Klappentext:
Als Peri auf dem Weg zu einer Dinnerparty in Istanbul auf offener Straße überfallen wird, fällt ein Foto aus ihrer Handtasche: ein Relikt aus ihrer Studienzeit in Oxford. Daraufhin wird sie von der Erinnerung an einen Skandal eingeholt, der ihre Welt für immer aus den Fugen gehoben hat. Elif Shafak verwebt meisterhaft Fragen der Liebe, der Schuld und des Glaubens und erzählt, wie der Kampf zwischen Tradition und Moderne die junge Frau zu zerreißen droht. (Von der Kein&Aber-Verlagsseite)
Zur Autorin:
Elif Shafak, in Straßburg geboren, gehört zu den bedeutendsten Schriftstellerinnen der Gegenwart. Ihre Werke wurden in über fünfzig Sprachen übersetzt. Die preisgekrönte Autorin von siebzehn Büchern, darunter Die vierzig Geheimnisse der Liebe (2013), Ehre (2014) und Der Geruch des Paradieses (2016), schreibt auf Türkisch und Englisch. Mit ihren Artikeln und Auftritten wurde sie zum viel beachteten Sprachrohr für Gleichberechtigung und freiheitliche Werte zunächst in der Türkei, später in ganz Europa. Elif Shafak lebt in London. (Von der Kein&Aber-Verlagsseite)
Allgemeine Informationen:
Originaltitel: Havva'nın Üç Kızı (deutsch: Drei Töchter Evas)
erstmals erschienen 2016 bei Doğan Kitap, Istanbul
englisch: Three daughters of Eve
erstmals erschienen 2017 bei Penguin
aus dem Englischen übersetzt von Michaela Grabinger
Die Handlung spielt in den 1980ern und 2016 in Istanbul sowie 2001/2002 in Oxford und springt zwischen den Zeiten und Schauplätzen
Vier Teile, 551 Seiten plus Danksagung, Zitatnachweis, Glossar
Meine Meinung:
Peri sitzt mit ihrer halbwüchsigen Tochter Deniz im Auto und fährt durch den dicken Istanbuler Verkehr zu einer Abendgesellschaft. Mutter und Tochter stecken gerade in der schwierigen pubertären Phase. Als ihre Handtasche vom Rücksitz gestohlen wird, verfolgt Peri die Diebin und gerät an einen Obdachlosen, der sie beinahe vergewaltigt, ehe sie sich zur Wehr setzt.
Shafak setzt die Handlung mit den ersten Sätzen schon mitten in ein lautes, stinkendes, gewaltbereites und Frauen verachtendes Istanbul. Beklemmung, Angst, Druck und Stress – man wird vom Szenario, das Shafak ausbreitet, auf der Stelle überrollt.
Peris Kindheit in einer dysfunktionalen Familie, (der Vater trinkt, die Mutter und ein Bruder flüchten in die Religion, ein anderer Bruder landet im Gefängnis) verleiht ihr die Kraft, sich ausschließlich auf sich selbst zu verlassen und ihr Selbstbewusstsein vor allem durch Lernen, Lesen und Bildung zu gewinnen.
Auch der Erzählstrang der Gegenwart, die Abendgesellschaft bei einem reichen Geschäftsmann, Peris Unbehagen und ihre provozierenden Ansichten, das opulente Mahl, das prächtige Anwesen und die Gäste, denen Schein mehr gilt als Sein, liest sich anschaulich und lebendig, und man spürt den Zwist zwischen Tradition und Moderne, besonders hinsichtlich des Frauenbildes.
Im Mittelpunkt steht Peris Oxforder Studienzeit. Nicht einmal zwei Jahre verbringt sie fernab ihrer Heimat. Gemeinsam mit ihren Freundinnen Shirin (Agnostikerin aus dem Iran) und Mona, bekennende Muslima, und einem charismatischen Professor setzt sie sich mit Gott, Religion und Philosophie auseinander, lernt andere Lebensformen kennen und fühlt sich trotzdem immer noch schwach, ängstlich und dumm.
Ihre Verzweiflungstat am Ende der Oxforder Zeit zieht auch die anderen ins Verderben und beeinflusst ihr ganzes weiteres Leben, das eigentlich so geworden ist, wie sie es nie wollte: Sie ist Ehefrau, Mutter und Hausfrau. Und findet es seltsam, dass sie damit zufrieden ist.
Soweit ein gelungener, lesenswerter und tiefgründiger Roman, der sich nicht nur mit gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen beschäftigt, sondern (in Peris Oxforder Zeit) auch sehr stark auf die Frage nach Gott und der Bedeutung von Religion eingeht.
Doch im letzten Drittel schafft es die Autorin, ihr Konstrukt ins Wanken zu bringen.
Auf S. 446 erwähnt ihr Vater einen verstorbenen Bruder, an den sie sich nicht erinnern kann, auf S. 493 heißt es: „Der Geist ihres Bruders begleitete sie und hielt die Erinnerung an jenen Nachmittag ebenso wach …“
Völlig absurd verhält sich Peri am Ende:
Als bewaffnete Terroristen das Haus stürmen, versteckt sie sich in einem Schrank. So weit verständlich. Aber dass sie ausgerechnet jetzt und an diesem Platz nach Oxford telefoniert, um Abbitte zu leisten, während ihr Ehemann als Geisel genommen wird …
Mit ihrem Ehemann scheint Peri das große Los gezogen zu haben; gern hätte ich gewusst, wie er in die Geschichte und in ihr Leben trat, aber darüber erzählt die Autorin nichts. Wollte sie im letzten Drittel einfach nur schnell fertig werden?