Sorj Chalandon - Am Tag davor / Le jour d'avant

  • Klappentext:

    Der Tag vor der Katastrophe: Der 16-jährige Michel fährt mit seinem geliebten großen Bruder Joseph auf dem Moped durch die Straßen seiner französischen Heimatstadt. Gemeinsam fühlen sie sich unbesiegbar. Am Tag darauf kommen bei einem Grubenunglück 42 Bergmänner aufgrund eines fatalen Fehlers der Werksleitung ums Leben – Joseph stirbt infolge seiner Verletzungen. Michel flüchtet sich nach Paris, auch um die Worte des Vaters zu vergessen: »Du musst uns rächen!« Sein Schmerz aber vergeht nicht, und so beginnt Michel Jahre später einen Rachefeldzug. Noch weiß er nicht, dass die Nacht vor dem Unglück anders war, als er es in Erinnerung hat.

    Ein erschütternder Roman über Schuld, Verdrängung und zwei Brüder, die einander bewunderten. (von der dtv-Verlagsseite kopiert)



    Zum Autor:

    Sorj Chalandon, geboren 1952 in Tunis, war viele Jahre lang Journalist bei der Zeitung ›Libération‹ und ist seit 2009 Journalist bei der Wochenzeitung ›Le Canard enchaîné‹. Seine Reportagen über Nordirland und den Prozess gegen Klaus Barbie wurden mit dem Albert-Londres-Preis ausgezeichnet. Auch sein schriftstellerisches Schaffen wurde mit nahezu allen großen französischen Literaturpreisen gewürdigt. Er veröffentlichte zunächst die Romane ›Le petit Bonzi‹ (2005), ›Une promesse‹ (2006, ausgezeichnet mit dem Prix Médicis) und ›Mon traître‹ (2008). ›La légende de nos pères‹ (2009) erschien 2012 als erstes Buch in deutscher Übersetzung u.d.T. ›Die Legende unserer Väter‹. Der folgende Roman ›Retour à Killybegs‹ (2011; dt. ›Rückkehr nach Killybegs‹, 2013) wurde mit dem Grand Prix du roman de l’Académie française 2011 ausgezeichnet und war für den Prix Goncourt 2011 nominiert. Auch der Roman ›Le quatrième mur‹ (2013; dt. ›Die vierte Wand‹, 2015) war für den Prix Goncourt nominiert. Sein semiautobiografischer Roman ›Profession du père‹ (2015; dt. ›Mein fremder Vater‹) wurde mit dem Prix du Style ausgezeichnet. (von der dtv-Verlagsseite kopiert)


    Allgemeine Informationen:

    Originaltitel: Le jour d’avant

    Erstmals erschienen 2018 bei Hachette, Paris

    Aus dem Französischen übersetzt von Brigitte Große

    Ich-Erzählung von Michel Flavant

    21 Kapitel auf 320 Seiten

    Mit namentlicher Widmung für die 42 Opfer des Grubenunglücks im Dezember 1974 in Liévin


    Meine Meinung:

    Michel Flavants gesamtes Leben wird überschattet vom frühen Tod seines 14 Jahre älteren Bruders Joseph, Jojo genannt, und dem Suizid des Vaters. Er verlässt seine nordfranzösische Heimat, lebt in Paris als LKW-Fahrer und ist glücklich verheiratet mit Cécile. Nach ihrem Tod, den er schmerzlich mit erlebt, kehrt er nach 40 Jahren in seine Heimatregion zurück, wo ihn niemand mehr erkennt. Er ist auf der Suche nach Lucien Dravelle, dem damaligen Steiger, den er für das Unglück in der Grube verantwortlich macht.


    Wie schon in seinen anderen Büchern schafft Chalandon es auch diesmal, den Leser dicht neben den Protagonisten zu stellen und ihn auf dessen Sichtweise einzuschwören. Michel verliert alle Menschen, die er liebt: Zuerst den Bruder, der an seinen Verletzungen im Krankenhaus stirbt, dann den Vater, der Selbstmord begeht, weil er den Tod seines Ältesten nicht verkraftet; irgendwann stirbt die Mutter, nachdem sie den Bauernhof der Familie verkauft hat, womit Michel das letzte Stück Zuhause verliert, und dann stirbt seine Frau nach langer auszehrender Krebserkrankung.

    Seit Jahren hatte Michel eine Garage angemietet und dort Memorabilien an die Grubenarbeit, das –unglück und an seinen Bruder gehortet.


    Céciles Tod ist das Fanal, das ihn dazu bringt, seine persönlichen Verbindungen in Paris zu kappen und sich auf den Rachefeldzug gegen den vermeintlich Schuldigen zu machen.

    Bis dahin liest man auf diesen einen Punkt zu, ob und wie es Michel gelingen kann, für seinen Bruder Gerechtigkeit einzufordern und dessen Tod zu sühnen.


    Als alles vorbei scheint, enthüllt sich eine Tatsache, die den Leser schlichtweg umhaut.


    Nun kommt das eigentliche Thema zum Tragen, mit dem der Autor seine Leser durch alle seine Bücher hindurch begleitet: Die Frage von Schuld und Vergebung. Wie verhalten sich Schuld und Verantwortlichkeit zueinander, wie Schuld und Gewissen, wie Gewissen und Erinnerung? Ist Bestrafung ein wirksames Mittel, um der Schuld entgegen zu treten? Wird man nicht erst durch einen Vorsatz schuldig? Oder genügt eine Unaufmerksamkeit?

    Eine Flut von Anregungen, Fragen und Gedankenanstößen. Verkörpert von Michel, aber auch von Dravelle.


    Ein grandios komponiertes und erzählerisch mitreißendes Werk, von einer Pointe unterteilt in zwei Hälften. Einer Pointe, um die jeder Krimiautor Chalandon beneiden könnte.

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • Marie

    Hat den Titel des Themas von „Sorj Chalandon - Am Tag davor“ zu „Sorj Chalandon - Am Tag davor / Le jour d'avant“ geändert.
  • Sorj Chalandon - Am Tag davor



    Schuld


    "Am Tag davor" ist ein wirklich schönes Buch, geschrieben von einem Autor, den ich noch nicht kannte. Der mich aber mit diesem Buch definitiv von seinem Können überzeugen konnte und der mich mit diesem Roman sehr neugierig macht auf weitere literarische Schätze aus seiner Feder. Denn genau diese literarischen Schätze produziert Sorj Chalandon. 4 Punkte gab es von mir, weil das letzte Quäntchen für mich gefehlt hat, aber das lag eher am Thema, weniger am Autor. Erwähnenswert ist in meinen Augen seine Sprache. Es sind in diesem Buch eher kurze und prägnante Sätze zu finden, aber in der Kürze werden soviel Tiefe und Gefühle transportiert, dass es den Leser schier umhaut. Da ist ein Autor, der sein Handwerk definitiv versteht, den Lesenden in einen Sog reißt und erst nach Beendigung des Buches wieder loslässt. Und Sorj Chalandon ist ein Autor, den ich unbedingt empfehlen möchte und von dem ich definitiv weitere Bücher lesen werde.



    Mit dem Buch "Am Tag davor" setzt Chalandon dem Bergbau und seinen Arbeitern literarisch ein grandioses Denkmal. Dieses Buch macht betroffen über die Arbeitsbedingungen der Bergleute in den 70ern und informiert den Leser sehr detailliert, was eine reine Gewinnsucht und damit verbundene Sparmaßnahmen in gefährlichen Arbeitsbereichen herbeiführen können/herbeigeführt haben. Die Unfälle in den französischen Bergwerken und auch anderswo sind ja schließlich keine Fiktion, sondern leider Realität. Lebensgefährlich ist die Arbeit unter Tage ja schon durch die Örtlichkeit und die Arbeitsbedingungen, aber wenn reine Geldgier dies alles noch verschlimmert und Menschlichkeit verschwindet, steht man als Leser einfach tief schockiert da und ist empört über diese Geringschätzung menschlichen Lebens.



    Ein weiteres großes Thema dieses Romans ist der Verlust von geliebten Menschen und was das mit den überlebenden Menschen macht/machen kann. Und auch hier weiß der Autor seine Charaktere mit einer ungeheuren Empathie zu zeichnen. Und den Leser tief zu beeindrucken und zu berühren.



    Das letzte große Thema von "Der Tag davor" ist die Schuld und die Rache, die Moral und die Sühne. In einem wirklich fulminanten und großartigen Ende darf sich der Leser Gedanken zu diesen Punkten machen. Und am Ende ist man überrascht und tief beeindruckt. Ein wundervolles Buch! Lesen!



    Der Autor hat mal gesagt: Jedes meiner Bücher entspricht einer Wunde. Eine wirklich wahre Beschreibung dieses Buches!


  • Marie hat wie immer eine fantastische Rezension geschrieben, der ich nur komplett beipflichten kann. Sie hat es auf den Punkt gebracht besonders mit diesem Abschnitt:

    Nun kommt das eigentliche Thema zum Tragen, mit dem der Autor seine Leser durch alle seine Bücher hindurch begleitet: Die Frage von Schuld und Vergebung. Wie verhalten sich Schuld und Verantwortlichkeit zueinander, wie Schuld und Gewissen, wie Gewissen und Erinnerung? Ist Bestrafung ein wirksames Mittel, um der Schuld entgegen zu treten? Wird man nicht erst durch einen Vorsatz schuldig? Oder genügt eine Unaufmerksamkeit?

    Eine Flut von Anregungen, Fragen und Gedankenanstößen. Verkörpert von Michel, aber auch von Dravelle.

    Die Wendung in der Mitte zu diesem Thema hin hat mich komplett überrascht, die Fragen und Gedanken bleiben. Das Buch beschäftigte mich sehr lang und es wird wohl zu denen gehören, deren Inhalt und Gedanken ich noch in vielen Jahren präsent haben werde.


    Gleichzeitig geht es mir wie @kaffeeelse : dies war mein erstes Buch von Chalandon, aber bestimmt nicht mein letztes. Er hat mich von seinem Können völlig überzeugt und wenn die anderen Bücher nur halb so gut wären wie dieses hier, dann lohnt sich das Lesen noch immer. Ein toller Autor, der ein schwieriges Thema in eine wunderbare, wenngleich düstere und traurige Geschichte gepackt hat.

  • Inhalt

    Michel bewundert seinen großen Bruder Joseph grenzenlos. Der Ältere arbeitet in der Zeche Saint-Amé. Wann immer Michel bei ihm wohnt, behandelt ihn Joseph wie einen Gleichgestellten, nicht wie ein Kind, wie es der Vater tut. An einem Abend im Winter fahren Michel und Joseph mit dem Mofa durch den kleinen Heimatort. Es ist der letzte schöne Abend, denn am nächsten Tag geschieht ein Grubenunglück. 42 Bergleute sterben. Joseph wird schwer verletzt geborgen und stirbt wenige Tage später. Von da an will Michel nur noch eines: er will die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen.


    Meine Meinung

    Die Geschichte beginnt mit einem Tod in der Vergangenheit und einem in der Gegenwart. Als Michels Frau stirbt, bricht er alle Zelte ab und zieht in sein Heimatdorf zurück, um die Verantwortlichen für den Tod seines Bruders zu finden und zur Rechenschaft zu ziehen. Aber je mehr er erfährt, desto weniger passt es zu seinen Erinnerungen. Irgendwann erkennt Michel, dass er sich seiner Vergangenheit stellen muss, anstatt sie zu verklären.


    Am Tag davor ist die Geschichte von zwei großen Lieben: der von Michel zu seinem Bruder und der zu seiner Frau. Aber sie ist auch die Geschichte von großer Trauer und großer Schuld und der Unfähigkeit, damit fertig zu werden. Sorj Chalandon erzählt sie in knappen Worten, aber gerade deswegen hat sie mich so berührt.

    :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: :bewertung1von5: