Original : Französisch, 2019
INHALT :
An jenem 25.August 2015 besteht das eigentliche Ereignis nicht einfach im Überfall eines Bären auf eine französische Anthropologin irgendwo in den Bergen Kamschatkas, sondern : ein Bär und eine Frau begegnen einander da, wo Grenzen aufgesprengt werden. Für Sekunden sind sie ineinander verkeilt, lassen Spuren, sind geprägt, nehmen voneinander Fetzen mit. Mehr noch : ein Mythos wird Wirklichkeit, ein Traum wird greifbar.
AUTORIN und BEMERKUNGEN :
Nastassja Martin wurde 1986 in Grenoble/Frankreich geboren. Sie ist Anthropologin, diplomiert an der Schule für Soziale Studien, Spezialistin für die Bewohnerin der Arktis. In « Les âmes sauvages » erzählte die Autorin 2016 schon von einem zweijährigen Aufenthalt bei Ureinwohnern im extremen Nordosten Alaskas als sie circa 23 Jahre alt war. Es folgten weitere Jahre im Studium der Gwich’in, und dann ein langer Aufenthalt im extremen Osten Rußlands, in entlegenen Gebieten Kamschatkas. Als Ethnologin studiert sie die Gewohnheiten und Weltanschauungen dieser Ureinwohner. Bis es im August 2015 zu dieser Begegnung der besonderen Art kommt. Schon hatten sich durch die Erzählungen der Stammesfreunde und durch Traditionen und Bräuche Vorstellungen ihren Weg in das Denken, Fühlen der jungen Französin gebahnt : sie träumte im Voraus von seltsamen Begegnungen mit Tieren, vom Verwischen der Grenzen.
Und so verwirrend und seltsam es sich für uns anhören mag, wird der fast fatale Kampf zwischen Bär und Mensch nicht einfach als Angriff empfunden mit Aggressor und Opfer, sondern als Begegnung von Angesicht zu Angesicht, wo sich die Gesichter/Köpfe berühren. Auf den ersten Seiten ist diese « Begegnung » schon hinter ihnen, und Nastassja erwartet Erste Hilfe. Es folgt in einem ersten Teil (nicht besonders abgetrennt, aber eventuell in den Kapiteln Herbst und Winter gebündelt) die Beschreibung des Genesungsprozesses. Doch, seltsam, manchmal wird hier die Maschinerie der Krankenhäuser, ob in Rußland oder Frankreich, auch als Bestie erfahren… Und sobald sich eine Möglichkeit auftut ist sie wieder weg, unsere Nastassja, und sie kehrt in ihre « geistige Heimat » zurück.
Doch mehr als diese äußere Schilderung geht es um nahezu Unvermittelbares : die Erfahrung der Non-Dualität, des Gekennzeichnet-Seins durch den Bären, die Vermischung, Interpenetration der Welten. Ganz im Sinne der Weltauffassung dieser autochtonen Völker, die teils nun – nach der zwangshaften Seßbarmachung in Sowjetrußland – wieder zurückkehren in die Natur. Das weckt bei Martin zahlreiche Reflexionen, so über die Einzigartigkeit oder auch Vielgestaltigkeit von so genannter Identität. Was ist dabei Illusion, was erahnte, geträumte Wahrheit ? So öffnen sich für diese Anthropologin neue Brücken und Pforten zwischen den Welten.
Ein durchaus für viele von uns verwirrendes Buch, das aber sehr sympathisch, ohne Larmoyanz und Selbstmitleid, aber vielen Denkanstößen teils wunderbar geschrieben wurde.
Man könnte aus dem Buch viel zitieren...:
"Heute Morgen sagte ich mir, dass ich vor allem aufhören versuchen sollte zu denken - verstehen, genesen, sehen, wissen, sofort vorhersehen. Im Herzen der vereisten Wälder, "findet" man nicht die Antworten: man lernt zunächst, sein Räsonnieren zu lassen und sich hineinnehmen zu lassen in den Rhythmus des Lebens, das sich organisiert um in einem Winterwald lebendig zu bleiben. Ich versuche, in mir eine ebensolch tiefe Stille zu finden wie jene der großen Bäume draußen, die sich unbeweglich und aufrecht halten in der Kälte."
Taschenbuch
Verlag: Verticales (10. Oktober 2019)
Sprache: Französisch
ISBN-10: 2072849780
ISBN-13: 978-2072849787