Imre Kertész - Der Spurensucher / A nyomkereső

  • Autor: Imre Kertész
    Titel: Der Spurensucher übersetzt von György Buda
    Originaltitel: A nyomkereső erschien erstmals 1977
    Seiten: 130 Seiten, inklusive Nachwort
    Verlag: Suhrkamp
    ISBN: 9783518223574


    Der Autor: (von der Suhrkamp-Verlagshomepage)
    Imre Kertész wurde am 9. November 1929 in Budapest geboren. Er stammt aus einer kleinbürgerlichen Familie. Wegen seiner jüdischen Abstammung wurde Kertész im Juli 1944 als Fünfzehnjähriger nach Auschwitz deportiert und im April 1945 aus dem KZ Buchenwald befreit. 1948 machte er Abitur und fand eine Anstellung als Journalist bei der Tageszeitung Világosság. Diese wurde alsbald zum Parteiorgan der Kommunisten erklärt und er entlassen. Von 1951 bis 1953 leistete er Militärdienst. 1960 begann er mit der Arbeit an seinem Roman Sorstalanság (dt. Mensch ohne Schicksal, 1990; Roman eines Schicksallosen, 1995). Nach jahrelangen erfolglosen Versuchen konnte das Buch 1975 in Ungarn veröffentlicht werden, erfuhr jedoch erst mit der zweiten Auflage 1985 literarische Beachtung. Seinen Lebensunterhalt verdiente Imre Kertész daher hauptsächlich durch seine Arbeit als Übersetzer. Er übertrug unter anderem Werke von Friedrich Nietzsche, Sigmund Freud, Hugo von Hofmannsthal, Elias Canetti, Ludwig Wittgenstein, Joseph Roth, Arthur Schnitzler und Tankred Dorst ins Ungarische. Als Sorstalanság 1995 in einer deutschen Neuübersetzung erschien, wurde es als literarisches Ereignis gefeiert und verhalf Imre Kertész zu seinem internationalen Durchbruch. Im Herbst 2002 erhielt er den Nobelpreis für Literatur. Seit 1953 lebt Kertész als freier Schriftsteller in Budapest.

    Imre Kertész starb am 31. März 2016 in Budapest


    Inhalt: (Klappentext)

    Nach Jahrzehnten ist es soweit. An einem heißen Sommertag macht sich der Mann in Begleitung seiner Frau auf, um Buchenwald, die Stätte seiner Erniedrigung und Leiden, zu besuchen. Er schlüpft dazu in die Rolle des überlegenen Fremden. Sie soll ihm erlauben, standzuhalten und abzurechnen, ein für allemal. Aber es kommt anders. Das KZ-Tor mit dem bekannten Spruch ist zwar da. Doch was dahinter war, die Vergangenheit, ist abgeräumt worden, fehlt. Ihm ist der Sieg verwehrt. Ganz allein also muß der Spurensucher fertig werden mit seiner Verlorenheit in einer nur allzu "normalen" Gegenwart, die den Erregten für Augenblicke höllisch verzerrt – oder wie sie wirklich ist? - anbleckt.


    Meinung:
    Zunächst einmal ist der Klappentext konkreter als der Erzähler dieser kurzen Geschichte.
    Namen und Orte werden nämlich kaum genannt. Der «Abgesandte» besucht mit seiner Frau eine Stätte der Vergangenheit. «Jedem das Seine» steht auf dem Tor. Um was sich hier handelt und was mit ihm geschehen ist, bleibt nebulös. Seine Gesprächspartner, der Hauptort in der Nähe, die Fabrik, die er noch aufsucht – alles namenlos. Aber dieses unspezifische, nicht eindeutig benannte, verschafft dem Text eine Art fiebrige Atmosphäre, fast schon kafkaesk. Der «Abgesandte» scheint einen Auftraggeber zu haben, eventuell aber auch sein eigener innerer Antrieb. Jedenfalls wirkt er gehetzt, getrieben, aber auch überheblich und abweisend – sogar seiner Frau gegenüber. Er ist auf der Suche nach Spuren seines Leidens – und findet NICHTS. Klar, die Mauern stehen da. Die Menschen sind dort. Aber es ist nicht mehr wie früher. Der Geruch ist weg. Aus einem Schuppen wurde ein Bauernhof, woanders wird Bier für Touristen ausgeschenkt. Die Erfahrungen, die er an diesem Ort gemacht hat, lassen sich nicht wiederholen. Welche Bedeutungen haben nun seine Erinnerungen? Wozu die Orte der Vergangenheit aufsuchen? Die Vergangenheit ist nicht wieder erlebbar. Enttäuscht fährt er zurück zum Hauptort, um dort beim Anblick auf die Strasse in einer Art Trance das Harmagedon zu sehen – nur um dann wieder das Alltagsleben zu erkennen.
    Ein sehr interessanter Text, den man mehrmals lesen sollte und in dem man immer wieder Neues entnehmen kann. In seinem Nachwort gibt Kertész zu, dass dieser Nachklang zu seinem «Roman eines Schicksalslosen» weniger zugänglich sei, da er sich eine «gewisse stilistische Euphorie gestattet» habe. Davon abschrecken lassen sollte man sich aber nicht, interessierte Leser können auf den kaum 100 Seiten einen wahren Schatz bergen! Mir hat es sehr gut gefallen, und sicherlich werde ich das Heftchen noch mehrmals lesen.


    Allgemeines:
    Die Erzählung erschien zunächst im Sammelband «Die englische Flagge». Nachdem Kertész von Rowohlt zu Suhrkamp wechselte, wurde einige Erzählungen neu und separat aufgelegt. Das hier enthaltene Nachwort des Schriftstellers entstand anlässlich dieser Einzelausgabe.

  • In diesem Sammelband ist "Der Spurensucher" ebenfalls enthalten; zusammen mit den Erzählungen "Die englische Flagge" und "Protokoll".

    Das Nachwort von Kertész ist allerdings nur in der Suhrkamp-Einzelausgabe enthalten.

    Zudem legte Rowohlt später nochmals "Die englische Flagge" als Separatausgabe auf, also gleicher Titel aber nur die eine Erzählung.

    Man muss also aufpassen, zu welcher Ausgabe man greift...

  • fast schon kafkaesk.

    Dein Eindruck hatte ich auch. Alles wird anonymisiert: der Erzähler wie Kafkas kaiserlicher Abgesandter, auch seine Frau wird oft nur "die Frau" genannt, und auch die Orte. Und das verstehe ich nicht so ganz: das erkennt der Leser doch sofort, dass er in Weimar im Hotel Elefant wohnt. Ebenso ist klar, dass er Buchenwald besuchen will und eine Fabrik, in der er offenbar als Arbeiter eingesetzt war; ich habe mir nicht die Mühe gemacht, den Namen und Ort herauszufinden, warum auch, darum geht es nicht. Bei Kafka führt die Anonymisierung dazu, dass die Handlung im Schwebezustand bleibt und unabhängig von Raum und Zeit wird, aber das ist hier nicht der Fall.


    Buchenwald - für den Erzähler ist das ein Schicksalsort, der ihn traumatisiert hat, und dieses Trauma will er überwinden. Statt diesem Höllenort trifft er nun hier auf eine touristische Attraktion, so dass er sein Trauma nicht bewältigen kann. Das fand ich interessant; ich bin mehrmals in Buchenwald gewesen und hatte weiß Gott nicht den Eindruck, dass der Ort zugunsten der Touristen banalisiert wurde. Aber das ist eben nur mein Eindruck, der Eindruck eines Nicht-Betroffenen - der zutiefst betroffene Abgesandte erlebt das anders.


    Der Schluss des "Berichts" hat sich mir, wie so vieles in diesem kleinen Buch, nicht sofort erschlossen. Er hat mich überrascht, er war mir zunächst unverständlich - und jetzt finde ich ihn direkt genial. Da liest der Protagonist eine kurze Zeitungnotiz und erinnert sich an diese rätselhafte Frau im Hotel, tatsächlich kafkaesk, die ihre Verluste nicht erträgt und nach dem Besuch des Lagers ihre eigenen Konsequenzen zieht - ich will hier nicht spoilern.

    Und gerade die Konsequenz dieser Frau, also ihr Unvermögen das Trauma zu bewältigen, lässt den Protagonisten sein Trauma überwinden: er kann sich von der Vergangenheit abwenden und dem Leben zuwenden und plant die Weiterreise mit seiner Frau.


    Sprachlich ist das Buch äußerst beeindruckend; diese fast apokalyptische Szene auf dem Marktplatz (?), wuchtig wie ein expressionistisches Gemälde!

    Ein nicht einfaches Buch, aber absolut lesenswert.

    Ein Blick in eine Seele.

    :study: Percival Everett, James.

    :musik: Agatha Christie, Mord im Pfarrhaus.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).