinden musste. Für Hitschke scheint Powers Verschwinden eine tiefere Bedeutung zu haben; denn sie muss sich damit auseinandersetzen, warum sie allein lebt – und was andere über sie denken könnten.


    Kerze führt ihre Aufträge normalerweise allein aus, doch weil mehrere Kinder helfen wollen, bilden die Kinder ein Rudel für die Suche nach Power. Nicht unumstritten, gerät Kerze in eine Rolle als Rattenfängerin, in der sie Kinder in den Wald führt und ihren Familien entfremdet. „Dann ging Kerze zum Gartentor hinaus und die Kinder folgten ihr, …“ (Seite 112) Kerze wird selbst zum Hund, um sich in den vermissten Power einzufühlen. Die Kinder laufen mit Kerzes Anleitung auf allen Vieren, bellen, werden ebenfalls zu Hunden. Hitschke dagegen nimmt die Rolle der Versorgerin ein und füttert das Rudel. Als die Kinder einfach nicht zurückkehren, wird sie von den Dorfbewohnern für deren Verschwinden verantwortlich gemacht; denn ihr Power war schließlich der Auslöser.


    Verena Güntners Hauptfigur sticht zunächst damit hervor, dass sie mit ihrem neutralen Namen wie eine frisch vorbereitete Leinwand wirkt, die erst auf das Bemaltwerden wartet. So verweigert sie sich jeder Etikettierung. Weil sie in kein vorhandenes Bild passt, müssen Leser sie genau beobachten. Ein einzelner Satz kann hier eine ganze Geschichte erzählen. Allmählich entwickeln sich weitere Figuren, der Huberbauer, Markus, der Hubersohn, die über 100-jährige Lungeroma und Henne, der Nazi. Was wie eine Rattenfänger-Sage begann, geht über in Entfremdung zwischen den Dorfbewohnern, zwischen Eltern und Kindern.


    Fazit

    Kerzes Wald ist nicht so märchenhaft, wie das Titelbild vermuten lassen könnte. Im Dorf lauern Ereignisse, die bereits vor Kerzes Geburt stattfanden, es geht um Autorität und ihre Erhaltung, Grausamkeit in Familien und vieles mehr. Herausragend finde ich am im Präsens verfassten „Power“, wie ich als Leser das unbeschriebene Blatt "Kerze" mit eigenen Beobachtungen erst füllen muss. Ungewöhnlich.


    Für den Preis der Leipziger Buchmesse 2020 nominiert.


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