Olga Tokarczuk - Ur und andere Zeiten (ab 06.12.2019)

  • Ich kann mich auch mit keiner der Figuren identifizieren. Aber ich schaue ihnen gerne zu und bin neugierig, was weiter mit ihnen passiert. Vielleicht meinst Du das?

    Identifizieren kann ich mich auch nicht mit ihnen, aber Mitleiden tue ich mit manchen mehr als mit anderen. Vielleicht ist es einfach Sympathie? Manche bleiben mir auch einfach zu fremd, weil wir entweder nicht genug Zeit mit ihnen verbringen oder die Szenen dann nicht recht aussagen, was denjenigen nun ausmacht, was für ein Typ Mensch er oder sie ist.

  • Der komplette nächste Abschnittt bis "Die Zeit Michals"


    Je länger ich das Buch lese, um so besser gefält es mir! Und es stört mich überhaupt nicht, dass es keine durchgehende,

    spannende Handlung gibt. Diesen Abschnitt fand ich sehr intensiv und bewegend. Und ich bin dem Schreibstil der Autorin jetzt komplett verfallen.:D


    Ziemlich am Anfang dieses Abschnittes gibt es das Kapitel "Die Zeit Ähres" und dieses Kapitel hat mir ganz besonders gefallen. Ähre begibt sich zu der armen, verrückten Florentynka und bietet ihr an, sie könne die Großmutter von ihrer Tochter sein. Das hat mich sehr berührt. Und in dem Kapitel gibt es schon wieder ein paar so wunderschöne Sätze:love:Zum Beispiel als der Mond zu Ähre spricht: " Warum willst du denn, dass sie dir verzeiht ? habe ich da gefragt. Wozu brauchst du denn die Vergebung eines Menschen? Darauf hat der Mond geantwortet: Weil der Kummer der Menschen dunkle Runzeln in mein Gesicht gräbt" Das klingt alles so schön poetisch und ich lese diese märchenhaften Sätze und Kapitel einfach richtig gerne.


    Und dann kommen die Schrecken des Krieges doch nach Ur. Bis zu diesem Abschnitt hatte ich den EIndruck Ur ist ein friedliches und glückliches Örtchen an dem gar nichts Schlimmes passieren kann. Aber Der Krieg kommt mit voller Wucht und mit Angst und Schrecken. Die Autorin schildert alles sehr schonungslos und nimmt kein Blatt vor den Mund. Das fand ich zum Teil nicht ganz einfach zu lesen, weil es mich sehr traurig gemacht hat.

    Betroffen gemacht hat mich auch die Szene, als die Bewohner von Ur Zuflucht im Wald finden. Und dort, wo zwischen ihnen Florentynkas Platz gewesen wäre, lassen sie eine freie Stelle.

    Diese Szene ist mir selbst auch sehr nahe gegangen.:( Und es ist eine schöne Geste von den Dorfbewohnern, dass sie Florentynka nicht einfach vergessen sondern ihren Platz für sie frei lassen und ihr damit eine Ehre erweisen.


    Das Spiel soll wohl kabbalistische Elemente haben, das hatte ich im Netz nachgelesen. Aber da kenne ich mich leider gar nicht aus.

    Damit kenne ich mich auch überhaupt nicht aus. Das werde ich wohl auch mal im Internet nach lesen müssen.

  • Ziemlich am Anfang dieses Abschnittes gibt es das Kapitel "Die Zeit Ähres" und dieses Kapitel hat mir ganz besonders gefallen. Ähre begibt sich zu der armen, verrückten Florentynka und bietet ihr an, sie könne die Großmutter von ihrer Tochter sein. Das hat mich sehr berührt. Und in dem Kapitel gibt es schon wieder ein paar so wunderschöne Sätze :love: Zum Beispiel als der Mond zu Ähre spricht: " Warum willst du denn, dass sie dir verzeiht ? habe ich da gefragt. Wozu brauchst du denn die Vergebung eines Menschen? Darauf hat der Mond geantwortet: Weil der Kummer der Menschen dunkle Runzeln in mein Gesicht gräbt" Das klingt alles so schön poetisch und ich lese diese märchenhaften Sätze und Kapitel einfach richtig gerne.

    Ohja, das fand ich auch eine sehr schöne Szene. :love: Und so finden Menschen zusammen, die sonst keine weitere Familie haben. Nur furchtbar, dass es nicht von Dauer sein darf. :cry:

  • Zitat

    "In einer zivilisierten Welt gibt es keinen Krieg", antwortete er. (S. 145)

    Da irrt der Freiherr.

    Mit ihm komme ich immer noch nicht so richtig klar. Das Spiel beschäftigt ihn, was man ja auch verstehen kann; es geht um Lebenssinn und große Zusammenhänge. Aber mir gefällt, wie er sich von irdischem Besitz löst:

    Zitat

    "Er hatte weder eine Frau noch ein Schloss, nichts gehörte ihm und nichts kümmerte ihn. Das war ein schöner Traum." (S. 146)

    Genowefa wird, wie erwartet, vom Tod Elis gezeichnet, und auch Michals Rettungsversuch scheitert letzten Endes.

    Wie die Autorin so schlimme Dinge in ihrer kargen, fast harten Sprache formuliert und dabei - das lese ich ja auch in Euren Posts - große Emotionen hervorrufen kann, das finde ich bewundernswert.

    Vielleicht müsste ich aber auch sagen: Wie die Übersetzerin das formuliert - Chapeau!


    Neu ist die Figur des Ivan Mukta. Ein merkwürdiger, zwielichtiger Typ, finde ich, wie seht Ihr ihn?

    Er raubt dem armen Izydor das Gottvertrauen, und auch das ist wieder so schön formuliert:

    Zitat

    "Alles, was Izydor sah, war von Vergänglichkeit gezeichnet. Unter der bunten äußeren Hülle war nichts als Fäulnis, Zerfall und Vernichtung." (S. 168)

    Er raubt Izydor mit dem Gottesbild und dem Vertrauen in die Welt irgendwie zugleich die Kindheit - und das bekräftigt er noch mit Sodomie.

    Dennoch: er hat gute Eigenschaften und beschützt die Familie.

    :study: Percival Everett, James.

    :musik: Agatha Christie, Mord im Pfarrhaus.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Da irrt der Freiherr.

    Mit ihm komme ich immer noch nicht so richtig klar. Das Spiel beschäftigt ihn, was man ja auch verstehen kann; es geht um Lebenssinn und große Zusammenhänge.

    Bei ihm habe ich das Gefühl, er macht sich die Welt, wie sie ihm gefällt. Bisher scheint das auch gut funktioniert zu haben, aber der Krieg durchbricht diese Routine.


    Ja, mir ist er auch noch sehr unklar.

    Wie die Autorin so schlimme Dinge in ihrer kargen, fast harten Sprache formuliert und dabei - das lese ich ja auch in Euren Posts - große Emotionen hervorrufen kann, das finde ich bewundernswert.

    Vielleicht müsste ich aber auch sagen: Wie die Übersetzerin das formuliert - Chapeau!

    Definitiv versteht die Übersetzerin ihr Werk, auch wenn ich natürlich nicht mit dem Original vergleichen kann. Aber es liest sich für mich stimmig und es ist sehr deutlich herausgearbeitet, was das Besondere an Tokarczuks Schreibstil ist.

    Neu ist die Figur des Ivan Mukta. Ein merkwürdiger, zwielichtiger Typ, finde ich, wie seht Ihr ihn?

    Tja, er ist unter den schlimmen Charakteren noch einer der besseren. Anders kann ich ihn nicht in Worte fassen, eine sehr zwiespältige Figur.

  • er ist unter den schlimmen Charakteren noch einer der besseren

    Er beschützt Misia und ihre kleine Tochter.

    Allerdings habe ich nicht ganz verstanden, wieso sich Misia dieser Gefahr aussetzt, in ihr Haus zurückzukehren. Neugier? Heimweh? weil ihr jemand gesagt hatte, das Haus steht nicht mehr? Und das nach der furchtbaren Vergewaltigung Rutas?

    Die auch so erschütternd karg erzählt wird...


    Was geschieht mit Mukta? Es heißt "gefallen". Wurde er liquidiert?

    :study: Percival Everett, James.

    :musik: Agatha Christie, Mord im Pfarrhaus.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Allerdings habe ich nicht ganz verstanden, wieso sich Misia dieser Gefahr aussetzt, in ihr Haus zurückzukehren. Neugier? Heimweh? weil ihr jemand gesagt hatte, das Haus steht nicht mehr? Und das nach der furchtbaren Vergewaltigung Rutas?

    Das habe ich auch nicht verstanden. Was genau will sie dort? Und was macht sie dann mit der Information? Egal, ob das Haus nun steht oder nicht, sie wird damit leben müssen. Aber vielleicht soll es eine Art Abschied sein? Oder wollte sie eigentlich etwas anderes dort?

    Was geschieht mit Mukta? Es heißt "gefallen". Wurde er liquidiert?

    Das würde ich annehmen, ja.

  • Das habe ich auch nicht verstanden. Was genau will sie dort? Und was macht sie dann mit der Information? Egal, ob das Haus nun steht oder nicht, sie wird damit leben müssen. Aber vielleicht soll es eine Art Abschied sein? Oder wollte sie eigentlich etwas anderes dort?

    ???

    Vielleicht will sie die Kaffeemühle holen?

    Das ist jetzt kein Scherz, mir ist nur aufgefallen, dass die Kaffeemühle bzw. das Mahlen ein häufiges Motiv/Symbol ist. Immerhin ist Michal ja auch Müller.


    Aber was nützt ihr die Kaffeemühle im Wald - rätselhaft alles.

    :study: Percival Everett, James.

    :musik: Agatha Christie, Mord im Pfarrhaus.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Vielleicht will sie die Kaffeemühle holen?

    Das ist jetzt kein Scherz, mir ist nur aufgefallen, dass die Kaffeemühle bzw. das Mahlen ein häufiges Motiv/Symbol ist. Immerhin ist Michal ja auch Müller.

    Ich hatte, ehrlich gesagt, gegrübelt, ob es sie nicht konkret zu Mukta gezogen hat. Aber das ist jetzt wirklich meine wilde Spekulation.

    Aber was nützt ihr die Kaffeemühle im Wald - rätselhaft alles.

    Tja, wenn dann als Symbol, denke ich. Ein Geschenk ihres Vaters, als die Welt noch in Ordnung war.

  • Allerdings habe ich nicht ganz verstanden, wieso sich Misia dieser Gefahr aussetzt, in ihr Haus zurückzukehren.

    Ich habe es so verstanden, dass sie eigentlich nach Genowefa und Michal schauen möchte, die ja im Ort zurückgeblieben sind und nicht in den Wald mitgeganen sind. Aber vielleicht täusche ich mich da auch und es hat sie wirklich zu Ivan Mukta gezogen. Das könnte ich mir auch vorstellen.


    Ich weiß nicht genau, was ich von Ivan Mukta halten soll. Als er das erste mal aufgetreten ist, dachte ich, er ist einer von den Guten. Auch gerade wie er mit Izydor umgegangen ist. Aber dann hat er seine negativen Seiten gezeigt. Ich empfinde ihn auch sehr zwiespältig. Aber mir gefällt es, wie die Autorin die Figuren zeichnet. Es gibt kein "Schwarz oder Weiß ", niemand ist nur "Gut" oder nur "Böse", sie zeigt auch die Grautöne dazwischen auf. Und das ist gut so.

  • Was geschieht mit Mukta? Es heißt "gefallen". Wurde er liquidiert?

    Da habe ich erst einmal gegrübelt, was du meinst, und dann ein bisschen vorgeblättert. Ich glaube, du warst schon ein "Die Zeit Michałs"-Kapitel zu weit; das gehört erst in den nächsten Abschnitt. :winken:


    Auch mich hat die wunderschöne Szene mit den beiden Außenseiterinnen Ähre und Florentynka sehr berührt, auch wenn dann aus dieser Wahlverwandtschaft am Ende wohl doch recht wenig wurde. Immerhin konnte Ähre die alte Frau dazu bringen, die Schatten der Vergangenheit loszulassen und mit dem Gedanken an eine "Ersatz"-Enkeltochter ein bisschen mehr Frieden zu empfinden.

    Es hat mich an eine Praxis erinnert, die nach dem Genozid in Ruanda gepflegt wurde: Man hat Waisenkinder und verwaiste Eltern zu neuen "Familien" zusammengefügt - in der Hoffnung, dass die Kinder versorgt werden und alle wieder irgendwie eine Art von familiärem Zusammenhalt erleben dürfen. Auch nach anderen Kriegen waren derartige "Adoptionen" oder eher Patchworkfamilien ohne Blutsverwandtschaft wohl nicht ungewöhnlich.


    Nach den vielen Geburten, die im Roman immer wieder geschildert werden, muss man in diesem LR-Abschnitt nun auch eine Menge Tod verkraften.

    Wie Gott dabei immer wieder bitter versagt und schließlich abgeschafft wird, bringt die polnischen KatholikInnen bei der Lektüre sicher zum Zischeln. Auch die Muttergottes von Jeszkotle kann bei all dem Grauen rund um die Kriegsgeschehnisse nur noch schweigen. :cry:


    Den Besuch Misias in der Mühle habe ich auch so verstanden, dass sie nach ihren Eltern sehen will - aber warum sie nach den furchtbaren Erlebnissen von Ruta ihre eigene kleine Tochter mitnimmt, ist mir ein Rätsel und sie hat wohl mehr Glück als Verstand, dass beide heil aus dieser Situation herauskommen.


    Ich finde es sehr interessant, wie Tokarczuk in diesem Abschnitt wiederholt biblische Geschichten und Motive aufgreift und diese komplett gegen den Strich bürstet: Die verdrehte Reise nach Jerusalem, die umgekehrte Kain-und-Abel-Geschichte und diese seltsame Ergänzung des Schöpfungsberichts, in dem die Tiere der Dritten Welt Gott fangen und ertränken, weil sie nicht von ihm in Menschen verwandelt werden möchten... Bei allem, was da passiert, ist es wohl moralisch besser, ein Tier zu sein und dazu zu stehen, als ein Mensch, der anderen zum Wolf wird. :|


    Was das Spiel des Freiherrn und seine kabbalistischen Hintergründe betrifft: Ich kenne mich da auch nicht besonders gut aus, habe mich aber vor ein oder zwei Jahren einmal ein wenig mit der lurianischen Kabbala beschäftigt, in der der Tzimtzum, der bewusste Rückzug Gottes aus der Welt, erst die eigentliche Schöpfung ermöglicht. Diese Abwesenheit Gottes fordert die Menschen zur Wiederherstellung der zwischenzeitlich gestörten Schöpfungsordnung auf, mithin zur Übernahme von Verantwortung für das Weltgeschehen, impliziert also eine Ethik der (Aufforderung zur) Tat. - Ob der Freiherr aber da noch einmal hinkommt...?

    :study: Jutta Aurahs - Katzen :cat:

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    :musik: Asako Yuzuki - Butter (Re-???)

    :musik: Satoshi Yagisawa - Die Tage in der Buchhandlung Morisaki

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  • b es sie nicht konkret zu Mukta gezogen hat. Aber das ist jetzt wirklich meine wilde Spekulation.

    Ach so ... das wäre auch eine Möglichkeit. Wir können also auch diese Leerstelle füllen, wie wir meinen!

    dass sie eigentlich nach Genowefa und Michal schauen möchte, die ja im Ort zurückgeblieben sind und nicht in den Wald mitgeganen sind.

    Aber macht sie das? Doch erst sehr verspätet - wenn ich mich richtig erinnere.

    als Symbol,

    Das denke ich auch.

    Und es ist ja so, dass alles alles langsam zermahlen wird: die Familienstrukturen (ich denke da an Izydor), die dörflichen Strukturen, die Nachbarbeziehungen, das Nebeneinander der Religionen - letzteres war allerdings in der historischen Wirklichkeit nicht so idyllisch, wie es die Autorin darstellt, aber wir haben es ja auch mit einem besonderen Ort zu tun.

    Und der Gottesglaube wird auch "zermahlen".

    seltsame Ergänzung des Schöpfungsberichts, in dem die Tiere der Dritten Welt Gott fangen und ertränken, weil sie nicht von ihm in Menschen verwandelt werden möchten... Bei allem, was da passiert, ist es wohl moralisch besser, ein Tier zu sein und dazu zu stehen, als ein Mensch, der anderen zum Wolf wird. :|

    Das war eine packende Stelle im Buch, ein höchst ernüchterndes und misanthropes Menschenbild - nicht neu ("Der Mensch ist des Menschen Wolf"), aber durch die erzählten Episoden so glaubwürdig. Der Mensch ist hier nicht die Krone der Schöpfung...


    Ethik der (Aufforderung zur) Tat.

    Da würden wir uns dann Sartre annähern... Ich bin neugierig, ob und wie der Freiherr da hin findet.

    Er war ja von Anfang an immer ein Suchender.

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  • Der Freiherr schwankt ständig zwischen den Extremen (siehe auch Seite 40ff., wo er aus der Melancholie in manische Tätigkeit verfällt und wieder zurück); daher halte ich ihn, ehrlich gesagt, für bipolar.

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  • bipolar.

    interessanter Gedanke, den werde ich im Hinterkopf behalten.

    ich habe ihn bisher eher für einen reichen Müßiggänger gehalten, der Sinn in seinem Leben sucht und seinen Besitz (dazu zählt auch seine geisterhafte Frau) als Ballast bei seiner Suche empfindet.

    Aber bipolar kann er ja trotzdem sein, schließt sich nicht aus.

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    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Aber macht sie das? Doch erst sehr verspätet - wenn ich mich richtig erinnere.

    Aber Genowefa und Michal sind doch umgezogen, soweit ich mich erinnern kann. Ich hatte es schon so verstanden, dass Misia ursprünglich in den Ort zurück geht um sie zu suchen. Nur trifft sie die beiden nicht dort an wie erwartet, weil sie in ein anderes Haus gezogen sind. Aber ich kann mich auch täuschen. So genau habe ich es jetzt auch nicht mehr im Kopf.:)

  • Aber Genowefa und Michal sind doch umgezogen

    Ja, richtig, und Misia besucht zuerst das neue prächtige Haus, das von russischen Soldaten besetzt ist, und dann erst ihre Eltern.

    (Wenn ich das richtig in meinem Kopf habe, da machen sich zur Zeit andere Sachen breit.)

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  • bipolar.

    interessanter Gedanke, den werde ich im Hinterkopf behalten.

    ich habe ihn bisher eher für einen reichen Müßiggänger gehalten, der Sinn in seinem Leben sucht und seinen Besitz (dazu zählt auch seine geisterhafte Frau) als Ballast bei seiner Suche empfindet.

    Aber bipolar kann er ja trotzdem sein, schließt sich nicht aus.

    Nein, das schließt sich nicht aus, im Gegenteil: Nur, weil er reich genug ist, kann er es sich leisten, sich so von seinen wechselhaften Stimmungen treiben zu lassen. Arme Leute können sich keine seelischen Krankheiten erlauben; sie müssen arbeiten und funktionieren, sonst verhungern sie. :|

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  • Abschnitt 4: Seite 189 "Die Zeit des Wassermanns Pluszcz" bis einschl. Seite 251 "Die Zeit Lilas und Majas"



    Zu diesen Kapiteln habe ich mir sehr viele Notizen gemacht... Wo anfangen? :-k Ich versuche, das ein bisschen thematisch zu bündeln.


    Da sind zum einen die vielen psychisch auffälligen Figuren; etliche "interessante" Fälle hat die Psychologin Tokarczuk hier untergebracht:
    - Die (psychosomatisch?) pseudo-gelähmte Genowefa sieht grausige Totenzüge. "Steh auf und geh" (Worte Jesu!), sagt Ähre dazu, die vielleicht die Kinder vertauscht hat und darüber nur lacht.

    - Der Freiherr von Popielski lebt in der Parallelwelt seines Spiels - während er im Spiel glaubt, allmählich die Kontrolle zu gewinnen, wird sie ihm im echten Leben entzogen - und das stört ihn nicht einmal, er lebt nur noch für das Spiel. Parallelen fallen mir zuhauf ein.

    - Ganz schlimm fand ich, wie die kleine Adelka von ihrem Vater und seinem "Freund" gedemütigt wird. Wegen ein paar Federn von einem Eichelhäher! Wenn dieser ach so wichtige Mann, der hofiert werden muss, dann mal gebraucht wird, ist er nicht zu sprechen. :roll:

    - Und noch schlimmer, wie Ruta sich für diesen "Freund" des Vaters, Ukleja, aufgegeben hat und nun in einem goldenen Käfig sitzt - warum lehnt sie sich so lange nicht auf? Ist sie so vollständig zerbrochen worden? Immerhin bleibt ihr die Zuflucht bei ihrer starken Mutter. Aber ob die wirklich immer stark ist?

    - Sowohl Pawel als auch Misia, in der zweiten Lebenshälfte angekommen, spüren ihre Endlichkeit, das Verrinnen des Lebens, wobei Misias Körper sich unter einer weiteren Schwangerschaft aufbläht und sie mürrisch mit allem hadert - während Pawel fremdgeht. Beide haben wohl auf ihre Art und Weise das, was man eine Midlife-Crisis nennt... Misia rückt das Ehebett auseinander; ihr Mann lacht nur laut. Dieses Schicksal teilt Misia mit ihrer Mutter Genowefa: Sie äußern eine existenzielle Sorge oder ein existenzielles Gefühl - und der Mensch, der dieses ausgelöst hat, lacht darüber. :|


    Dann die vielen Erscheinungen der toten Seelen:

    - Unser gruseliger Nöck, der Wassermann Pluszcz, taucht wieder aus dem Schlamm hervor und treibt sein Unheil. Ich finde es genial von Tokarczuk, wie sie ihn machtlos zusehen lässt, als die Seelen der gefallenen Soldaten sich aus den toten Körpern lösen und nach oben aufsteigen - dieses Bild werde ich so schnell nicht wieder vergessen.

    - Genowefa sieht dann ebenfalls einen langen Marsch von Toten, siehe oben. Das hat mich irgendwie an die Wilde Jagd erinnert, auch wenn Genowefa hier nicht mitgezogen wird.

    - Pawel und der Pfarrer liefern sich dann ein bizarres Aushandeln des Preises für die Beerdigung des alten Boski. Dieser merkt nach seinem Tod, dass er nicht nur das Sterben schlecht hinbekommen hat, sondern auch das Leben - und sich damit ins lärmende Gedrängel der Toten auf dem Friedhof einreiht: "Denn erst hier kamen die Toten nach dem Leben langsam zu sich, und es zeigte sich, dass sie die Zeit verspielt hatten, die ihnen gegeben worden war. Nach dem Tod entdeckten sie das Geheimnis des Lebens, aber es war eine vergebliche Erkenntnis." (Seite 242f.) 8-[


    Und schließlich die schon öfter im Buch aufgeworfene Theodizeefrage:

    - Der Mensch will seine Ruhe vor dem ihn wie verrückt liebenden Gott haben, er will allein zurechtkommen und verlässt daher aus eigenem Antrieb das Paradies. Gott träumt nun, er habe den Menschen aus dem Paradies vertrieben, weil der Gedanke, verlassen worden zu sein, zu schmerzlich ist. Hier habe ich mich gefragt, ob Tokarczuk da Parallelen zu elterlichen Abnabelungsprozessen meint oder reine Religionskritik.

    - Letzteres drängt sich auf, wenn man die verdrehte Hiobsgeschichte liest: Gott ist einsam und langweilt sich. Und so kommt nun sogar die biblische Erzählung von Hiob ohne den bösen Satan aus, der es Gott erst nahelegt, Hiob zu versuchen. Gott beschließt aus eigenem Antrieb, Hiob alles zu nehmen - und während er das tut, weint er vor Mitgefühl mit ihm. 8-[ Was für ein schräges, schmerzendes Gottesbild. Bei Tokarczuk ist Gott offenbar wirklich böse.

    - Das zeigt sich auch in den Äußerungen, die die Autorin der traumatisierten Ruta in den Mund legt: Sie wird nie mit einem Mann schlafen, den sie liebt, nur mit denen, die sie hasst. "Die Welt ist schlecht. Das hast du selbst gesehen. Was ist das für ein Gott, der eine solche Welt geschaffen hat? Entweder ist er selbst böse oder er lässt das Böse zu. Oder ihm geht alles durcheinander." (Seite 214) Daran kann man in der Tat verzweifeln, und die einzige aushaltbare Antwort, die ich auf die Theodizeefrage kenne, nämlich dass es der Mensch ist, der Gut und Böse kennt und sich dafür entscheidet, Böses zu tun, und dass es eben (leider) der Preis der menschlichen Freiheit ist, dann auch die negativen Konsequenzen der Freiheit aushalten zu müssen, ist schwer zu ertragen: Allzu oft werden die negativen Auswüchse dieser Freiheit auf den Rücken von schwachen oder unschuldigen Menschen ausgetragen statt auf den Rücken der Verursacher. Die Verantwortung, die dem Menschen gegeben ist und die im Einklang mit der ihm ebenso verliehenen (oder erkämpften) Freiheit stehen sollte, wird nicht wahrgenommen, sondern pervertiert. :|



    Nach wie vor gefällt es mir sehr gut, wie Tokarczuk auch nicht-menschlichen, aber eindeutig belebten Wesen und Arealen ebenso wie eigentlich unbelebten Gegenständen ihre "Zeiten" schenkt - den Pilzen, dem Garten, vorher der Kaffeemühle usw.; das macht für mich einen großen Reiz dieses Buches aus, weil es so ungewöhnlich ist, und die Dosierung gefällt mir im Moment auch. Nur zu viel Zerfall ist überall am Werke... Kommt in diesem Buch auch nochmal irgendwann ein heiteres Kapitel...? Oder muss das jetzt alles immer schlimmer werden, weil Ur am Ende untergehen wird? :|

    :study: Jutta Aurahs - Katzen :cat:

    :study: Han Kang - Griechischstunden

    :musik: Asako Yuzuki - Butter (Re-???)

    :musik: Satoshi Yagisawa - Die Tage in der Buchhandlung Morisaki

    :montag: Deb Olin Unferth - Happy Green Family (Reread)





  • Gott beschließt aus eigenem Antrieb, Hiob alles zu nehmen - und während er das tut, weint er vor Mitgefühl mit ihm. 8-[ Was für ein schräges, schmerzendes Gottesbild. Bei Tokarczuk ist Gott offenbar wirklich böse.

    Ich lese übrigens heimlich bei euch mit. Da habt ihr ja eine sehr interessante MLR und ich ärgere mich ein wenig weil ich nicht teilnehmen konnte.

    Zu diesem Gottesbild fiel mir sofort ein Text von Mark Twain ein der in seiner posthum veröffentlichten Erzählung Nr. 44 (Der geheimnisvolle Fremde)

    ein ähnlich düsteres Gottesbild entwickelt. Hier ein etwas längeres Zitat aus dieser brillanten Erzählung:

    Das ist nur ein Teil dieses Textes über Gottes Werk, aber ich wollte es nicht ausufern lassen. Die Erzählung kann ich aber nur empfehlen. Mark Twain zeigt

    hier im hohen Alter noch einmal sein erzählerisches Genie und diese Geschichte zählt zu seinen sogenannten "dunklen Werken".

    Jetzt schleiche ich mich ganz heimlich wieder raus.................:uups:

    Wir sind der Stoff aus dem die Träume sind und unser kleines Leben umfasst ein Schlaf.

    William Shakespeare


    :study: Robert Seethaler - Das Cafe ohne Namen

    :study: Matt Ruff - Ich und die anderen