Louise Erdrich - Solange du lebst / The Plague of Doves

  • Zum Inhalt:


    "Beim letzten Schuss klemmte das Gewehr. Das Kind stand in seinem Bettchen, weinend, ans Gitter geklammert. Um nachzuschauen, warum das Gewehr streikte, setzte sich der Mann in einen Sessel und nahm es auseinander. Das Weinen ging ihm auf die Nerven. Er legte das Gewehr hin und hielt Ausschau nach einem Hammer…"


    Pluto, North Dakota, eine Stadt am Rande des Chippewa-Reservats. Indianer oder Einwanderer, alle sind hier miteinander verbunden, durch Arbeit, Liebe, Freundschaft, Blutsbande – und durch die schwere Hypothek einer gemeinsamen Geschichte.

    Wie ein dunkler Schatten liegt die Erinnerung an eine Bluttat, begangen 1911 an einer weißen Siedlerfamilie, und deren brutale Vergeltung, verübt an vier unschuldigen Indianern, auf den Menschen.

    Wie gehen die Buckendorfs und Wildstrands, Nachkommen der weißen Täter, mit der Schuld ihrer Väter um? Findet Sister Mary Anita Buckendorf Erlösung im Kloster? Warum erschrickt der Indianer Mooshum zu Tode, als seine Enkelin Evelina die Schuhe von "Holy Track" von einem Besuch bei Sister Mary Anita mit nach Hause bringt?

    Atemlos lauscht Evelina den Berichten ihres Großvaters Mooshum, des großen Geschichtenerzählers und Legendenbewahrers.

    Louise Erdrich erzählt die Geschichte einer Stadt: von einem dunklen Geheimnis, das seit fast einhundert Jahren auf den Menschen lastet. Sie spielt mit vielen Genres – Liebesroman, Abenteuerroman, Episodenroman – und verknüpft sie zu einem Porträt der Generationen, einem kraftvollen, farbigen, bewegenden Panorama von Leidenschaft, Schuld und Sühne.

    (Quelle: amazon.de)



    Meine Meinung:


    Zum Inhalt sagt der Verlagstext genug.


    Dies war mein dritter Roman von Louise Erdrich. Ich habe vorher „Ein Lied für die Geister“ und „Das Haus des Windes“ gelesen, die sich thematisch ebenfalls um indianisches Leben innerhalb und außerhalb des Reservats drehen, ebenfalls mit verschiedenen Zeitebenen arbeiten und wo die Autorin z.T. Figuren in beiden Romanen auftreten lässt, diese dann jedoch unterschiedlichen Generationen angehören. Man muss also auch bei diesen Büchern gut aufpassen. :lol:
     
    Dennoch hatte ich anfangs große Schwierigkeiten, in „Solange du lebst“ hineinzufinden, und habe lange geglaubt, das läge nur an mir – meiner mangelnden Konzentration in einer beruflich sehr stressigen Phase oder meinem zu schlicht gestrickten Gehirn, was weiß ich... Wie schon an anderer Stelle in diesem Forum geschrieben, hätte ich vielleicht zu den beiden vorigen Erdrich-Romanen eine größere Pause einlegen sollen. Als ich jedoch nach der Lektüre einige Rezis zu „Solange du lebst“ gelesen habe, ist mir aufgefallen, dass auch andere LeserInnen die gleichen Probleme hatten wie ich: Es fehlt einem als LeserIn lange das Verständnis für den größeren Zusammenhang, zu lange. Man ist ja von Louise Erdrich gewöhnt, dass sie mehrere Erzählstränge miteinander verwebt und dabei auch öfter mal größere Zeitsprünge absolviert. Bei diesem Roman jedoch hat sie in dieser Hinsicht meiner Ansicht nach den Bogen überspannt. Es werden zum einen extrem viele Figuren eingeführt, die mal bei ihren englischen / französischen, mal bei ihren indianischen, mal bei ihren Spitznamen benannt werden, sodass man teilweise nur schwer feststellen kann, wann es sich eigentlich um die gleiche, vorher schon einmal erwähnte Figur handelt. Einige davon werden in einem der Anfangskapitel ausführlich beleuchtet und tauchen dann den ganzen Roman lang nicht mehr auf, um plötzlich am Ende wieder eine Rolle zu spielen. Manche haben ein Kapitel in der Mitte und spielen ansonsten keine weitere Rolle. Mir war also lange Zeit nicht klar, wer eigentlich die Hauptfiguren in diesem Roman sind, und sicher bin ich mir dessen immer noch nicht… Die meisten Kapitel sind in der Ich-Form geschrieben; aber es sind unterschiedliche Figuren, die jeweils hinter dem "Ich" stecken. Auch wenn das in der Regel aus den Kapitelüberschriften hervorgeht, bleibt es beim Lesen doch verwirrend, wenn ein Teil der Handlung aus der Perspektive einer bestimmten Figur erzählt wird, diese dann im nächsten Kapitel nur noch eine Nebenfigur ist (so weit nicht ungewöhnlich), aber aufgrund der oben beschriebenen Namensvielfalt plötzlich anders genannt wird und dank eines Zeitsprungs auch noch einer anderen Generation angehört. Die Zeitsprünge sind auch nicht chronologisch angelegt, sondern es geht munter vor und zurück und wieder vor und zurück...
     
    Natürlich kann man das als Autorin so machen; mich persönlich hat es überfordert. Es waren einfach zu viele lose Enden, die es für mich als Leserin zu verknüpfen galt. Ungefähr in der Mitte des Romans habe ich dieses Unterfangen schlicht aufgegeben und beschlossen, die einzelnen Kapitel einfach als separate Erzählungen zu lesen und zu genießen, ohne weiterhin nach den Verknüpfungen zu suchen. Ab da hat mir das Buch viel Freude gemacht, denn Erdrich versteht es wirklich meisterhaft, Stimmungen und Atmosphären einzufangen, Dialoge pointiert zu gestalten und Menschen in ihren facettenreichen Charakteren, ihren verschlungenen Motiven und der Ambivalenz ihrer Wesensschichten darzustellen. Ich staune immer wieder, in welcher Vielfalt und mit welchem Tiefgang Erdrich die existenziellen Themen des menschlichen Lebens - Liebe, Hass und Gleichgültigkeit, Wahrheit, Lüge und Verrat, Jungsein, Altsein, Tod usw. - neu und oft in überraschender Weise ausleuchtet. Dabei flicht sie immer wieder für mich sehr interessante Aspekte indianischer Geschichte und indianischen Lebens ein.
     
    Erst in einem der letzten Kapitel werden viele der Verbindungen zwischen den Figuren, die bis dahin teilweise nur angedeutet wurden und von den LeserInnen zusammengepuzzelt werden mussten, plötzlich offen dargelegt, indem die Autorin eine der Figuren die Familiengeschichte, die verworrenen Verwandtschaftsverhältnisse und die verschiedenen Namen der Menschen zusammenhängend rekapitulieren lässt. Figuren, die vorher nur am Anfang des Buches erwähnt wurden, tauchen noch einmal auf und es schließen sich Kreise, die man schon längst aus den Augen verloren hatte.
     
    In der Danksagung wird deutlich, dass einzelne Kapitel dieses Romans schon vorher als separate Erzählungen erschienen sind – und genau diesen Eindruck hat der Roman auch auf mich gemacht: Eine Ansammlung von Erzählungen über höchst spannende und bewegende Menschenschicksale, die lose (für mich zu lose) miteinander zu einem großen Ganzen verknüpft sind. Mir persönlich hätte es besser gefallen, wenn die Autorin sich entweder dafür entschieden hätte, die verschiedenen Stränge als einzelne, in sich geschlossene Erzählungen zu belassen, oder wenn sie sie von Anfang an deutlicher miteinander verbunden hätte, sodass ich als LeserIn nicht so lange im Dunkeln getappt hätte bei der Frage, wie das alles denn nun zusammenhängt.
    Mit etwas mehr Energie zu detektivischem Verknüpfen von Hinweisen oder dem sofortigen Anlegen und Pflegen von Stammbäumen, wie ich es in der Regel bei dicken russischen Romanen mache :lol: , wäre das vielleicht auch besser gelungen. Damit habe ich jedoch im Vorfeld nicht gerechnet. Vielleicht ist das auch einfach ein Buch, das ich besser im Urlaub gelesen hätte - ohne Stress drumherum und mit viel freier Hirnkapazität, um den gelenkigen Sprüngen der Autorin besser folgen zu können...
     
    Dass ich den Roman trotz dieser kompositorischen Eigenheiten für mich als "gut" bewerte, liegt in den schon weiter oben beschriebenen Qualitäten der Autorin, was das Einfangen spannender menschlicher Schicksale und Verwerfungen vor dem Hintergrund indianischer Kulturen und ihres Zusammenstoßens und der permanenter Reibung mit den Siedlern und ihren Nachfahren betrifft. Das finde ich nach wie vor sehr interessant und werde auch gern weitere Bücher der Autorin lesen. Aber als nächstes vielleicht erstmal eins mit einer anderen Thematik. :lol:


    :bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5::bewertung1von5:

    :study: Han Kang - Griechischstunden

    :study: Nadia Murad - Ich bin eure Stimme

    :study: I. L. Callis - Doch das Messer sieht man nicht

    :musik: Asako Yuzuki - Butter (Re-???)

    :montag: Deb Olin Unferth - Happy Green Family (Reread)





  • P.S. Im Wiki-Artikel zu "Solange du lebst" gibt es ein Diagramm, das die Beziehungen der wichtigsten Charaktere des Romans darstellt. Wenn man da einen Blick drauf wirft, weiß man, wovon ich oben rede... :lol: Und dort sind noch nicht einmal alle Beziehungen eingetragen.

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  • gibt es ein Diagramm

    Ach du liebes bisschen. :shock: :geek:

    Du sagst es. :lol:

    Nachdem ich das gesehen hatte, war mir klar, dass ich mir doch noch keine Sorgen um meinen Geisteszustand zu machen brauche... :D

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