Verlagstext
Die alte Bibel ihrer Familie an der Schwarzmeerküste ist das Einzige, was den Geschwistern Anahid und Hrant auf ihrer Flucht bleibt. Doch in den Wirren von Mord und Vertreibung des 20. Jahrhunderts geht das Buch verloren. Hundert Jahre später ist die Restauratorin Helen in Armenien. Ihr wird ein Heilevangeliar anvertraut. »Hrant will nicht aufwachen«, hat jemand an den Seitenrand gekritzelt. Helen taucht ein in die Rätsel des alten Buches, in das moderne Jerewan, verliebt sich in einen Mann und folgt schließlich den Zeichen der Vergangenheit auf eine Reise an die Schwarzmeerküste.
Die Autorin
Katerina Poladjan wurde in Moskau geboren, wuchs in Rom und Wien auf und lebt in Deutschland. Sie schreibt Theatertexte und Essays, auf ihr Prosadebüt »In einer Nacht, woanders« folgte »Vielleicht Marseille« und gemeinsam mit Henning Fritsch schrieb sie den literarischen Reisebericht »Hinter Sibirien«. Sie war für den Alfred-Döblin-Preis nominiert wie auch für den European Prize of Literature und nahm 2015 bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt teil. Für »Hier sind Löwen« erhielt sie Stipendien des Deutschen Literaturfonds, des Berliner Senats und von der Kulturakademie Tarabya in Istanbul.
Inhalt
Helen Mazavian reist nach Erewan/Armenien zu einem
wissenschaftlichen Austauschprogramm für Restauratoren. Im Dreiländereck
zwischen Armenien, Iran und der Türkei verläuft nicht nur eine sprachliche und
kulturelle Grenze, sondern auch eine handwerkliche. Die armenische Bindetechnik
mit im Buchrücken versenkten Kordeln (Bünden?) soll Helen im Zentralarchiv von
den armenischen Kollegen lernen, ehe sie als Beweis ihres handwerklichen Könnens
ein wertvolles Evangeliar aus dem 18. Jahrhundert restaurieren wird, dessen
Einband sich vom Buchblock gelöst hat. Roter Faden, weißer Faden, blauer Faden,
die Routine armenischer Buchbinder beim Stechen des Kapitalbands wird ihr bald
in Fleisch und Blut übergehen. Helen betrachtet ihr Meisterstück wie einen
Patienten, der von Schimmel, Parasiten oder Kupferfraß befallen sein kann und
den sie behandeln wird. Frühere Buchbinder müssen über Wundertinkturen verfügt
haben, die ihre Bücher bis heute haltbar machten. Als Leser taucht man in Helens
Fachkenntnisse ein, folgt ihren bei der Arbeit mäandernden Gedanken. Was dachte
der Mönch wohl, der kurz nach der Wende zum 18. Jahrhundert den Text kopierte?
Helen spricht kein Armenisch, mit den Kollegen
verständigt sie sich auf Russisch. Vor 10 Jahren hatte sie ein Semester
Orientalistik in Istanbul studiert; der Blick vom Bosporus nach Europa ist ihr
nicht fremd. Durch die Bekanntschaft mit ihrer Fachbetreuerin Evangelina und
deren Familie wird Helen mit dem Alltag in Armenien konfrontiert. „Wenn man auf
die Gegenwart nicht stolz sein kann, sorgt man sich um die Vergangenheit“,
bringt Evangelina die aktuelle Lage auf den Punkt.
„Hrant will nicht
aufwachen“, steht auf den Rand gekritzelt in einer alten Bibel, in einer
Schrift, die Helen nicht lesen kann. In Fortsetzung der Tradition, Geburten,
Hochzeiten oder Fürbitten in die Familienbibel einzutragen, hat hier offenbar
jemand mit letzten Kräften geschrieben. „Nehmt unser Buch und lauft“, hatte ihre
Mutter den Geschwistern Anahid und Hrant eingeschärft. Vor 100 Jahren wurden die
Kinder offenbar aus der Stadt Ordu allein auf die Flucht geschickt, um mitten
in der Vertreibung der Armenier wenigstens ihr Leben zu retten. Die Bibel war
nicht nur magisches Objekt, das man Kranken unter ihr Kopfkissen legte, sondern
zugleich Schatulle für Fotos und Erinnerungsstücke. Als Familiengeschichte in
Kurzform bezeugt das Dokument Anahids und Hrants Existenz. Man glaubte damals an
die Kraft des Buches und dass sie sich auf den Menschen überträgt. Wie vielen
Armeniern vor ihnen wurde die Familienbibel den Kindern zur tragbaren Heimat
(ein Gedanke Heinrich Heines, wie Evangelina weiß). Helens eigene Suche nach
armenischen Vorfahren führt sie schließlich auf die andere Seite des Ararat, wo
Tarik sich als Reiseführer anbietet, bei dessen Mutter Helen vor Jahren ein
Zimmer gemietet hatte. Helen und ihre armenische Mutter spielten gern mit
Abwandlungen von Helen, Lena, Lenka, selbst Helens Puppen wurden auf Varianten
ihres Vornamens getauft. Der beinahe chamäleonartige Wechsel von Namen und
Ländern könnte symbolisch für den Lauf der Geschichte oder für den
Perspektivwechsel stehen, den Helen im Lauf der Handlung vollziehen muss.
Fazit
Katerina Poladjan verknüpft hier eine berufliche und eine private Spurensuche über Ländergrenzen hinweg. Die Entwicklung einer kleinen, leichten und robusten armenischen Bibel scheint in weiser Voraussicht für ein Volk vollzogen worden zu sein, das während Flucht und Emigration nur das Wichtigste mitnehmen konnte. Ein starkes Symbol und ein starker Roman über Menschen, deren Land ihre Liebe nicht erwidert und die die Frage nicht so einfach beantworten können, woher sie kommen …