Claudia Hagge - Unter uns Pastorentöchtern

  • Das Buch hinterlässt mich zwiegespalten.


    Anfangs wirkt alles noch idyllisch und herzerwärmend, aber es ist auch eben lange her, dieses Pastorat der Fünfziger- und Sechzigerjahre. Dass die Idylle trügt, kann sich jeder denkende Mensch selbst zusammenreimen. Aber wie sieht die Wirklichkeit aus? Ich bin selbst keine Pastorentochter, kenne aber genügend Pfarrhäuser von innen und konnte oft über Erlebnisse mit einem gewissen Wiedererkennungswert schmunzeln, aber auch die Augen verleiern über Erwartungen, die früher an die Familien von Pfarrern (Pfarrerinnen gab es zunächst nicht) gerichtet wurden. Auch die allgemeinen Erziehungsmethoden der Zeit (z.B. Babys stundenlang sich selbst überlassen oder wichtige Entscheidungen über die Köpfe von Kindern hinweg treffen) lassen mir ganz unwohlige Schauer über den Rücken laufen, während mich gleichzeitig die Selbstverständlichkeit einer Zugehfrau verblüfft.


    Die Eltern der Autorin lebten ein extrem offenes Pfarrhaus, wo ständig Leute ein- und ausgingen, es kaum wirklich private Bereiche gab, man praktisch nie ungestört war. Aus heutiger Sicht verständlich, dass das Kindern und Jugendlichen, die sich dieses Lebenskonzept nicht ausgesucht haben, auf die Nerven geht - sobald sie begreifen, dass dies eben nicht der Normalfall ist und andere Familien ganz anders leben. Schon frühzeitig entwickelt sich die kritische Distanz der Autorin zum Lebensweg ihrer Mutter, die ihre eigenen beruflichen Ambitionen komplett aufgegeben hat, um einen Beruf auf sich zu nehmen, der keiner ist: Pfarrfrau. So etwas will die Tochter niemals nachahmen! Deutlich bekommt man vor Augen geführt, wie sehr die Mutter als Anhängsel und oft auch Stellvertreterin ihres Mannes (z.B. bei Feierlichkeiten) weit unter ihren intellektuellen Möglichkeiten blieb, auch wenn das allgemein nicht untypisch für die Fünfziger und Sechziger war. Bei allem fremdbestimmten Trubel im Haus war sie einsam und lebte förmlich auf, wenn mal eine alte Studienfreundin zu Besuch kam - ein Leben, das die Mutter nur mit viel (Galgen-)Humor aus Liebe zu ihrem Mann ertrug.


    Dann das Pfarrerkind. Schon früh spürt es, dass es in seiner halböffentlichen Familien- und Wohnsituation einerseits stärker unter Beobachtung steht, andererseits aber auch von vielfältigeren Erlebnissen und freigeistigerem Denken geprägt ist als andere Menschen. Nicht immer weiß es letzteres zu schätzen, nicht immer fühlt es sich wahrgenommen und akzeptiert. Die Wärme und das Verständnis, mit denen die Eltern alle Außenstehenden umhüllen, reichen oft nicht für das eigene Kind, das "funktionieren" muss und nur selten nach seinen eigenen Wünschen gefragt wird.
    Und: Eigentlich lebt die Familie nur im fünfwöchigen Dänemark-Urlaub richtig auf, liest atemlos die BILD-Zeitung oder mixt sich schon vor dem Mittagessen einen Martini. Unbeobachtet man selbst sein, für fünf Wochen im Jahr. - Das hat mich beim Lesen sehr traurig gemacht.


    Einen eigenen, positiv geprägten Glauben scheint die Pfarrerstochter, eigentlich mittendrin im kirchlichen Leben (oder gerade deshalb?), nicht zu entwickeln - ihr Gottesbild zumindest als Jugendliche ist geprägt von dem Trotz und Widerstand, den eigentlich ihre Eltern verdient hätten, die ihre Kinder auch noch ungefragt aus der gewohnten Umgebung reißen und nach Kiel ziehen. Immer wieder zeigen sich unsägliche Erwartungen der Eltern an die Gemeinde-Präsenz der Kinder ("Wenn ihr da nicht mitmacht, können wir es auch von keinem anderen in der Gemeinde erwarten.", S.147), die ich so zwanzig und mehr Jahre später zum Glück in noch keinem Pfarrhaus erlebt habe.


    Insgesamt habe ich das Buch als eine selten liebevolle, dafür oft eher bittere Abrechnung der Autorin mit ihrem Elternhaus wahrgenommen, wobei jedoch offenbleibt, ob dieses Pastorat als prototypisch betrachtet werden kann - der Titel legt das für mich nahe, ich kann so einer verallgemeinernden Sichtweise aus meinen eigenen Erfahrungen heraus jedoch nicht zustimmen. Überhaupt fehlt mir mal ein Blick zur Seite in andere Pfarrhäuser; zumindest in Kiel muss der Vater ja Kollegen gehabt haben und da hätte auffallen müssen, dass man Amt und (offenes) Pfarrhaus auch unterschiedlich leben kann. Selbst ich, nicht in einem Pfarrhaus aufgewachsen, auch wenn eins in meiner Jugend praktisch mein zweites Zuhause war, kannte bereits als in kirchlichen Kreisen aktive Jugendliche mehrere Pfarrhäuser verschiedenster Prägung von innen und durfte beobachten, dass viele Pfarreltern weniger extrem gelebt und weniger Druck ausgeübt haben, mehr mit ihren Kindern gesprochen und auf deren Bedürfnisse geachtet haben. Sie konnten so also vielleicht ihre eigenen Werte respektvoller und authentischer an die Kinder weitergeben, was hier im Buch keine große Rolle zu spielen scheint. Ich will damit nicht die Erfahrungen der Autorin in Frage stellen, hätte mich aber gefreut, wenn bei so einem Buch die Wahrnehmung auch mal über das heimische Pastorat hinausgegangen wäre. Man bekommt nicht nur den Eindruck vermittelt, dass das Aufwachsen im Pfarrhaus ihr wenig Gutes auf den Lebensweg mitgegeben hat, sondern dass sie sich ihren Weg sogar gegen den Widerstand "des Pfarrhauses" erkämpfen musste. Erst sehr spät im Buch werden mal Amtskollegen erwähnt, bei denen es anders läuft und wo der persönlichen Wahrnehmung auch andere Möglichkeiten, "Pfarrhaus" zu leben, gegenübergestellt werden. (In diesen Zusammenhang fallen dann auch interessante Reflexionen zur Pfarrerstochter und späteren Terroristin Gudrun Ensslin sowie weiteren berühmten Frauen, die einem Pfarrhaus entstammen.)

    Ebenfalls erst spät im Buch relativiert die Autorin ihre oft recht negative Sichtweise ein wenig und es ist plötzlich von großen Freiheiten die Rede, von Eigenständigkeit und doch auch Verständnis, Interesse und Geborgenheit bei den Eltern. Das wirkt dann teilweise widersprüchlich zu dem vorher Geschilderten, bzw. die Widersprüche wurden für mich nicht hinreichend aufgelöst. Als die Autorin gegen Ende plötzlich ein Fazit voller Wärme zieht, konnte ich mir beim Lesen nur die Augen reiben und mich fragen, wo das nach all den kritischen Reflexionen jetzt plötzlich herkommt. In dieser Hinsicht ziehen sich etliche Brüche durch das Buch, viele Fragen (z.B. nach der kriselnden Beziehung der Eltern, nach der Sicherheit im Pastorat nach den wiederholten Einbrüchen und Angriffen) werden hochdramatisch aufgeworfen, dann aber nicht beantwortet oder weiterverfolgt.


    Wie bewertet man nun (auto-)biografische Texte?


    Ich kann und will die persönlichen Erlebnisse und Wahrnehmungen der Autorin nicht in Frage stellen und bin ihr auch dankbar, dass sie diese mit interessierten LeserInnen teilt. Wenn mir die Darstellungen streckenweise einseitig erscheinen, ist das eben der subjektiven Sichtweise geschuldet. Dennoch frage ich mich, ob nicht auch stärker mal der Blick in andere Pfarrhäuser gelenkt werden konnte, um der eigenen Wahrnehmung auch andere Spielarten des Mikrokosmos "Pastorat" gegenüberzustellen. Das kam mir in diesem Buch viel zu kurz, zumal der Titel nahelegt, dass eben nicht nur die Perspektive EINER Pastorentochter zum Zuge kommt, sondern ein gewisses "Wir" abgebildet wird, also auch öfter mal (und vor allem ausführlicher) der Blick über den eigenen Tellerrand hinaus gerichtet wird. Da hätten mich die ganz normalen anderen Pastorentöchter im Umfeld der Autorin, die es doch auch gegeben haben muss (und damit meine ich nicht nur ihre Schwestern), mindestens genauso interessiert wie die berühmten, die im Buch zumindest kurz Erwähnung finden.


    Sprachliche Schwächen, die mich bei einer erfahrenen Journalistin verwundern, hätten spätestens vom Korrektorat ausgemerzt werden müssen: Sätze mit fehlerhafter Kongruenz, unmotivierte Springerei zwischen den Zeitformen oder Tippfehler (unter denen die "Walddorfschule" mir am stärksten in Erinnerung geblieben ist).


    Fazit: Ich habe das Buch gern und mit Interesse gelesen, es aber am Ende eher unzufrieden zugeklappt.


    :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5:

    :study: Jutta Aurahs - Katzen :cat:

    :study: Han Kang - Griechischstunden

    :musik: Asako Yuzuki - Butter (Re-???)

    :musik: Satoshi Yagisawa - Die Tage in der Buchhandlung Morisaki

    :montag: Deb Olin Unferth - Happy Green Family (Reread)





  • Die Autorin ist in den 50ern geboren. Die Auflehnung gegen väterliche Allmacht in allen Lebenslagen "du musst daran glauben, weil ich dein Vater bin" konnte vermutlich erst parallel zu den 68ern angekratzt werden. Wie viel eine 10-Jährige in den 60ern von den Ereignissen "draußen" mitbekam, kann man aus heutiger Sicht schwer beurteilen. Es war immerhin noch die Zeit, in der die Anti-Baby-Pille schon verfügbar war, aber männliche Gynäkologen entschieden, ob eine Frau moralisch würdig war, sie verschrieben zu bekommen, und wie viele Quotenkinder sie dazu bereits geboren haben musste ...

    :study: -- Damasio - Gegenwind

    :study: -- Toibin - Long Island

    :musik: -- Catton - Gestirne; Rehear


    "The three most important documents a free society gives are a birth certificate, a passport, and a library card!" E. L. Doctorow

  • Ich weiß, dass es andere Zeiten waren. Die Achtundsechzigerbewegung wird thematisiert, da war die Autorin schon alt genug, um das am Rande wahrzunehmen, hat da aber nie wirklich mitgemischt. Ansonsten bekam sie als Kind eher zu viel von den Problemen anderer Leute mit... Die Pillenthematik kommt im Buch nicht vor.


    Wie gesagt, mir fehlt angesichts des "Wir"-Gefühls, das der Titel suggeriert, einfach der etwas ausführlichere Blick spätestens der erwachsenen und reflektierenden Autorin (immerhin schreibt sie ja ein Buch darüber!) auf andere Pfarrhäuser und andere Pastorentöchter.

    :study: Jutta Aurahs - Katzen :cat:

    :study: Han Kang - Griechischstunden

    :musik: Asako Yuzuki - Butter (Re-???)

    :musik: Satoshi Yagisawa - Die Tage in der Buchhandlung Morisaki

    :montag: Deb Olin Unferth - Happy Green Family (Reread)





  • Die Pillenproblematik soll das Machtgefüge verdeutlichen zwischen Frauen und Halbgöttern aller Art. Vermutlich unterschied sich das Aufwachsen im Forsthaus, im Lebensmittelgeschäft oder im Haushalt eines Landarztes in den 60ern kaum vom Pfarrhaus, inclusive der Rollenerwartung an die "mithelfende Ehefrau" ohne eigenen Rentenanspruch. Der Anspruch, bis zu 16 Stunden am Tag für andere verfügbar sein zu müssen, galt auch für andere Berufsgruppen.


    Ich kann mich noch an den erhellenden Moment erinnern, als meine Grundschullehrerin uns die Bedeutung des 1. Mais als Meilenstein für die Arbeiterklasse erklären wollte und gnadenlos scheiterte, weil die Väter aller Kinder 60 bis 70 Stunden in der Woche arbeiteten. (Landwirte, Hebamme, Handwerker). Was hatte die Arbeiterklasse erkämpft? :wink: Unsere Väter gehörten Samstag eindeutig nicht der Familie.


    Etwas mehr Recherche. z. B. zur Berufswahl von Pastorentöchtern, wäre wirklich nicht schlecht gewesen. Aber ich vermute stark, dass du nicht die Zielgruppe bist für Bücher von Bastei Lübbe.

    :study: -- Damasio - Gegenwind

    :study: -- Toibin - Long Island

    :musik: -- Catton - Gestirne; Rehear


    "The three most important documents a free society gives are a birth certificate, a passport, and a library card!" E. L. Doctorow