Jorge Luis Borges - Das Aleph / El Aleph

  • Der Autor: Jorge Luis Borges wurde am 24. August 1899 als Sohn einer wohlhabenden Familie in Buenos Aires geboren. 1914 übersiedelt die Familie in die Schweiz. 1921 kehrte Borges nach Argentinien zurück. Nach mehreren Augenoperationen erblindete er 1955 vollständig, dennoch wurde er im gleichen Jahr zum Direktor der argentinischen Nationalbibliothek ernannt. Er schuf ein literarisches Werk, das in europäischer Tradition steht, das aber auch die 'lateinamerikanische Phantastik' mitbegründete. Borges starb am 14. Juni 1986 in Genf. (Quelle: Verlagsseite Matthes & Seitz).


    Verlagsinfo (von Bucheinband und Klappentext des Fischer-Taschenbuchs): Der gesamte Kosmos der modernen wie der klassischen Erzählkunst wird von Jorge Luis Borges ausgebreitet. 'Aleph' enthält das ganze Universum.


    Der zweite große Erzählband von Borges erweitert und vollendet die in "Fiktionen" begonnene literarische Revolution. Vom 'Aleph' (einem kleinen Gegenstand, der das ganze Universum enthält) bis zum 'Zahir' (einem kleinen Gegenstand, der das ganze Universum verdrängt) ist hier der gesamte Kosmos des modernen wie des klassischen Erzählens zu finden: artistische Montagen aus Essay und Story, scheinbar schlichte, lakonische Berichte, bis zum logischen Ende getriebene literarische und philosophische Plots; aber auch eine Fülle von Themen und Schauplätzen, wie sie kaum ein Roman bietet. (In leicht abgewandelter Form findet sich dieser Text auch auf der aktuellen Webseite des Verlages.)



    Der Band mit Erzählungen erschien im Original zuerst im Jahr 1949. Eine durch Borges um vier Erzählungen ("Ibn Hakkan al-Bokhari, gestorben in seinem Labyrinth", "Die zwei Könige und die zwei Labyrinthe", "Die Wartezeit" und "Der Mann auf der Schwelle") ergänzte Ausgabe erschien im Jahr 1952. Entstehung und Erstveröffentlichung einzelner Erzählungen gehen allerdings bis auf das Jahr 1944 zurück. Deutsche Ausgaben erschienen u.a. 1981 bei Hanser als Hardcover oder 1992 beim Frankfurter Fischer-Verlag im Taschenbuch (10582), dort als Band 6 der Werke in 20 Bänden, herausgegeben von Gisbert Haefs und Fritz Arnold. Die Übersetzung aus dem argentinischen Spanisch stammt von Karl August Horst und Gisbert Haefs. Enthalten ist neben Borges eigenem Epilog ein ausführlicher Anhang, der neben einer editorischen Notiz auch etliche Anmerkungen umfasst. Diese Taschenbuchausgabe umfasst 167 Seiten. Der Band bildet gewissermaßen eine formale Einheit mit dem früheren Band "Fiktionen", der Erzählungen der Jahre 1942 bis 1944 enthält.


    Enthalten sind die Erzählungen (keine länger als zehn Seiten):

    • Der Unsterbliche
    • Der Tote
    • Die Theologen
    • Geschichte vom Krieger und der Gefangenen
    • Biographie von Tadeo Isidoro Cruz (1829-1874)
    • Emma Zunz
    • Das Haus des Asterion
    • Der andere Tod
    • Deutsches Requiem
    • Averroes auf der Suche
    • Der Zahir
    • Die Inschrift des Gottes
    • Ibn Hakkam al-Bokhari, gestorben in seinem Labyrinth
    • Die zwei Könige und die zwei Labyrinthe
    • Die Wartezeit
    • Der Mann auf der Schwelle
    • Das Aleph


    Das sind sehr verschlossene Geschichten, die ihr profundes Wissen in sich einschließen. Wie von innen leuchtende Edelsteine. Man kommt als Leser nicht an den Ursprung des Wissens heran, kann sich aber an der Wärme der leuchtenden Steine wärmen. Oder anders: Geschichten wie eine Staubwolke, die sich von einem Zentrum aus immer weiter ausbreitet, und als Leser versucht man eine Decke über die Wolke zu breiten, versucht das Wissen festzuhalten, aber die Wolke wird immer größer, während sie sich ausbreitet, immer noch eine Abschweifung angeführt wird, immer noch eine Schicht aufgetragen wird, überall sickert Wissen wie Staubkörner durch die Ritzen. Es ist unmöglich, alles festzuhalten. Irgendwann implodiert das Wissen dem Leser in den Händen, der Moment, wenn man sich eine Zeitlang nur noch am Wohlklang der Worte berauschen kann. Bis ein neuer Aspekt eingeworfen wird, sich eine neue Implosion aufbaut. Man spürt das tiefe Wissen, aber kann es nicht festhalten. Jetzt ist es entscheidend, ob man sich in den Händen des Autors geborgen fühlt, dann kann man Spaß an den Erzählungen haben, Spaß daran, dass sie einem ständig zu entgleiten drohen. Man versucht es immer wieder, aber irgendwann ist der Kopf voll. Irgendwann fallen einem die Jonglierbälle vor die Füße. Dann bleibt einem nur, sich immer wieder erneut aufs Pferd zu schwingen. Staub abklopfen und los: Es lohnt sich, dieses fast körperliche Empfinden rein geistiger Anstrengungen zu erleben. Diese Texte wollen und können Vergnügen sein!:drunken:


    Beispielhaft greife ich mir eine Erzählung heraus.

    „Averroes auf der Suche“ ist bestimmt eines der klügsten Stücke Literatur, das ich je gelesen habe. Ein Text über den arabischsprachigen Philiosophen aus Andalusien und wie er zu verstehen versucht, was Aristoteles mit Tragödie und Komödie meint, ohne selber - aus dem Islam mit seiner Darstellungsfeindlichkeit kommend - eine Ahnung von Theater zu haben. Warum sollte man auch zwanzig Menschen etwas darstellen lassen, wozu nur ein Erzähler nötig ist? Ein Stück über die Aneignung der Welt: Wie man sich eines Umstandes versichert, indem man zwei Dinge in eine Relation stellt. Wie man, wenn man einen alten, eingefahrenen Vergleich bemüht, sich zusätzlich zu demjenigen, der ihn zuerst bemühte, oder zu der Situation, in der der alte Vergleich aufkam, positioniert, insofern sich also auch die Vergleichspaare in der Zeit verdoppeln. Ein Räumlichwerden von Wissen. Eine Aufeinandertürmen aus Bezügen und Ansichten als Ansammlung von Wissen in der Welt. Oder eben: ein Bild von der Welt, auf dass man sich in bekannten Bildern bewegen kann. Denn merke: „Das Bild, auf das nur ein Mensch kommen kann, rührt keinen Menschen an.“ (S. 87).

    Borges nennt diese Geschichte eine Geschichte über „den Verlauf eines Scheiterns“ (S. 88), nicht zuletzt, weil er während des Schreibens merkte, wie er selbst – ebenso wie Averroes innerhalb der Geschichte – im Vagen herumstocherte bei dem Versuch, sich eines unbegreiflichen Umstandes habhaft zu machen: dort Averroes mit dem Bildhaften des Dramas, hier Borges mit der Sinnsuche des alten Philosophen.


    Wer sich dafür interessiert, warum das letztmögliche Labyrinth die Wüste ist, wer vermutet, dass das Rätselhafte und Wunderliche im Grunde nur Gott vorbehalten ist, dem Menschen aber das Offensichtliche bzw. Offenbarte, wer von der entsetzlichen Macht der Unvergessbarkeit lesen will, die die Menschen schließlich in den Wahnsinn treibt, weil ein Objekt oder ein Mensch ihren Geist völlig mit Beschlag belegt, wer sich für Unsterblichkeit, Träume, Paradoxa und Gegenstände, die das ganze Universum in sich tragen, interessiert, der braucht dieses Buch – und wird es immer wieder zu verschiedenen Zeiten seines Lebens aus dem Regal ziehen und mit gewinnendem Staunen lesen können. Literatur, wie ein Schleiertanz um den Baum der Erkenntnis: Wird ein Schleier weggezogen, werden zwei neue durchs Bild gefächert. All das ist wohlgemerkt nicht absichtlich unzugänglich aufgezogen, um sich interessant zu machen, nichts wird in blasierten Stil gekleidet, der in hochtrabenden Worten – die Sprache kommt mir im Gegenteil sogar recht trocken und lakonisch vor – die Dürftigkeit der Gedanken verhüllen will. Aber wenn sich jemand philosophischer Fragen aus quasi der gesamten europäischen und orientalischen Geistesgeschichte annimmt, dann wird es eben etwas komplizierter.:wink: Ein unglaubliches Unterfangen, eine kalkulierte Sprachbeherrschung, in der alle Worte eine doppelte Bedeutung in sich tragen können, und wenn man so will ein wirklicher Erzählschatz, der während des Erzählens immer auch das Erzählen mitdenkt. Das Attribut, Borges wäre ein "logischer Phantast", leuchtet mir ungehend ein. :applause:

    White "Die Erkundung von Selborne" (103/397)


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    O:-) Letzter Kauf: Everett "Erschütterung" (27.03.)

  • Eine spanische Ausgabe unter dem Originaltitel "El Aleph" erschienen.

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  • Diese englische Ausgabe unter dem Titel "The Aleph" wurde übersetzt und mit einer Einführung versehen von Andrew Hurley.

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  • Da das Buch in mindestens 23 Sprachen übersetzt wurde, kann man es natürlich auch auf Französisch lesen, dank einer Übersetzung von Roger Caillois.

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