Sibylle Berg - GRM. Brainfuck

  • Kurzmeinung

    Fezzig
    Right Book, right time. Ich weiß nicht, ob es mich zu jeder Zeit gepackt hätte. Sehr hart und schonungs- / hoffnungslos.
  • Kurzmeinung

    Hypocritia
    Ansammlung von gesellschaftl. (Rand)erscheinungen der Aktualität m. unstimmigen Extrapolationen - zu lang(weilig)
  • Klappentext (Quelle: Amazon):

    »Vermutlich war der Einzelne schon immer unwichtig. Es fiel nur weniger auf.«

    Die Brave New World findet in wenigen Jahren statt. Vielleicht hat sie auch schon begonnen. Jeden Tag wird ein anderes westliches Land autokratisch. Algorithmen, die den Menschen ersetzen, liegen als Drohung in der Luft. Großbritannien, wo der Kapitalismus einst erfunden wurde, hat ihn inzwischen perfektioniert. Aber vier Kinder spielen da nicht mit – sondern gegen die Regeln. Und das mit aller Konsequenz. Willkommen in der Welt von GRM.

    Sibylle Bergs neuer Roman beginnt in Rochdale, UK, wo der Neoliberalismus besonders gründliche Arbeit geleistet hat. Die Helden: vier Kinder, die nichts anderes kennen als die Realität des gescheiterten Staates. Ihr Essen kommt von privaten Hilfswerken, ihre Eltern haben längst aufgegeben. Die Hoffnung, in die sie sich flüchten, ist Grime, kurz GRM. Grime ist die größte musikalische Revolution seit dem Punk. Grime bringt jeden Tag neue YouTube-Stars hervor, Grime liefert immer neue Role-Models.

    Als die vier begreifen, dass es zu Hause keine Hoffnung für sie gibt, brechen sie nach London auf. Hier scheint sich das Versprechen der Zukunft eingelöst zu haben. Jeder, der sich einen Registrierungschip einpflanzen lässt, erhält ein wunderbares Grundeinkommen. Die Bevölkerung lebt in einer perfekten Überwachungsdiktatur. Auf der Straße bleibt nur der asoziale, vogelfreie Abschaum zurück. Die vier Kinder aber – die fast keine Kinder mehr sind –, versuchen außerhalb des Systems zu überleben. Sie starten ihre eigene Art der Revolution.


    Mein Leseeindruck:


    Raum und Zeit lassen sich in diesem Roman noch relativ präzise bestimmen. Der Roman spielt in England und zwar in einer nicht allzu fernen Zukunft, die sich eng an die Gegenwart anschließt. Mit diesen Angaben sind die Konstituenten gesichert, in dem sich die Handlungen abspielen – das ist aber auch das einzig Stabile in diesem Roman.


    Die Welt, die uns die Autorin hier vorstellt, ist die Welt des späten Kapitalismus. Sibylle Berg nimmt die unterste soziale Schicht in den Blick. Hier leben sie: die Nicht-Privilegierten, die hoffnungslos Verarmten, ohne Aussicht auf eine Besserung ihrer Lage, Opfer einer umfassenden Digitalisierung und per Chip – eine Gegenleitung für ein Grundeinkommen - lückenlos überwacht. Diese Verbindung eines heuchlerischen Sozialstaats mit dem Ausbeutungswillen eines kapitalistischen Überwachungsstaates – das macht den Leser nachdenklich. Auf der anderen Seite stehen die Nutznießer des Systems. Das tägliche Leben beider Seiten ähnelt sich insofern, als es sich als Abfolge von Gewalt, Vernachlässigung und Misshandlungen, Vereinsamung, moralischer Verrohung, Frauenverachtung, völliger Empathielosigkeit und von sexuellen Perversionen präsentiert.


    Die Gefahren der Digitalisierung werden von der Autorin gnadenlos durch alle Bereiche durchdekliniert. Diese Konsequenz ist beachtlich, aber sie macht das Lesen gelegentlich zu einer Qual. Auch andere Facetten des Buches machen das Lesen nicht zu einer Lustpartie. Hier sind vor allem zu nennen die vulgäre Sprache, der unbändige Hass, das entmenschte Männerbild, die sachlich-automatenhafte Schilderung von Grausamkeiten und vor allem der ständige Tunnelblick auf alles Negative der aktuellen Realität. Hier ist alles düster, der Untergang des Abendlands ist bereits eingeläutet, soziale Werte wie Mitmenschlichkeit, Mitleid und Barmherzigkeit oder ganz einfach menschliche Zuneigung lassen sich nicht mehr finden – und als schließlich auch die Solidarität der vier jugendlichen Hoffnungsträger korrumpiert wird, sieht man als Leser nichts Gutes mehr.

    Die Autorin findet in der Gegenwart Ansatzpunkte für bedenkliche Entwicklungen und baut diese geradlinig in aller Konsequenz aus. Und gerade diese Nähe der Dystopie zur aktuellen Gegenwart macht das Buch zu einer beklemmenden und erschreckenden Lektüre.

    Und erschweren auch eine Bewertung.

    Fazit: ein konsequent komponierter Roman, in dem sich die Auswüchse eines spätkapitalistischen Systems mit den Gefahren einer umfassenden Digitalisierung verbinden. Geschrieben in einer vulgären und wütenden, automatenhaften Sprache.


    :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5:







    :study: Percival Everett, James.

    :musik: Agatha Christie, Mord im Pfarrhaus.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Liebe drawe vielen herzlichen Dank für die interessante und aufschlussreiche Rezension.:friends: Ich bin sehr neugierig auf das Buch. Werde mich auf jeden Fall noch kurz melden, sobald ich es gelesen habe. Es hört sich auf jeden Fall nicht nach pure Unterhaltung an. Es kann einem auch schön zu schaffen machen...8-[

    2024: Bücher: 90/Seiten: 39 866

    2023: Bücher: 189/Seiten: 73 404

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    Mein Blog: Zauberwelt des Lesens
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    "Das Nicht-Wahrnehmen von Etwas beweist nicht dessen Nicht-Existenz "

    Dalai Lama

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    Lese gerade:

    Scalzi, John - Die Gesellschaft zur Erhaltung der Kaiju-Monster

  • Es hört sich auf jeden Fall nicht nach pure Unterhaltung an

    Nein, das ist es nicht, aber es lässt einen auch nicht eher los, bis man es ausgelesen hat.

    Zwischendrin will man es immer wieder auf Seite legen, weil es einen so runterzieht, und dann

    tut man sich diese Düsternis doch wieder an.

    :study: Percival Everett, James.

    :musik: Agatha Christie, Mord im Pfarrhaus.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Vielen Dank für deine Rezension, drawe.

    Es ist schon richtig, die Geschichte ist desillusionierend und auch düster. Dennoch empfinde ich das Ende doch irgendwie versöhnlich. Die Welt geht nicht unter, sie wird nur anders.

    Die Bewertung finde ich ebenfalls nicht einfach, ich überlege 4 oder 4,5 Sternchen.

  • sie wird nur anders.

    Es ist gut, dass Du das sagst.


    Was ich auch noch hätte sagen können (aber dann wird der Text zu lang), ist die "Revolution", die sich Karen überlegt und mit deren Hilfe sie zumindest die aggressive und frauenverachtende sexuelle Gewalt der Männer eindämmen will. Das ist so eine Stelle, an der sogar mal so etwas wie satirischer Humor aufblitzt.


    Ich sehe, dass Du auch das Buch von Ottessa Moshfegh gelesen hast ...

    :study: Percival Everett, James.

    :musik: Agatha Christie, Mord im Pfarrhaus.


    "Der echte Bibliophile liebt mehr als Form und Inhalt eines Buches seine Existenz; er muss es erst gar nicht lesen" (Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh, S. 49).

  • Dennoch empfinde ich das Ende doch irgendwie versöhnlich.

    Ausnahmsweise (!) stimme ich Dir nicht zu:

    Ich halte den Schluss eher für den Gipfel der Ironie, denn

    Am Ende bleibt für mich eine große Leere.


    Sehr beeindruckend finde ich Bergs Sprachgewalt. Was klingt wie hingerotzt, ist, denke ich, das Ergebnis harter Arbeit und ständigen Feilens an Worten und Sätzen. Manchmal genial, wie sie Übergänge meistert: Als Leser glaubt man, ein Satz (eine Aussage / ein Wort) gehöre zu der Person, die gerade im Mittelpunkt steht, doch auf einmal bezieht er sich auf eine ganz andere Figur, zu der auf diese Art nahtlos übergeführt wird.


    Man kann den Roman als Dystopie lesen. Am meisten ängstigen Dystopien, die nah an der Gegenwart und der Realität aufgebaut sind. Wo Entwicklungen geschildert werden, die im Hier und Jetzt ihren Anfang nehmen könnten.

    Berg gibt mit diesem Buch einen Warnschuss ab. Einen ganz lauten.

    Bücher sind auch Lebensmittel (Martin Walser)


    Wenn du einen Garten und eine Bibliothek hast, wird es dir an nichts fehlen. (Cicero)



  • Marie - du hast mich überzeugt.:)

    Man könnte vielleicht auch sagen:

    Es ist versöhnlich, dass kein Weltuntergang stattfindet, aber die Welt wird anders=gleichgültig(er). Ob Gleichgültigkeit und Leere lebenswert ist, ist natürlich fraglich.

  • Manchmal genial, wie sie Übergänge meistert: Als Leser glaubt man, ein Satz (eine Aussage / ein Wort) gehöre zu der Person, die gerade im Mittelpunkt steht, doch auf einmal bezieht er sich auf eine ganz andere Figur, zu der auf diese Art nahtlos übergeführt wird.

    Genau das habe ich nachher vermutet ist auch das Problem eine Stelle zu finden, zum Aufhören. Es geht kontinuierlich ohne große Absätze weiter. Man wird quasi durch die Erzähl-/Schreibweise "gezwungen" weiter zu lesen. Zumindest habe ich das so empfunden.

  • Sehr beeindruckend finde ich Bergs Sprachgewalt. Was klingt wie hingerotzt, ist, denke ich, das Ergebnis harter Arbeit und ständigen Feilens an Worten und Sätzen. Manchmal genial, wie sie Übergänge meistert: Als Leser glaubt man, ein Satz (eine Aussage / ein Wort) gehöre zu der Person, die gerade im Mittelpunkt steht, doch auf einmal bezieht er sich auf eine ganz andere Figur, zu der auf diese Art nahtlos übergeführt wird.

    Ich finde es ebenfalls Klasse, wie die Autorin den Roman sprachlich gestaltet.:thumleft: Nach meinem Geschmack, hört es sich zwar nicht hingerotzt an, aber schon sehr flapsig und von der Machtlosigkeit, Hoffnungslosigkeit und depressiven Gefühlen geprägt. Aber die Übergänge, sind ausgezeichnet ausgearbeitet. :thumleft:Die Übergänge sind so fließend, dass es mir auch wie pralaya :winken: geht. Ich kann schlecht aufhören zu lesen. Die Sogwirkung ist enorm

    2024: Bücher: 90/Seiten: 39 866

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  • Nun habe ich das Buch auch gelesen. In der Geschichte ist alles negative, oder besser gesagt, alles was sich negativ auf die Menschheit auswirken könnte, versammelt. Die erste Hälfte des Romans hat mir ausgesprochen gut gefallen, auch wenn mir die deprimierte Stimmung, Hoffnungslosigkeit, Machtlosigkeit schwer zu schaffen gemacht haben.:(

    Doch in der zweiten Hälfte des Romans wiederholt sich die Autorin, und bringt die Story, in meinen Augen nicht auf den Punkt.

    Es soll vielleicht die ganze Hoffnungslosigkeit der nicht all zu weit entfernten Zukunft symbolisieren. Doch nach meinem Geschmack sollte man die Geschichte doch vorantreiben.

    Alles in allem auf jeden Fall ein lesenswertes Buch, aber ich war auch froh und erleichtert als ich es beendet habe. Von mir gibt es :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertungHalb: Sterne.

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  • Was klingt wie hingerotzt, ist, denke ich, das Ergebnis harter Arbeit und ständigen Feilens an Worten und Sätzen. Manchmal genial, wie sie Übergänge meistert: Als Leser glaubt man, ein Satz (eine Aussage / ein Wort) gehöre zu der Person, die gerade im Mittelpunkt steht, doch auf einmal bezieht er sich auf eine ganz andere Figur, zu der auf diese Art nahtlos übergeführt wird.

    Ja, ich denke, das ist eine Menge Arbeit und es braucht sicherlich Einiges an Disziplin, das so zu schreiben. Aber es geht mir beim Lesen auf den Zwirn - obwohl es mir nichtunbedingt schwer fällt. Es ist mehr die ständige Musterwiederholung. Und als Berufs-Sarkast fand ich die Atmosphäre einfach zu düster und unnachgiebig, und nachdem mir meine Frau bestätigt hat, dass es bis zum Ende nicht besser wird habe ich beschlossen meine Zeit anderen Titel zu widmen.