Verlagstext
Leben, denke
ich manchmal, heißt Staunen.
Als die Schriftstellerin Lucy Barton längere Zeit im Krankenhaus verbringen
muss, erhält sie Besuch von ihrer Mutter, die sie jahrelang nicht mehr gesehen
hat. Zunächst ist sie überglücklich. Doch mit den Gesprächen werden
Erinnerungen an ihre Kindheit und Jugend wach, die sie längst hinter sich
gelassen zu haben glaubte …
Der neue Roman von Elizabeth Strout ist ein psychologisches Meisterstück,
zutiefst menschlich und berührend. Er erzählt die Geschichte einer Frau, die
trotz aller Widrigkeiten ihren Weg geht, eine Geschichte über Mütter und
Töchter und eine Geschichte über die Liebe, die, so groß sie auch sein mag,
immer nur unvollkommen sein kann.
Lucy Barton erzählt ihre Geschichte. Sie muss sie erzählen, weil sie auf der
Suche nach der Wahrheit ist, als Schriftstellerin wie als Mensch. Und es gibt
zu vieles, was ihr Leben geprägt hat und ihr immer noch keine Ruhe lässt. Das
wird ihr klar, als sie wegen einer unerklärlichen, lebensbedrohenden Infektion
nach einem Routineeingriff längere Zeit im Krankenhaus bleiben muss und
plötzlich ihre Mutter an ihrem Bett sitzt. Ihre Mutter, die sie nicht mehr
gesehen hat, seit sie ihr Zuhause in einem kleinen Kaff in Illinois verlassen
hat. Während sie erschöpft und glücklich der Stimme ihrer Mutter lauscht, die
ihr Geschichten von den Leuten aus ihrer Heimat erzählt und was aus ihnen
geworden ist, während Mutter und Tochter ein neues Band zu formen scheinen,
auch wenn sie nur schweigend aus dem Fenster auf das beleuchtete Chrysler
Building gegenüber schauen, kommt alles wieder hoch: die bettelarme Kindheit,
die Schwierigkeiten in der Familie, der Mangel an Zärtlichkeit und Zuneigung.
Wie der Wunsch, Schriftstellerin zu werden, ihr half, ihre Ängste zu bekämpfen,
wie fremd sie sich dennoch manchmal in New York vorkommt. Ihre Ehe mit einem
Mann aus einem wohlbehüteten Elternhaus und die vielen Abgründe, die sich
zwischen ihnen auftun, trotz des gemeinsamen Lebens und der zwei heißgeliebten
Töchter …
Die Autorin
Elizabeth
Strout wurde 1956 in Portland, Maine, geboren. Für ihren Roman »Mit Blick aufs
Meer« bekam sie 2009 den Pulitzerpreis. »Die Unvollkommenheit der Liebe« wurde
für den Man Booker Prize 2016 nominiert. »Alles ist möglich« wurde 2018 mit dem
Story Prize ausgezeichnet, erhielt ein überwältigendes Presseecho in den USA
und stand in allen großen Medien auf den Empfehlungslisten. Die
Übersetzungsrechte ihres neuen Romans wurden in bisher 17 Länder verkauft. Elizabeth
Strout lebt in Maine und in New York City.
Inhalt
Die zunächst
namenlose Icherzählerin muss wegen unerwarteter
Komplikationen nach einer Operation länger im Krankenhaus bleiben. Sie leidet
unter der Trennung von ihren kleinen Töchtern und spürt deutlich, dass ihr Mann
ungern in ein Krankenhaus zu Besuch kommt. In dieser Situation sitzt überraschend
ihre Mutter an ihrem Krankenbett, der sie vermutlich nicht zugetraut hat, aus
Illinois nach New York zu reisen und sich überhaupt in einem großen Krankenhaus
zurechtzufinden. Die Geschichte spielt in den 80ern des vorigen Jahrhunderts,
als es noch Standard war, aus Münzfernsprechern zu telefonieren und (in den USA) vor den berüchtigten R-Gesprächen
zu fragen, ob der Empfänger die Gebühren zahlen wird.
Lucy Bartons
Mutter scheint zu spüren, dass es ihrer Tochter schlechter geht, als der
Patientin selbst bewusst ist, und sie hält sie mit Geschichten aus ihrer
Vergangenheit und dem kleinen Dorf in Illinois im Leben. Während die Mutter
fünf Tage und Nächte nicht schläft, wird deutlich, dass sie als gewitzte, humorvolle Beobachterin sicherlich
das Erzähltalent ihrer Tochter geprägt haben wird. In Lucys Erinnerungen
entfaltet sich eine Kindheit in armen Verhältnissen, geprägt von Hunger, Kälte,
Gewalt und der Ablehnung ihrer Familie als Außenseiter. Durch die Förderung
ihrer Lehrerin und gute Schulleistungen kann Lucy studieren und schließlich
erste Schritte als Autorin machen. Wenn Kindern wie Lucy niemand zeigte, wie
man sich benimmt, welche Mentoren haben dann ihre Entwicklung als Autorin
begleitet, fragt man sich an diesem Punkt der Handlung als Leser. Das Verhalten
der Mutter scheint anfangs kaum zu Lucys Erinnerungen zu passen. Kurz habe ich
mich gefragt, ob Lucy sich eine fiktive Biografie geschaffen hat, aus der sie
sich erst heraus wursteln muss. Doch allmählich arbeiten sich zwischen Mutter
und Tochter Bereiche hervor, über die in der Familie noch immer nicht
gesprochen werden kann. Das - vermutlich unbehandelte - Kriegstrauma des Vaters,
ein Sohn, der dem Männerbild der Zeit und der Region nicht entsprach – und eine
Tochter, die sich durch Bildung ihrer Familie entfremdet. „Sie müssen rabiat
sein, Lucy“, hatte ein Nachbar zu ihr gesagt, als sie frisch nach New York
gezogen war. Auch er ein Förderer mit erstaunlichem Gespür dafür, dass die
junge Autorin noch mitten im Schlüpfprozess steckte.
Fazit
Elizabeth Strout hat eine kurze, zunächst schlicht wirkende Mutter-Tochter-Geschichte geschrieben, die mit psychologischem Geschick große Themen aufdeckt: von der gläsernen Decke, die den Aufstieg durch Bildung begrenzt, über die Rolle der Mentoren und Förderer für Kinder aus einfachen Verhältnissen, bis zu Themen, für die es in diesen Verhältnissen keine Wörter gibt.