Clarice Lispector - Der Apfel im Dunkeln / A maçã no escuro

  • Kurzmeinung

    Jean van der Vlugt
    Äußerst existenzialistisch, introspektiv, schwergängig, kaum Plot. Identität als Folge d. sprachl. Erfassung des Daseins
  • Die Autorin (Wikipedia): Die brasilianische Schriftstellerin Clarice Lispector wurde am 10. Dezember 1920 in Tschetschelnyk in der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik als jüngste Tochter russisch-jüdischer Eltern geboren. Sie erhielt den hebräischen Namen Chaya. Zwei Monate nach ihrer Geburt emigrierte die Familie über Hamburg nach Maceió in Brasilien. Dort nahmen die Familienmitglieder brasilianische Vornamen an. Clarice Lispector pflegte später ihr Geburtsjahr übrigens beständig um fünf Jahre auf 1925 zu verschieben.:wink: Sie wuchs in Recife im armen Nordosten des Landes auf, zog aber mit ihrer Familie 1934 nach Rio de Janeiro, wo sie die Schule und ein Jurastudium absolvierte und als Lehrerin und bei zwei Zeitungen arbeitete. In ihrer Familie wurde weiterhin Jiddisch gesproch, aber sie war die erste in der Familie, die Portugiesisch erlernte. 1943 heiratete sie gegen die Wünsche ihrer Eltern den Katholiken Maury Gurgel Valente, der in das diplomatische Korps Brasiliens eintrat.[2] Im selben Jahr begann sie ihren ersten Roman Perto do coração selvagem (Nahe dem wilden Herzen), der 1944 veröffentlicht wurde und viel Aufmerksamkeit auf sich zog. Der Roman der 23-Jährigen, der die soziale Realität Brasiliens, besonders des Nordostens, beschreibt, erregte zu einer Zeit, in der die vorherrschende Strömung in der Literatur der Regionalismus war, sofort das öffentliche Interesse und wurde zu einer literarischen Sensation. Neben weiteren Romanen schrieb sie Kurzgeschichten, Kinderbücher und Kolumnen für Zeitungen und Zeitschriften. Sie starb am 9. Dezember 1977 in Rio de Janeiro.


    Werkauswahl:

    • Nahe dem wilden Herzen (OT: Perto do coração selvagem) 1944 (EA) /2013 (letzte deutsche VÖ)
    • Der Lüster (OT: O lustre) 1946 / 2013
    • Von Traum zu Traum (OT: A cidade sitiada) 1949 / 1992
    • Der Apfel im Dunkeln (OT: A maçã no escuro) 1961 / 1998
    • Die Passion nach G. H. (OT: A paixão segundo G. H.) 1963 / 1990
    • Die Nachahmung der Rose (OT: A imitação da rosa) 1973 / 1985
    • Der große Augenblick / Die Sternstunde (OT: A hora da estrela) 1977 / 2016


    Klappentext (Suhrkamp): Martim, ein Mann, "der im Aufbegehren aufgehört hatte, ein Mensch zu sein", hatte versucht, seine Frau zu ermorden, vielleicht aus Eifersucht. Nach langer Flucht findet er auf einer einsamen Fazenda Arbeit - und findet zu sich selbst. Zwei Frauen leben dort: Vitória, die herrische Besitzerin der Fazenda, und ihre verwitwete Nichte Ermelinda. Isoliert von der Welt, der Natur ausgeliefert und der Hitze, weichen sich die drei Menschen aus und sind doch unausweichlich aneinander gekettet. Sie wecken ineinander brachliegende Sehnsüchte und Aggressionen. Ermelinda sucht die Liebe Martims, um die Lust am Leben wiederzugewinnen. Vitória, fasziniert von dem Fremden, versucht auf Distanz zu bleiben. Aber ihr "Nichtbegehren ist der verzweifelte Ausdruck des Begehrens". Ist das der Grund, warum sie ihn schließlich bei der Polizei denunziert?


    Clarice Lispectors vierter Roman erschien unter dem Originaltitel „A maçã no escuro“ zunächst 1961 bei Nova Fronteira in Rio de Janeiro. Eine deutsche Übersetzung von Curt Meyer-Clason aus dem brasilianischen Portugiesisch erschien unter dem Titel „Der Apfel im Dunkeln“ 1964 im Classen Verlag in Hamburg, 1983 als Band 826 in der Bibliothek Suhrkamp in Frankfurt am Main und 1998 noch einmal als Taschenbuch bei Suhrkamp. Diese Ausgabe umfasst 345 Seiten. Eine englische Übersetzung von Gregory Rabassa wird unter dem Titel „The Apple in the Dark“ vertrieben, u.a. 2009 beim Londoner Verlag „Haus publishing books“ mit einem Vorwort von Benjamin Moser. Auf Französisch kann man den Roman dank einer Übersetzung von Violante Do Canto für den Pariser Verlag Gallimard seit 1970 unter dem Titel „Le Bâtisseur de ruines“ lesen.


    Der Roman besteht aus drei Teilen: Der erste Teil umfasst elf Kapitel und trägt den Titel „Wie ein Mensch wird“ (107 Seiten), der zweite Teil umfasst neun Kapitel und trägt den Titel „Die Geburt des Helden“ (78 Seiten), der dritte Teil umfasst sieben Kapitel und trägt den Titel „Der Apfel im Dunkeln“ (150 Seiten). Dem ersten Teil ist als Motto ein Zitat aus der hinduistischen Schriftensammlung Veda vorangestellt, aus den späten, philosophischen Offenbarungstexten der Upanishaden:

    Zitat

    Indem er alle Dinge schuf, trat er ein in alles. Indem er eintrat in alles, wurde er das, was Form hat und was formlos ist. Er wurde das, was sich definieren und nicht definieren lässt. Er wurde das, was roh ist und fein. Er wurde alle Arten von Dingen: daher nennen die Weisen ihn den Wirklichen.



    Der Roman ist purer Existenzialismus: eine wirkliche Selbsterkundung der Hauptfigur(en). Schritt für Schritt wird mühselig erschlossen, was man wissen kann, was einen selbst ausmacht, wie man sich die Welt erarbeitet. So, als würde ein Mensch ohne Erinnerung und Bewusstsein nach und nach ein weißes Blatt Papier mit Leben füllen und sich so langsam das Menschsein erarbeiten. Als wenn man Laufen lernt. Oder als würde man Gefühle durchdenken. Das Dasein der Dinge und das Wesen des eigenen Selbst vor und nach der Benennung durch die Sprache.


    Der Leser verfolgt gewissermaßen das Erlebnis einer Initiation (durch die Augen der Hauptfigur), einer Menschwerdung in völliger Introspektion: Handlung ist kaum vorhanden, aber in den Innenwelten geht es drunter und drüber, bzw. einen Schritt vor und zwei zurück. Das ist sehr faszinierend, aber stellenweise auch sehr schwergängig. Man braucht als Leser Ruhe und einen kühlen Kopf. Clarice Lispector führt einen nicht zu einer Erkenntis hin, an der sie den Leser teilhaben möchte. Der Weg der Erkenntnis erscheint fast ergebnisoffen (und ist wie so oft das, worauf es ankommt): Schicht für Schicht werden Vorgänge entblättert, nach und nach werden allerdings auch Schichten wieder aufgetragen, nachdem der Kern erst einmal freigelegt war. Wenn Martim anfangs im Roman auftaucht, wird er von seiner Schuld so sehr „entmenschlicht“, dass er fast wie ein tierischer Wilder und ohne Sprache durch die Wildnis wandert. Er erscheint als ein Objekt, das geformt wird: So gibt er sich als „Mädchen für alles“ in den Dienst Vitórias, der herrischen Besitzerin der Fazenda. Er führt ihre Befehle aus, während er sich über sich selbst klar wird. Und während sich sein Dasein wieder mit „Sinn“ füllt, erlebt und betritt er die Welt um sich herum wie ein zweites Mal: Alles, was er bereits berührte und wahrnahm, nimmt er ein zweites bewusstes Mal wahr, so wie er einen Apfel im Dunkeln berührte und ihn erkannte, so sieht er ihn erneut im hellen Licht. Das zeigt ihm die Dinge gewissermaßen unter ihrem falschen (späteren) Namen, jene Dinge, die er bereits im Dunkeln noch vor ihrer Benennung und der Einordnung als wahr erkannte. Denn der menschliche Geist erschafft die Welt um sich herum aus dem Gespür. Die (oft so fest geglaubte) menschliche Identität erscheint als Ausdruck und Folge der sprachlichen Erfassung der Welt. So wird der Mensch zu dem, was Form hat und was formlos ist. Zur gleichen Zeit also etwas, das sich definieren und etwas, das nicht definieren lässt. Was eben die Wirklichkeit ausmacht. Alles andere ist bloße Theorie. Ich vermute sehr stark, wenn man sich mit Derridas Grammatologie und anderen Dekonstruktivisten auskennt, hat man mehr von dem Roman als andere.


    Martim muss so unpersönlich werden, dass er ein anderes Selbst werden kann: Der eine Mann fällt, als ein anderer steht er wieder auf. Seine Erkenntnis: „Die Wahrheit war geschaffen, damit sie existierte, und nicht, damit wir sie wissen. Wir können sie nur erfinden.“ (S. 319) Und wie als Höhepunkt seiner „Menschwerdung“ und der Betrachtung seiner eigenen Person beschwört er sich dazu, den Mut zu haben, „unerklärt zu lassen, was unerklärlich ist.“ (S. 327). Genau das scheint mir auch Clarice Lispectors Credo als Autorin zu sein. Scheitert Martim oder scheitern die beiden Frau Vitória und Ermelinda, die beide ihre eigenen Daseinsqualen und Grübeleien zu tragen haben? Wenn ja, dann am Kontakt mit dem Anderen, dem unverständlichen Mitmenschen, dem gegenüber die eigene Gegenwart irgendwie erklärt werden muss. Wahrscheinlich kann man überhaupt nur an „dem Anderen“ scheitern, wenn sich manche existenziellen Fragen sonst gar nicht stellen. Aber so gibt es viel Vermeidung, Entrüstung und die Tiefe der Selbsterkenntnis scheuendes Wegwischen. Ich meine, die Figuren des Romans haben noch einen weiten Weg zu gehen. So erscheint mir die Menschwerdung „gescheitert“, ein eher stutenbissiges Dasein könnte man sagen, wenn der Begriff nicht so rein weiblich konnotiert wäre. Ich empfehle, sich selber eine Meinung über den Roman zu bilden. Ein faszinierendes, schwieriges, aber am besten in einem Rutsch zu lesendes Buch. :drunken:

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  • Das Original "A maçã no escuro" lässt sich im brasilianischen Portugiesisch als Taschenbuch aus dem Verlag "Relógio d'água" aus Lissabon lesen.

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  • Eine englische Übersetzung von Gregory Rabassa wird unter dem Titel „The Apple in the Dark“ vertrieben, u.a. 2009 beim Londoner Verlag „Haus publishing books“ mit einem Vorwort von Benjamin Moser.

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  • Das ist die französische Übersetzung von Violante Do Canto unter dem Titel „Le Bâtisseur de ruines“ in einer Gallimard-Ausgabe aus dem Jahr 2000

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  • Die (oft so fest geglaubte) menschliche Identität erscheint als Ausdruck und Folge der sprachlichen Erfassung der Welt.

    Ein interessanter und eigentlich spannender Ansatz.

    :study: Edvard Hoem, Der Heumacher.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Die (oft so fest geglaubte) menschliche Identität erscheint als Ausdruck und Folge der sprachlichen Erfassung der Welt.

    Ein interessanter und eigentlich spannender Ansatz.

    Auf jeden Fall! Wenn auch gar nicht so abwegig, wenn man darüber nachdenkt: Man geht ja doch (seit den alten Griechen?!) tendenziell davon aus, dass das menschliche Bewusstsein wie gesprochene Rede "funktioniert" oder aufgebaut wird/ist. Ich bin - zum Glück für meine Gemütsruhe, vielleicht zum Pech für meine Verstandeskräfte:wink: - schon lange nicht mehr mehr mit kulturwissenschaftlichen Texten in Berührung gekommen: Semiotiker, Poststrukturalisten usw. usf. Wer sich da besser auskennt, nur vor!:) Möglicherweise wäre auch tatsächlich der Griff zu Derridas "Grammatologie" erhellend. Wenn das nicht so außerordentlich schwer verständlich wäre. Vielleicht tut es ja erstmal auch ein Umberto Eco? :wink:

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