Verlagstext:
Circe ist Tochter des mächtigen Sonnengotts Helios und der Nymphe Perse, doch sie ist ganz anders als ihre göttlichen Geschwister. Ihre Stimme klingt wie die einer Sterblichen, sie hat einen schwierigen Charakter und ein unabhängiges Temperament; sie ist empfänglich für das Leid der Menschen und fühlt sich in deren Gesellschaft wohler als bei den Göttern. (...)
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--> Achtung: Aufgrund von Spoilern stark gekürzt!
Meine Meinung:
Madeline Miller hat mich mit ihrem wundervollen Roman komplett becirct.
Schon der besondere Ort, an dem die Handlung einsetzt – der wasserdurchflutete, von Nymphen bevölkerte Palast des Titanen Okeanos – und seine Atmosphäre stellen ein ganz ungewöhnliches Setting dar und haben mich sofort gefangen genommen.
Circe ist keine normale Nymphe. Was sie ist (und wofür es bei ihrer Geburt noch kein Wort gibt), wird zunächst nicht offengelegt. Stattdessen begegnet man einer jungen, rangniedrigen und nicht besonders wirkmächtigen, dennoch sensiblen und intelligenten Göttin mit gelben Augen und einer kratzig-schwächlichen Stimme, deren Mutter von Geburt an mit ihr unzufrieden ist und deren Vater ihr bestenfalls mit Gleichgültigkeit begegnet, ist sie doch nur eins von Dutzenden an Kindern. Dennoch sucht Circe lange nach der Nähe und dem Wohlwollen ihrer sie stets nur abweisenden und demütigenden Familie, bis sie zu verstehen beginnt, dass sie als Außenseiterin ihren eigenen Weg gehen muss. Aus der Begegnung mit Prometheus, einem – wenn auch ungleich mächtigeren – Seelenverwandten, der grausam bestraft wird, weil er den Sterblichen geholfen hat, schöpft sie erstmals die Kraft, sich von ihrem destruktiven Umfeld zu distanzieren. Doch auch Circe wird für ihren Ungehorsam und das Austesten ihrer Zauberkräfte büßen müssen…
Mehr möchte ich über die Handlung jetzt nicht verraten und auch allen LeserInnen des Romans empfehlen, die eventuell vorhandenen eigenen Bildungslücken bezüglich der Götter- und Heldengeschichten des antiken Griechenlands nicht noch schnell bei Wikipedia zu schließen, sondern damit bis nach der Lektüre des Romans zu warten. Man würde sich, falls man nicht ohnehin schon ExpertIn für diese Themen ist, viel Spannung rauben. Außerdem ist es unnötig: die Autorin, von Haus aus Altphilologin, erweckt die griechischen Gottheiten und Helden gekonnter neu zum Leben, als das zumindest bei mir jedes Sachbuch vermocht hätte. Man begegnet olympischen und vorolympischen (Halb-)Gottheiten wie Helios, Athene, Medea, Hermes und Ariadne, menschlichen Helden wie Odysseus, Daidalos und Ikarus, um hier nur einige wichtige Namen zu nennen. Ich habe mich seit meiner frühen Jugend nicht mehr intensiv mit der antiken Götterwelt beschäftigt und viele Erinnerungen waren nebulös, doch Madeline Miller ist es meisterhaft gelungen, diesen Figuren wieder Seele und Charakter einzuhauchen. Dabei hält sie sich an die mythologischen Vorlagen, setzt aber ihre eigenen Schwerpunkte und Interpretationsrichtungen. Mit allen psychologischen Raffinessen werden die nicht immer ehrenhaften Figuren analysiert, dekonstruiert und dabei Götter- und Heldengeschichten neu zusammengesetzt. Besonders interessant fand ich die Perspektivwechsel: Eine Figur wie Circe, die sich in den mir aus meiner Kindheit und frühen Jugend bekannten Darstellungen nur am Rande des Geschehens bewegte oder eine gewisse Episode in der Geschichte eines berühmten Helden darstellte, steht nun im Mittelpunkt, und wer sonst die zentrale Figur von Heldengeschichten abgab, ist nun umgekehrt teilweise nur noch eine Episode wert.
Wie hier das Geschehen in einem einzigen chronologischen Erzählstrang aus der Sicht der tief reflektierten und selbstkritischen Ich-Erzählerin Circe dargestellt wird, hat mir überaus gut gefallen. Ihren Gedanken, Emotionen und seelischen Höhenflügen wie Abgründen konnte ich mühelos folgen und ihre persönlichen Entwicklungen und biografischen Wendepunkte werden mit atemberaubender Spannung und Intensität dargeboten.
Es geht aber in diesem Roman nicht nur um das Wesen und emanzipatorische Werden der kleinen Nymphe hin zur mächtigen Göttin Circe in einem ihr oft feindlich gesinnten Umfeld, auch wenn dies als „Entwicklungsroman“ an sich schon spannend genug gewesen wäre. Vielmehr wird hier die olympische und vorolympische Hackordnung als allgemein gültiges Spiegelbild menschlicher Gesellschaften und ihrer oft willkürlichen und hintergründig vernetzten Gewalten entfaltet. Die scharfen Beobachtungen und bis ins letzte egoistische Motiv sezierten Verhältnisse in der antiken (Halb-)Götterwelt laden immer wieder zum Nachdenken über aktuelle private wie gesellschaftspolitische Verhältnisse und Verstrickungen ein. Menschliche Begierden z.B. nach Aufmerksamkeit und Macht werden gnadenlos aufgedeckt, aber auch Ängste und Hoffnungen, Lust und Liebe, eigenes und fremdes Glück und (dafür) Loslassenmüssen, Treue und Verrat, die oft schwierigen Verhältnisse von Kindern und ihren Eltern und sehr, sehr viel Mut und Hoffnung finden ihren Ort in dieser Geschichte. Dass dabei, vor allem gegen Ende des Buches, Reflexionen über Göttlichkeit und Sterblichkeit einfließen, ist angesichts der ProtagonistInnen aus beiden Welten durchaus naheliegend und bot mir als Leserin einige Momente des Nachdenkens über das Wesen von Tod und ewigem Leben – und die Überschreitung der Grenzen zwischen beidem.
Bei alledem ist der Roman flüssig geschrieben, voll von pointierten Dialogen und stimmungsvollen Beschreibungen seiner Figuren, Orte und Handlungsverläufe. Beinahe jedes Kapitel stößt am Ende eine Tür auf, die eine verblüffende Wendung ins Geschehen bringt und im Folgekapitel entfaltet wird. So hat die Autorin bis zuletzt stets eine hohe Spannung und Erwartungshaltung bei mir aufrechterhalten, die auch niemals enttäuscht wurde – immer wieder fand ich die Entwicklungen überraschend, aber zugleich folgerichtig und stimmig. Ich habe den Reader sehr zufrieden zugeklappt, versöhnt mit Circe und ihrer Geschichte und nachdenklich, aber auch hoffnungsvoll, was den Zustand unserer heutigen Welt betrifft.
Fazit: "Ich bin Circe" war für mich ein rundum toller Roman, bei dem ich jede einzelne Seite genossen habe, der auch als Printbuch einen Ehrenplatz in meinem Bücherregal bekommen wird und den ich mit Sicherheit noch oft zur Hand nehmen werde.
Diese Rezi stammt vom Juni 2019; ich durfte sie aufgrund der Sperrfrist des Verlags erst jetzt veröffentlichen. Auch zwei Monate und 30 Bücher später ist "Ich bin Circe" bisher mein unangefochtenes Jahreshighlight. Allerdings kann ich mir vorstellen, dass dies ein Roman ist, bei dem sich die Geister scheiden werden.